SWR2 DIE BUCHKRITIK

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Kerstin Schweighöfer: „100 Jahre Leben. Welche Werte wirklich zählen“
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
366 Seiten
20 Euro
Rezension von Widmar Puhl
Montag, 21.03.2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Was bleibt nach einem langen Leben? Was war wirklich wichtig, und wie bezieht man das
Vergangene auf die Gegenwart und umgekehrt? Das Buch "100 Jahre Leben. Welche
Werte wirklich zählen" von Kerstin Schweighöfer porträtiert zehn Menschen im Alter von
hundert oder mehr Jahren, so genannte "Zentenare". Es ist eine geballte Ladung
Lebenserfahrung, von der man eine Menge lernen kann, meint Widmar Puhl.
Hundertjährige nötigen uns Respekt ab und machen uns
neugierig. Sie sind nicht automatisch Vorbilder, aber Zeugen
eines Jahrhunderts, in den enorm viel passiert ist und das
ihnen viel zugemutet hat. Manche haben ihre Großeltern
durch Seuchen verloren, die vor der Erfindung des Penicillins
tödlich waren, ihre Väter bei Verdun und Männer bei
Stalingrad. Sie haben noch Zeiten ohne Auto und Flugzeug,
Glühbirne, Telefon, Radio und Fernsehen gekannt, ohne
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Staubsauger,
Waschmaschine,
Nylonstrümpfe
und
Kugelschreiber. Trotzdem surfen einige von ihnen heute im
Internet. [Sie haben die Einführung des Frauenwahlrechts
erlebt,
den
Nationalsozialismus,
die
Teilung
und
Wiedervereinigung Deutschlands.]
Die Autorin Kerstin Schweighöfer hat schon als Kind eine von
ihnen gekannt, eine Wirtin namens Mathilde aus dem
Schwarzwald. Doch allen hat sie einfühlsam die gleichen
Fragen gestellt: über den Wert von Liebe, Ehe, Kinder und
Familie, Freundschaft und Leidenschaft, Geld und Erfolg,
Freiheit und Glück, Gott und Religion. Sie hat sehr ehrliche
Antworten bekommen und zieht jedes Mal respektvoll, aber
sachlich und nüchtern Bilanz.
Sieben der zehn porträtierten Zentenare sind Frauen – weil
sie nicht auf dem Schlachtfeld gefallen sind und vielleicht auch
weil ihnen das Rauchen und Trinken noch fremd waren.
Mathilde war als junge Frau Dienstmädchen. Der Sohn eines
Arbeitgebers stieg ihr nach, und sie musste auf Geheiß des
Pfarrers und der Eltern einen wildfremden Bauern heiraten.
Liebe kam da nicht auf. Arrangierte Ehen waren also vor 100
Jahren auch bei uns kaum seltener als heute im Orient. Als
furchtbaren Schlag erlebte Mathilde den Selbstmord ihres
Sohnes, der aus einer Affäre stammte. Da hat sie an ihrem
Glauben gezweifelt.
Obwohl der Verlust geliebter Menschen zu den schlimmsten
Erfahrungen gehört, ist es beeindruckend, mit welchem
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Lebensmut die heute Hundertjährigen immer wieder neu
angefangen haben. Fast alle wiederholen die unsentimentale
Aussage, man müsse das Beste aus dem Leben machen.
Dass jeder, auch ein Atheist, an etwas glaubt, das ihn aufrecht
hält, ist auch so eine Erkenntnis. Oder dass es kein Recht auf
Glück gibt. Auffallend viele erklären: „Wir jagen häufig einer
Vorstellung vom Glück nach. Man übersieht es leicht, denn oft
liegt es im Kleinen.“
Worauf es ankommt, sagen Fritz aus Naumburg, die Malerin
Mariska aus Ungarn und die britische Archäologin Beatrice,
sei ein gutes Leben, ein sinnvolles. Wichtig für die Liebe sind
ihnen Achtung, Vertrauen und gemeinsame Ziele. Besonders
viele glückliche Augenblicke garantieren aber anscheinend
weder Liebe noch Sex. Die Familie als Lebenshinhalt kann
sich als brüchig erweisen, Kinder können sterben oder ins
Unglück rennen, und die Eltern müssen es machtlos
hinnehmen.
Umso wichtiger sind daher Freunde, die einem auch dann
noch Halt geben und die man sich aussuchen kann. Die
meistgenannte Zutat für ein erfülltes Leben ist Leidenschaft:
diese oft nur kleine, aber beständige Flamme, die alles, was
man tut, zum Leuchten bringt, die den Beruf zur Berufung
macht, ein Hobby, ein Interesse, ein Ziel.
Das Leben ist ein Geschenk, sagen die Jahrhundertmenschen
– trotz aller Verluste, Einschränkungen oder Fehler. Manche
bereuen, dass sie zu feige waren, jüdische Schulkameraden
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vor den Nazis zu retten. Gerrit aus Holland hat sich von
Schönheit blenden lassen und die falsche Frau geheiratet,
brachte aber nicht den Mut auf, sich von ihr zu trennen. Lieber
führte er 40 Jahre lang ein Doppelleben. Einige bedauern,
dass sie sich zu wenig um ihre Partner gekümmert haben.
Es gelingt nicht immer, Prinzipien treu zu bleiben, doch das
macht
sie
nicht
überflüssig.
Die
Charakterstärke
der
Hochbetagten ist keine Fehlerlosigkeit, sondern eher die
Fähigkeit,
nie
aufzugeben
und
Freiheit
nicht
mit
Verantwortungslosigkeit zu verwechseln. Diese Fähigkeit hat
ihren Preis, den die Hundertjährigen genau kennen. Weicheier
und Bequemlinge sind sie alle nie gewesen. Dieses
wunderbare
Buch
enthält
zusammen
1000
Jahre
Lebenserfahrung und macht jedem Leser Mut. Denn wir
werden alle älter und können viel lernen von der Haltung, die
man hier antrifft.
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