SWR2 DIE BUCHKRITIK

SWR2 MANUSKRIPT
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SWR2 DIE BUCHKRITIK
Yves Petry: „In Paradisum“
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
Luftschacht-Verlag
288 Seiten
24 Euro
Rezension von Katharina Borchardt
Donnerstag, 14.04.2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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In diesem Jahr treten die Niederlande und Flandern gemeinsam als Gastland der
Frankfurter Buchmesse auf. Der Auftritt beginnt aber nicht erst im Herbst, sondern schon
jetzt mit zahlreichen Veranstaltungen und vor allem: mit vielen neuen Übersetzungen. Die
literarisch radikalste Neuerscheinung ist wohl der soeben erschienene Roman „In
Paradisum“ des flämischen Autors Yves Petry. Darin schildert Petry einen Fall von
Kannibalismus: Ähnlich wie im Fall des „Kannibalen von Rotenburg“ treffen sich bei ihm
zwei Männer, die in Brüssel gemeinsam den Tod des einen vorbereiten. Später wird der
Täter auch Stücke des Opfers essen, infolgedessen sich das Opfer als Erzählstimme in
ihm manifestiert. Eine intelligente Konstruktion, findet Katharina Borchardt.
*****
Rezension:
Fünfzehn Jahre lang hat Bruno Klaus Literatur an der Universität gelehrt. Voller Hingabe –
wenn auch etwas selbstverliebt – wollte er seinen Studenten vermitteln, dass große
Literatur weder Gesellschaftsspiel noch Nachttischdekoration ist, sondern den Leser
seelisch formt und in diesem Sinne von absolut existentieller Bedeutung ist. Doch auf
einmal geht Bruno die innere Verbindung zur Literatur verloren. Seine Krise ist gewaltig;
seine ohnehin eher dürre Verbindung zur Welt bricht vollends ab.
Nach seiner Kündigung denkt er erstmals daran zu sterben. Doch aus der Idee wird erst
dann ein Plan, als er Marino Mund kennenlernt. Marino führt in Brüssel ein Geschäft für
Computerzubehör. Bruno will dort seinen PC aufrüsten lassen, um darauf mehrere Pornos
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zugleich schauen zu können. Seine Einsamkeit hat ein bereits ungeheuerliches Maß
angenommen, und er hofft auf Erlösung durch eine Vervielfachung der visuellen Entladung
auf dem Bildschirm.
Auch Computerhändler Marino ist einsam, in seiner intellektuellen Schlichtheit und seiner
physischen Wunschlosigkeit aber deutlich zufriedener. So sehr sich Bruno und Marino
auch unterscheiden, in einem ähneln sie sich: Ein Ausweg aus der Einsamkeit ist für beide
nicht denkbar. Erst als sie einander kennenlernen, scheint ein Entkommen möglich, indem
der eine den anderen ermordet und Stücke von ihm verspeist.
Der flämische Autor Yves Petry hat sich für seinen Roman „In Paradisum“ von einem Fall
von Kannibalismus inspirieren lassen, der sich 2001 im hessischen Rotenburg wirklich
ereignet hat. Yves Petry hat den Fall nach Brüssel verlegt und nur die Grundkonstellation
übernommen: zwei Männer, ein Mord mit willigem Opfer und Kannibalismus. Der Rest ist
reine Fiktion. Das Faszinosum an dieser Geschichte ist nicht so sehr der Mord – Morde
passieren ständig, in der Realität wie in der Literatur –, sondern dass das Opfer dem
Mörder die Tat diktiert. Und natürlich dass dieser anschließend Stücke des Opfers zu sich
nimmt. Bei Petry erreichen die beiden Männer auf diese Weise eine Verschmelzung, die
sie auf allgemein üblichem Wege nicht haben erreichen können.
So ist dies auch das große Thema des Romans: die Einsamkeit – und wie man sie
überwinden kann, wenn sie sich schon zur Dauerkrise ausgeweitet hat. Bruno und Marino
gelingt dies kurzzeitig durch ihre gemeinsame Tat: Brunos Geist wird – transportiert durch
sein Fleisch – in Marinos Körper auferstehen. Er ist schließlich auch der Ich-Erzähler
dieses Romans, dessen Worte der bewohnte Marino später in seiner Gefängniszelle
aufschreibt. Dieser Kniff ist natürlich ein rein literarischer. Er ist nicht wirklichkeitsnah, aber
hochintelligent. Wie sich überhaupt der ganze Roman, der in den Niederlanden mit dem
renommierten „Libris Literatuurprijs“ ausgezeichnet wurde, gedanklich und sprachlich auf
höchstem Niveau bewegt. Meisterhaft schildert Petry die halbklaren Seelenlagen seiner
Figuren und ihr labiles Verhältnis untereinander. Diese erkenntnisscharfe Wortwerdung
von Realität erfasst auch die hervorragende Übersetzung von Gregor Seferens präzise.
Wirklich schockierende Szenen gibt es in diesem Roman übrigens nur wenige: Der Mord
selbst und der ringkampfartige Sex zwischen Bruno und Marino, der dem Mord
vorausgeht, werden nur angedeutet. Ob die beiden – auch Bruno – wirklich schwul sind,
dahinter sei übrigens ein großes Fragezeichen gesetzt. Eher scheint es, dass Bruno
Männer präferiert, weil er mit ihnen härter zusammenstoßen kann. Sein Körperempfinden
ist schwach, weshalb es seinem funkelnden Intellekt auch gelingt, sich am Ende ganz vom
Körper zu lösen.
Die Lektüre dieses Romans ist schmerzhaft. Denn Petrys Figuren bleiben letztlich
unerlöst. Außerdem muss man zu Brunos selbstgewisser und weltzersetzender
Erzählstimme eine echte Haltung entwickeln. Wer sich unverschattet gut fühlen will, sollte
„In Paradisum“ also nicht lesen. Wer aber die Grenzen der menschlichen Existenz
erkunden und intellektuell elektrifiziert werden möchte, der sollte diesen Roman auf keinen
Fall verpassen.
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