SWR2 Die Buchkritik Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Alexander Ilitschewski: Matisse
Matthes & Seitz Verlag
26,90 Euro
Rezension von Gisela Erbslöh
Donnerstag, 25.02.2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Von Gisela Erbslöh
Autorin:
Koroljow sitzt im Moskauer Verkehrsstau fest. Durchs Fenster seines schäbigen
Kleinwagens sieht er, wie im schmutzigen Schnee des Gehsteigs eine amorphe
Menschenmasse vorüberhetzt und mitten drin Straßenkinder, die auf zwei Obdachlose
einprügeln, einen Mann und eine Frau. Trist alltäglich und ganz und gar realistisch beginnt
Ilitschewskis Roman „Matisse“. Er wird so nicht bleiben. Ilitschewski ist kein Autor des
linearen und eindeutigen Erzählens. Ihn interessieren die fließenden Grenzen zwischen
Sinnlichem und Übersinnlichem, zwischen der gegenständlichen Welt und dem nicht
immer Einsehbaren, das sie bewegt. Entsprechend empfänglich ist auch sein Protagonist
für das, was jenseits des konkret Fassbaren liegt – eine schwer definierbare Figur. Schon
sein Name deutet es an: Koroljow kommt von „korol‘“, russisch König. Eine ironische
Übertreibung, gewiss, hat er doch weder Macht, noch Ansehen. Aber seine Souveränität
wird er sich erkämpfen. – Zurück zum Roman-Anfang, vielmehr zum Ende des Anfangs:
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Die Straßenkinder sind fort, die Obdachlosen allein in der Menge. Da sieht Koroljow, wie
der verlotterte Mann versucht, der Frau übers Haar zu streichen. Diese Menschlichkeit
unter Menschen, die als solche nicht mehr zählen, trifft Koroljow mit Wucht, wie „ein
Drama“, schreibt Ilitschewski, wie etwas „derart Unwirkliches“, „dass es an eine Oper
erinnerte und den dunkel brodelnden Dunst der Stadt verdrängte.“ Dies ist der eigentliche
Einstieg in Koroljows Geschichte – der Geschichte seines unaufhaltsamen
gesellschaftlichen Abstiegs – und seiner Befreiung. Sie erzählt zugleich vom Trauma der
post-sowjetischen Gesellschaft.
Koroljow, als Waise in einem staatlichen Internat aufgewachsen und studierter Physiker –
wie Ilitschewski selbst - hatte nämlich einst eine glänzende Zukunft als Wissenschaftler
vor sich. Aber der Staat zerbrach und im raubkapitalistischen Perestrojka-Russland
wurden die Grundlagen für die Wissenschaften zerschlagen. Koroljows ehemalige
Kollegen haben sich längst ins Ausland verzogen. Nur ihn lässt Russland nicht los – er
fristet sein Dasein als Arbeitssklave eines Multimillionärs. Bis er den offenbar einzigen
Weg ins Freie entdeckt, den Russland ihm bietet – er wird zum Wanderer, zum Unsteten,
und schließt sich den Obdachlosen an. Er streift durch Moskau und dessen
spiegelbildartige Unterwelt, durch verfallene Lagerhallen mit grotesken Überresten der
toten Sowjet-Zivilisation; er hält sich in verlassenen Metroschächten auf, auf stillgelegten
Baustellen und Flugplätzen und in Irrenhäusern. So entsteht ein großartig abgründiges
Moskau-Porträt.
Koroljows Lehrmeister, Zuhörer und Tröster sind Wadja und Nadja, der mit allen Wassern
gewaschene und die – wie es salopp heißt - Bekloppte. Gemeinsam ziehen sie aus der
Stadt hinaus in die Steppe Richtung Süden – bis Koroljow die beiden hinter sich lässt,
allein weiter geht und sich in einer Landschaft aus Sonne und Licht und in Sätzen reiner
Poesie auflöst. Man kann diesen offenen Schluss für misslungen halten. Man kann ihn
aber auch als Hommage auf den bekanntesten aller russischen Lautpoeten Velemir
Chlebnikov lesen, der sich während des Bürgerkriegs nach der Oktoberrevolution
ebenfalls in die Steppen des russischen Südens aufmachte und dort für immer
verschwand. Überhaupt steckt Ilitschewskis Roman voller literarischer Zitate. Und was
macht der französische Maler Henri Matisse im Titel? Der Meister der wilden Farben sei
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Koroljows Lieblingsmaler, heißt es im Text, und wie dieser orientiert sich auch der
vagabundierende Physiker am Licht der Sonne. Es geht in diesem Roman über den
Untergang einer Gesellschaft also auch um die befreiende Macht der Poesie und der
Kunst. – Ilitschewski ist ein begnadeter, aber auch hemmungsloser, manchmal quälend
detailbesessener Erzähler. Sein Roman ist keine einfache Lektüre, aber eine überaus
anregende, nicht zuletzt dank der sensiblen Übertragung aus dem Russischen von
Friederike Meltendorf und Valerie Engler.
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