SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE, SWR2 DIE BUCHKRITIK Alexander Ilitschewski: Matisse Matthes & Seitz Verlag 26,90 Euro Rezension von Gisela Erbslöh Donnerstag, 25.02.2016 (14:55 – 15:00 Uhr) Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Von Gisela Erbslöh Autorin: Koroljow sitzt im Moskauer Verkehrsstau fest. Durchs Fenster seines schäbigen Kleinwagens sieht er, wie im schmutzigen Schnee des Gehsteigs eine amorphe Menschenmasse vorüberhetzt und mitten drin Straßenkinder, die auf zwei Obdachlose einprügeln, einen Mann und eine Frau. Trist alltäglich und ganz und gar realistisch beginnt Ilitschewskis Roman „Matisse“. Er wird so nicht bleiben. Ilitschewski ist kein Autor des linearen und eindeutigen Erzählens. Ihn interessieren die fließenden Grenzen zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, zwischen der gegenständlichen Welt und dem nicht immer Einsehbaren, das sie bewegt. Entsprechend empfänglich ist auch sein Protagonist für das, was jenseits des konkret Fassbaren liegt – eine schwer definierbare Figur. Schon sein Name deutet es an: Koroljow kommt von „korol‘“, russisch König. Eine ironische Übertreibung, gewiss, hat er doch weder Macht, noch Ansehen. Aber seine Souveränität wird er sich erkämpfen. – Zurück zum Roman-Anfang, vielmehr zum Ende des Anfangs: Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT Die Straßenkinder sind fort, die Obdachlosen allein in der Menge. Da sieht Koroljow, wie der verlotterte Mann versucht, der Frau übers Haar zu streichen. Diese Menschlichkeit unter Menschen, die als solche nicht mehr zählen, trifft Koroljow mit Wucht, wie „ein Drama“, schreibt Ilitschewski, wie etwas „derart Unwirkliches“, „dass es an eine Oper erinnerte und den dunkel brodelnden Dunst der Stadt verdrängte.“ Dies ist der eigentliche Einstieg in Koroljows Geschichte – der Geschichte seines unaufhaltsamen gesellschaftlichen Abstiegs – und seiner Befreiung. Sie erzählt zugleich vom Trauma der post-sowjetischen Gesellschaft. Koroljow, als Waise in einem staatlichen Internat aufgewachsen und studierter Physiker – wie Ilitschewski selbst - hatte nämlich einst eine glänzende Zukunft als Wissenschaftler vor sich. Aber der Staat zerbrach und im raubkapitalistischen Perestrojka-Russland wurden die Grundlagen für die Wissenschaften zerschlagen. Koroljows ehemalige Kollegen haben sich längst ins Ausland verzogen. Nur ihn lässt Russland nicht los – er fristet sein Dasein als Arbeitssklave eines Multimillionärs. Bis er den offenbar einzigen Weg ins Freie entdeckt, den Russland ihm bietet – er wird zum Wanderer, zum Unsteten, und schließt sich den Obdachlosen an. Er streift durch Moskau und dessen spiegelbildartige Unterwelt, durch verfallene Lagerhallen mit grotesken Überresten der toten Sowjet-Zivilisation; er hält sich in verlassenen Metroschächten auf, auf stillgelegten Baustellen und Flugplätzen und in Irrenhäusern. So entsteht ein großartig abgründiges Moskau-Porträt. Koroljows Lehrmeister, Zuhörer und Tröster sind Wadja und Nadja, der mit allen Wassern gewaschene und die – wie es salopp heißt - Bekloppte. Gemeinsam ziehen sie aus der Stadt hinaus in die Steppe Richtung Süden – bis Koroljow die beiden hinter sich lässt, allein weiter geht und sich in einer Landschaft aus Sonne und Licht und in Sätzen reiner Poesie auflöst. Man kann diesen offenen Schluss für misslungen halten. Man kann ihn aber auch als Hommage auf den bekanntesten aller russischen Lautpoeten Velemir Chlebnikov lesen, der sich während des Bürgerkriegs nach der Oktoberrevolution ebenfalls in die Steppen des russischen Südens aufmachte und dort für immer verschwand. Überhaupt steckt Ilitschewskis Roman voller literarischer Zitate. Und was macht der französische Maler Henri Matisse im Titel? Der Meister der wilden Farben sei Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT Koroljows Lieblingsmaler, heißt es im Text, und wie dieser orientiert sich auch der vagabundierende Physiker am Licht der Sonne. Es geht in diesem Roman über den Untergang einer Gesellschaft also auch um die befreiende Macht der Poesie und der Kunst. – Ilitschewski ist ein begnadeter, aber auch hemmungsloser, manchmal quälend detailbesessener Erzähler. Sein Roman ist keine einfache Lektüre, aber eine überaus anregende, nicht zuletzt dank der sensiblen Übertragung aus dem Russischen von Friederike Meltendorf und Valerie Engler. Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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