SWR2 MANUSKRIPT
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SWR2 DIE BUCHKRITIK
Guy Standing: Eine Charta des Prekariats
Von der ausgeschlossenen zur gestaltenden Klasse
Aus dem Englischen von Sven Wunderlich
Unrast Verlag
335 Seiten
19,80 Euro
Rezension von Ulrich Teusch
Freitag, 07.10.2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Immer mehr Menschen fallen durch die Maschen sozialer Sicherung. Ihre Arbeits- und
Lebensverhältnisse sind prekär. Der britische Wirtschaftswissenschaftler Guy Standing
versteht sich als Anwalt dieser Menschen. Er sagt, dass die Unterprivilegierten inzwischen
eine neue soziale Klasse bilden. Und er ist überzeugt: Sie werden sich organisieren und
aufbegehren. In seinem neuen Buch fasst Standing seine Theorie des Prekariats
zusammen und entwickelt ein konkretes Aktionsprogramm.
Er sei entschlossen, die Abhängigkeit vieler Menschen von staatlichen Leistungen
einzudämmen; es sei nicht akzeptabel, „etwas für umsonst“ zu bekommen, die Kultur des
öffentlich geförderten „Nichtstuns“ müsse ein Ende haben.
So lautete das Credo von Iain Duncan Smith, bis März dieses Jahres britischer Minister für
Arbeit und Renten. Doch vor der eigenen Tür kehrte der Minister nicht. Während er seine
Kampagne gegen sozial Schwache führte, lebte er auf einem sechs Quadratkilometer
großen Anwesen, das seine Frau geerbt hatte. Und er strich innerhalb von zehn Jahren
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über eine Million britische Pfund an EU-Agrarsubventionen ein, für die er nichts geleistet
hatte.
In seinem Buch kommt Guy Standing mehrfach auf diesen und ähnliche Fälle zu
sprechen. Doch Leute wie Duncan Smith sind für ihn lediglich Symptome, nicht die
Ursachen einer tiefgreifenden Fehlentwicklung. Standing argumentiert nicht primär
moralisch, sondern politökonomisch. Im Zentrum seines Buches steht eine neue soziale
und politische Polarisierung, eine neue Klassenstruktur. Sie hat nichts mit den
Verhältnissen zu tun, die wir aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert kennen, also der
Aufspaltung in Arbeiterklasse und Bourgeoisie. Was wir heute erleben, findet im globalen
Maßstab statt: der Angriff einer kleinen, unermesslich reichen und mächtigen Plutokratie
auf immer größere Teile der Gesellschaft. Die neoliberalen, utilitaristischen Dogmen dieser
Elite sind nach wie vor en vogue, obwohl sie eine Spur der Zerstörung hinterlassen haben.
Statt zu mehr Wohlstand, Sicherheit und sozialem Ausgleich zu führen, haben sie die
Gesellschaft entsolidarisiert. Und sie haben, so Standing, eine neue, ständig wachsende
Klasse hervorgebracht: das Prekariat.
Das Prekariat bietet ein heterogenes Bild. Es reicht von ehemals Lohnabhängigen, die
durch alle sozialen Sicherungssysteme gefallen sind, über eine größer werdende Zahl von
Migranten bis hin zu hochqualifizierten Universitätsabsolventen, die bei McDonalds an der
Kasse stehen oder bei Walmart Regale einräumen. Sie alle schlagen sich mehr schlecht
als recht durch, leben von der Hand in den Mund, genießen keine irgendwie geartete
Lebenssicherheit, verfügen über keine Perspektive: befristete Verträge, Zeitarbeit, CrowdArbeit, Null-Stunden-Jobs, Praktika, Phasen der Arbeitslosigkeit, dazu Wohnungsnot,
Verschuldung, Kreditfallen. Zudem werden diese Menschen immer mehr ihrer Rechte
beraubt, indem der Staat sie zu Bittstellern degradiert, zu Bürgern zweiter Klasse, oder,
wie Standing schreibt, zu „Unterbürgern“. Im ersten Drittel seines Buches, auf
beklemmenden sechzig Seiten, beschreibt er die Verheerungen eines globalen,
neoliberalen Sozialexperiments. Und er macht deutlich: Eine Gesellschaft, die sich soziale
Verwerfungen und menschliche Demütigungen dieses Ausmaßes glaubt leisten zu
können, ist auf Dauer nicht überlebensfähig.
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Was der neuen Prekariatsklasse noch fehlt, so Standing, ist das Bewusstsein, eine Klasse
zu sein. Solches Bewusstsein kann sich nur in konkretem Handeln, also sozialen Kämpfen
herausbilden. Die Occupy-Bewegung, die spanischen „Indignados“, der Widerstand im
Istanbuler Gezi-Park, aus diesen und vielen anderen Rebellionen schöpft er Hoffnung.
Sein Buch ist der Versuch, den Bewegungen Richtung und Ziel zu geben. Er formuliert
eine „Charta des Prekariats“, einen Katalog aus Forderungen und konkreten Vorschlägen,
29 Punkte insgesamt, jeder einzelne ausführlich und plausibel begründet. So will er unter
anderem flexible Arbeitsverhältnisse zurückdrängen, das Workfare-System auflösen (also
die obligatorische Lohnarbeit, um an Sozialleistungen zu kommen), er will Armutsfallen
beseitigen, Kurzzeit- und Studierendenkredite regulieren, Subventionen abschaffen, ein
bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Keiner der Vorschläge ist revolutionär, auch
zusammengenommen sind sie es nicht. Aber das Buch macht klar: Sollten reformerische
Forderungen dieser Art weiter ignoriert werden, könnte das über kurz oder lang zu
sozialen Eruptionen, zu revolutionären Situationen führen. Es wird höchste Zeit für eine
Kurskorrektur.
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