Abgeordnete Dr. Eva Glawischnig-Piesczek (Grüne): Herr Präsident

Nationalrat, XXV. GP
16. März 2016
117. Sitzung / 1
12.20
Abgeordnete Dr. Eva Glawischnig-Piesczek (Grüne): Herr Präsident! Geschätzte
Damen und Herren auf der Regierungsbank! Werte Kolleginnen und Kollegen
Abgeordnete! Herr Bundeskanzler, ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern können,
was Sie noch im September und Oktober gesagt haben. Ich möchte Ihnen ein paar
Sätze davon vorlesen:
„Zäune haben keinen Platz in Europa.“ – Das war am 28. Oktober im letzten Jahr. Es
geht darum, „ob wir das gemeinsam lösen, oder ob die einzige Idee darin besteht,
Menschen zum Nachbarn zu schieben, damit man die Probleme nicht selber hat.“ Es
gilt zu „verhindern, dass jeder eine Mauer baut“.
Weiters: „Es ist eine Zeit, wo wir beweisen müssen, dass wir kein Europa wollen, in
dem jeder versucht, seine Probleme auf dem Rücken des anderen zu lösen.“
„Aufeinanderzugehen ist in der europäischen Politik unverzichtbar.“
Das letzte Zitat stammt auch noch von Oktober 2015: „Jetzt geht es um ein
gemeinsames Europa oder um den leisen Zerfall der EU. Der eine Weg ist mühsam,
schwierig und vermutlich langsam, doch der andere führt nur ins Chaos.“
Jetzt hören wir von Ihnen Wörter wie „Schengen“, „Außengrenze“, „FRONTEX“,
„Obergrenze“, „illegale Routen“. Der Ausdruck „Menschen in Not“ kommt bei Ihnen
nicht mehr vor. Sie vertreten im Moment das glatte Gegenteil von dem, was Sie noch
vor wenigen Monaten als alternativlos angesehen haben. Ich frage mich, wie es zu so
einer Kehrtwende kommen kann. Sie sollten sich auch die Frage stellen, was Sie damit
anrichten, und zwar nicht nur für die österreichische Politik, sondern vor allem für die
Zukunft der Europäischen Union. (Beifall bei den Grünen.)
Ich weiß nicht, wie man es sich vorstellen soll, dass syrische und afghanische
Flüchtlinge jetzt geordnet vor Krieg und Terror flüchten. Es gibt nach wie vor keine
legale Einreisemöglichkeit für Flüchtlinge in die Europäische Union. Alles, das Sie im
Moment als sogenannte Lösungen vertreten, blendet ein ganz wichtiges Kriterium aus:
Menschen in Not haben keine legale Möglichkeit, nach Griechenland zu kommen. Sie
können nur über Schlepper oder über gefährliche Seerouten kommen. (Zwischenruf
des Abg. Steinbichler.)
Es ist eine Schande, dass es heute nicht stärker thematisiert wird, dass an der Grenze
zwischen Mazedonien und Griechenland Tausende Menschen, darunter über
4 000 Kinder, de facto im Gatsch und im Dreck liegen. Sie sind durchnässt und
unterkühlt. Alle Behauptungen, die es so darstellen, dass in Nachbarlagern noch
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trockene Plätze frei sind, sind unwahr. Lokalaugenschein vor Ort: Es ist unwahr, es gibt
keine freien Plätze in anderen Aufnahmestätten. Dass das nicht stärker thematisiert
wird, ist eine Schande! (Beifall bei den Grünen. – Ruf bei der FPÖ: Eine Schande ist
etwas ganz anderes!)
Es tut mir leid, Kollegen von den Freiheitlichen! Sie reden immer nur von Grenzschutz.
(Zwischenruf des Abg. Neubauer.) Sie reden von Grenzbalken, Sie reden von
nationalen Ich-weiß-nicht-Was. Sie blenden vollkommen aus, dass man Krieg und
Elend nicht einfach auf Knopfdruck abschalten kann. (Beifall bei den Grünen.)
UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, klagt nach wie vor, dass
gerade einmal 50 Prozent der Gelder, die es benötigen würde, um vor Ort die
notwendigste Hilfe zu leisten, tatsächlich vorhanden sind. Das ist die Realität. Das
kann man nicht ausblenden. Damit sollten Sie sich ein bisschen ernsthafter befassen,
anstatt hier Präsidentschaftswahlkampf zu betreiben. (Beifall bei den Grünen.)
Herr Bundeskanzler! Ich komme zurück zu dem, das mich so ärgert, und das wirklich
gefährlich ist: Ich habe Ihnen eine Zeit lang geglaubt, dass Sie wirklich eine
europäische Perspektive haben und dass Sie es mit diesem Gedanken, dass die
Flüchtlingsfrage in Europa nur gemeinsam gelöst werden kann, wirklich ernst meinen.
Sie haben sich jetzt mit dieser 180-Grad-Kehrtwende genau in das Boot jener gesetzt,
die mit viel Kraft daran arbeiten, dass keine europäische Lösung zustande kommt.
Sie haben es sich mit Kanzlerin Merkel verscherzt, jeden Tag gibt es eine Provokation.
Ich frage mich, was Freundschaften und politische Bündnisse wert sind, wenn man es
schafft, seine Meinung innerhalb von so kurzer Zeit so drastisch zu ändern und sich auf
eine andere Seite zu stellen. (Abg. Neubauer: Sieht das der Herr Pilz auch so? – Abg.
Darmann: Der Sicherheitssprecher der Grünen sieht das anders!) Seehofer und Orbán
freuen sich über diesen Kurswechsel in Österreich.
Ohne eine europäische Lösung geht es nicht – das sage ich noch einmal. Eine halbe
Milliarde Menschen, 500 Millionen Menschen leben in der Europäischen Union. Letztes
Jahr gab es eine Million Asylanträge. Wir, die 28 EU-Mitgliedstaaten, können das mit
einer verbindlichen Verteilungsquote und einer gemeinsamen Standardisierung der
Asylverfahren schaffen. Durch eine gemeinsame Finanzierung in der Europäischen
Union sind auch die Gelder dafür vorhanden.
Die Kommission arbeitet auch in diese Richtung. In diese Richtung geht auch unser
Modell. Wir haben das letzte Woche noch einmal vorgestellt, und europaweit vertreten
alle Grünen dieses Modell. Das Modell sieht so aus: Bei Erfüllen der verbindlichen
Quote gibt es einen Jahressatz für die Versorgung pro Flüchtling, bei Übererfüllung der
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Quote gibt es vollen Ersatz der Kosten für Unterbringung und Versorgung. Das ist auch
die Lösung, an der die Europäische Kommission arbeitet. Ich würde mir von Ihnen, der
Bundesregierung, wünschen, dass Sie diese Lösung mit aller Kraft und ganz radikal
unterstützen. Anders wird es nicht gehen. (Beifall bei den Grünen.)
Der Vizekanzler, der auch eine Kehrtwende vollzogen hat, spricht jetzt von Invasion
und so weiter. In einem Zitat vom September war das noch anders, da sagten Sie:
„Leute, die um ihr Leben kämpfen, lassen sich von Stacheldraht, wahrscheinlich auch
von Schüssen nicht abhalten. Not und Elend kann man nicht aussperren! Man muss
das Problem lösen!“
Ein weiteres Zitat von Ihnen, Herr Vizekanzler, das ich damals sehr unterstützt habe,
lautet:
Es gilt, sich tatsächlich zu entscheiden. Will man weiter Angst schüren, will man
innenpolitisch Kleingeld damit machen, will man damit Wahlkämpfe in irgendeiner
Form befeuern, oder will man wirklich eine Lösung für eine sehr große
Herausforderung? – Zitatende.
Im Moment sind Sie in die falsche Richtung abgebogen. Sie haben sich von der
europäischen Lösungsmöglichkeit verabschiedet. Mit diesem Abschied arbeiten Sie
jenen in die Hände, die keine europäische Lösung wollen.
Einen Satz zum Schluss noch dazu, dass viele aus Ihren Reihen sagen: Wir sind
enttäuscht von der Europäischen Union. (Zwischenruf des Abg. Darmann.)
Reflektieren Sie doch einmal: Wer ist denn die Europäische Union? – Das sind die
28 Staats- und Regierungschefs, von denen ein Großteil nicht an einer gemeinsamen
Lösung mitarbeiten möchte. Sie sagen: Das ist das Problem von Griechenland und von
Italien, das geht uns nichts an! – Das ist aber keine gemeinsame europäische
Vorgangsweise!
Sie sollten einmal reflektieren, dass wir als kleines Österreich in diesem europäischen
Verbund deutlich mehr Chancen, deutlich mehr Zukunft und deutlich mehr
Lösungsmöglichkeiten für viele Probleme dieser Welt haben. (Abg. Darmann: Jetzt gilt
es, Europa zu schützen, und das kann ...!) Ich beginne gar nicht, über Klimaschutz,
über Arbeitsplätze, über eine positive Wirtschaftsentwicklung zu sprechen. Dafür
brauchen wir eine gemeinsame europäische Vorgangsweise.
Sie sind daran überhaupt nicht interessiert. Sie wollen im Grunde die Strukturen, die es
jetzt gibt, zerschlagen, und hauen sich mit denen auf ein Packel, die auch offen sagen,
dass sie sich über einen Zerfall der Europäischen Union freuen würden. (Abg.
Darmann: Die Strukturen haben sich schon selbst zerschlagen!)
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Ich nehme Sie jetzt aber zu wichtig. Herr Bundeskanzler, Herr Vizekanzler, wichtig ist
vielmehr, dass Sie sich aus dieser Wagenburgpolitik, aus dieser Grenzbalkenpolitik,
herausbegeben und wieder europäisch zu denken und vor allem zu arbeiten beginnen.
Anders wird es nicht gehen! Ich zitiere Sie noch einmal:
Es ist zwar schwierig und mühsam, doch der andere Weg führt nur ins Chaos. (Beifall
bei den Grünen.)
12.27
Präsident Karlheinz Kopf: Nächster Redner: Herr Abgeordneter Auer. – Bitte.
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