SWR2 DIE BUCHKRITIK

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Wytske Versteeg: Boy
Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016
240 Seiten
10,90 Euro
Rezension von Eva Karnofsky
Dienstag, 17.05.2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Die Niederlande sind in diesem Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse, und so
schauen die deutschsprachigen Verlage vermehrt auf die Buchproduktion des
Nachbarlandes. Davon profitieren vor allem junge Autoren und Autorinnen wie die 1983
geborene Wytske Versteeg, die in ihrer Heimat bereits mit drei Romanen erfolgreich war.
Boy heißt der erste Roman, der von ihr ins Deutsche übersetzt wurde, und Eva Karnofsky
hat ihn gelesen.
Die namenlose Ich-Erzählerin, sie ist von Beruf Psychiaterin, hat ihren fünfzehnjährigen
Sohn verloren. Wochenlang war er verschwunden, dann findet die Polizei seine Leiche: Er
hat Selbstmord begangen, so die Vermutung. Damit beginnt das Buch der Niederländerin
Wytske Versteeg. Der Tod des Jungen, er heißt Boy wie der Roman, ist für die Mutter im
ersten der drei großen Kapitel Anlass, sich zu erinnern: Sie und ihr Mann, ein
Entwicklungshelfer, konnten keine Kinder bekommen, und als sich in Afrika die Chance
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zur Adoption des kleinen schwarzen Babys bot, ergriffen sie sie. Die Mutter denkt zurück
an schöne Stunden mit dem Jungen, aber auch daran, wie die Distanz zu ihm langsam
wuchs, wie er ihr immer mehr entglitt, obwohl sie und ihr Mann ihn verwöhnten. Auf der
Suche nach einem Grund, weshalb sich Boy das Leben genommen haben könnte, spricht
sie mit Klassenkameraden und Lehrern, doch sie erfährt zunächst nichts, was ihr
weiterhilft. Wytske Versteeg lässt die Mutter ruhig und gefasst davon erzählen, wie man es
von einer Psychiaterin erwartet, die es gewohnt ist, mit Gefühlen umzugehen.
Als der Leser beginnt, sich zu fragen, ob dies nun alles ist, kommt die überraschende
Wende. Seit Boys Verschwinden sind bereits vier Jahre vergangen, als die Mutter erfährt,
dass Hannah, die in Boys Klasse Theater unterrichtete, als letzte mit ihm zusammen war.
Hatte die Mutter bis dahin ihre Trauer vermeintlich im Griff, reift im zweiten Kapitel des
Buches der Gedanke in ihr, dass diese Hannah etwas mit dem Tod ihres Sohnes zu tun
haben muss, und sie sinnt auf Rache. Beklemmend realistisch schildert Wytske Versteeg,
wie die Depressionen der Mutter dazu führen, dass sie sich immer tiefer in ihre
Rachephantasien verstrickt. Sämtliche Mechanismen, die sie als Psychiaterin entwickelt
hatte, Gefühle von sich fern zu halten, greifen plötzlich nicht mehr. Sie sucht nach
Hannah, und als sie feststellt, dass die Theaterlehrerin inzwischen in Bulgarien lebt, bricht
sie sämtliche Zelte hinter sich ab und nistet sich bei ihr als Haushaltshilfe ein. Hannah, die
ein Bein nachzieht, ist eine Aussteigerin. Realistisch wie die Lebens- und Gefühlswelt der
Mutter schildert die Autorin auch Hannahs Dasein in einem baufälligen Häuschen mit
Außentoilette. In einem abgeschiedenen Landstrich, dessen Bewohner auf der Suche
nach Wohlstand in Richtung Westeuropa aufgebrochen sind, ernährt sich Hannah mehr
schlecht als recht von dem, was sie selbst anbaut. Ganz so, als ob sie sich für etwas
bestrafte. Wie zu erwarten, mag die Mutter die ehemalige Lehrerin ihres Sohnes nicht, und
der Leser wartet nun gespannt darauf, dass sie ihre Rachepläne in die Tat umsetzt.
Wytske Versteeg mag den Wechsel, und so reißt sie im dritten Kapitel erneut das Steuer
herum. Sie lässt die Mutter wieder in die Rolle der beobachtenden Psychiaterin schlüpfen,
was die Spannung noch weiter steigert, denn der Leser fragt sich, welche infame RacheStrategie die Mutter nun gegenüber Hannah verfolgt. Hannah berichtet ihr schließlich von
sich und von Boy, und besonders anrührend ist das Psychogramm, das Hannah von ihrem
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Schüler zeichnet. Besser, einfühlsamer kann die Seele eines Kindes kaum beschrieben
werden. Die Autorin ändert im dritten Kapitel auch die Erzählperspektive. Die Mutter
berichtet nicht mehr selbst, vielmehr spricht ein unbekannter Erzähler die Mutter an. Wie
ein Supervisor, der ihre psychiatrischen Sprechstunden begleitet, gibt er im vertraulichen
Du wieder, wie er ihre und Hannahs Interaktion erlebt.
Wytske Versteeg hat einen beeindruckenden Roman über Rassismus, Vorurteile und
Mobbing, über Kindesadoption und Wohlstandsverwahrlosung geschrieben, doch vor
allem ist Boy eine einfühlsame Auseinandersetzung mit der Trauer, der Depression und
den Schuldgefühlen, die der Tod eines Kindes in ihm nahestehenden Menschen auslöst.
Wytske Versteeg ist so nahe an der Wirklichkeit, dass man annehmen könnte, sie habe
eine solche Situation selbst erlebt.
Die beiden anderen Romane von Wytske Versteeg wurden wie Boy in den Niederlanden
von der Kritik hochgelobt. Gern würde man auch sie auf Deutsch lesen.
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