SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE, SWR2 DIE BUCHKRITIK Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe Stories aus dem amerikanischen Englisch von Antje Rávic Strubel Arche Verlag 381 Seiten 22,99 Euro Rezension von Wolfgang Schneider Montag, 23.05.2016 (14:55 – 15:00 Uhr) Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Lucia Berlin – so wohlklingend lautet der Name einer nordamerikanischen Erzählerin, die in den Vereinigten Staaten inzwischen mit Meistern der Short Story wie Raymond Carver in einem Atem genannt wird. „Was ich sonst noch verpasst habe“, lautet der Titel des jetzt übersetzten Bandes mit 30 Erzählungen von Lucia Berlin. Wolfgang Schneider bespricht das Buch. Seit Jahren werden in den Vereinigten Staaten Schriftsteller wiederentdeckt, die zu Lebzeiten wenig Anerkennung bekamen. Richard Yates gehört dazu oder der „Stoner“Autor John Williams. Beide verbindet das grundgenaue realistische Erzählen und der uneuphorische Blick auf die Lebensverhältnisse amerikanischer Durchschnittsbürger. Solche Qualitäten zogen in den sechziger und siebziger Jahren weniger Aufmerksamkeit auf sich als die Spiele der Postmoderne oder die popkulturellen Aufbrüche. Heute interessieren sie umso mehr. Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT Lucia Berlin, die von 1936 bis 2004 lebte, ist eine literarische Schwester dieser Autoren. Dreißig ihrer Erzählungen enthält der von Antje Rávic Strubel geschmeidig übersetzte Band mit dem leider etwas nichtssagenden Titel „Was ich sonst noch verpasst habe“. Er folgt der Neuausgabe, die im letzten Herbst in den Vereinigten Staaten Furore machte. „A Manual for Cleaning Woman“, also „Handbuch für Putzfrauen“ hieß das Buch dort, nach dem Titel einer der Meistererzählungen. Warum, zum Putzteufel, hat man diesen zugkräftigen Titel nicht übernommen? Als Putzfrau hat Lucia Berlin gearbeitet, als Aushilfslehrerin und in der KrankenhausNotaufnahme, um als alleinerziehende Mutter sich und ihre vier Söhne durchzubringen. Das ruhelose, von vielen Umzügen geprägte Leben, das sie mit ihren Eltern führte, setzte sie als Erwachsene fort, und so sind ihre Geschichten wechselnd in Metropolen oder windigen Provinznestern, in Alaska, Chile oder Mexiko angesiedelt. Diese „Stories“ schnüren keine Moral; sie sind meist in der Ich-Form verfasst und erweisen sich als Bruchstücke einer großen autobiographischen Konfession, lesen sich wie die Kapitel eines Lebens-Romans. Ein Schrecken der frühen Jahre ist der Großvater – ein fabelhafter Zahnarzt, der die besten Gebisse in West-Texas macht. Und ein fieser Alter, der seine halbwüchsigen Enkeltöchter missbraucht. Um eine irritierende Verkehrung dieser Gewaltverhältnisse geht es in der Geschichte „Dr. H. A. Moynihan“. Eines Sonntags fordert der Großvater die Enkelin auf, mit ihm in seine „Werkstatt“ zu kommen. Dort zeigt er ihr sein Meisterstück: die perfekte Nachbildung seiner eigenen angegilbten Zähne. Er setzt sich in den Behandlungsstuhl, und das Kind beginnt auf seine Anweisung, ihm alle verbliebenen Zähne zu ziehen, um Platz für die neuen zu schaffen: ein blutiges Gemetzel, so anschaulich und an die Wurzel gehend beschrieben, dass einem selbst der Mund offensteht bei der Lektüre dieser albtraumhaften Meistererzählung. Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT Man liest von einer Teenager-Mutter, die versehentlich ihr Kind tötet, von einer jungen Frau, die zur Abtreibung über die Grenze nach Mexiko fährt, es sich im letzten Moment aber anders überlegt. Oder von einer Trinkerin, die sich durch eine Nacht voller Entzugserscheinungen quält, bis sie dann doch noch in einem Nachtshop eine Überlebensration Wodka kauft, damit sie ihren Kindern ohne Händezittern das Frühstück machen kann. Lucia Berlin erzählt aus dem Leben von unterprivilegierten Frauen, aber mit einem Reichtum an Unter- und Obertönen, der den Rahmen sozialer Rollenprosa sprengt. Vielmehr ist jederzeit klar, dass ihre Heldinnen nicht aufgehen in der schmalen Rolle, die das Leben gerade mal wieder für sie vorgesehen hat. Sie helfen sich darüber hinweg mit Komik und Selbstironie. Wer selbst am Rand steht, lernt andere Randständige kennen – sei es in einer Entzugsklinik, in einem gar nicht so wunderbaren Waschsalon oder in der Notaufnahme. Diese Geschichten prahlen nicht mit großen Gefühlen; aber auch nicht mit einer Lakonie, die sich ungerührt gibt. Die Handlung ist zweitrangig; vielmehr sind sie aus lauter Momentaufnahmen zusammengesetzt, und man muss sie langsam lesen, um deren beiläufige Schönheit goutieren zu können. In Berlins letzter Short Story („B.F. und ich“) geht es um wenig mehr als die Begegnung mit einem älteren Fliesenleger – aber welchen Charme haben die knappen Dialoge, und welche Präsenz hat dieser stöhnende, schnaufende, seine Fliesenlegerweisheit verströmende Mann! Als wäre er das unpünktliche und unzuverlässige Leben selbst, das von diesen Geschichten auf eigenwillige, nachsichtige Weise gefeiert wird. Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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