SWR2 Zeitwort

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SWR2 Zeitwort
01.09.1872:
Das Allgäu bekommt Bahnanschluss
Von Reinold Hermanns
Sendung: Donnerstag, 1. September 2016
Redaktion: Ursula Wegener
Produktion: SWR 2016
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Autor:
Keinen „Anschluss“ zu haben, heißt „hinterm Berg“ zu bleiben, abgehängt vom
Fortschritt der Zivilisation, während alle Anderen umher sich auf den Weg in die
Zukunft machen… Im 19. Jahrhundert war dies die Sorge des westlichen Allgäus, mit
traditionsreichen Orten wie Kißlegg, Isny, Wangen und Leutkirch. Seit Napoleons
Umgestaltung Europas gehörte man zum Königreich Württemberg. Dieses hatte sich
auf den Schienen-Weg in die verkehrstechnische Zukunft gemacht: mit dem
Eisenbahngesetz von 1843 und den Spatenstichen zum Bau der Strecken EsslingenStuttgart-Ludwigsburg, Cannstatt-Untertürkheim und Geislinger Steige-Ulm. Und zum
Bau der „Südbahn“, mit der man dem Nachbar-Königreich Bayern im Wettlauf zum
Bodensee voraus sein wollte. 1847 eröffnete die Strecke FriedrichshafenRavensburg; eine klare Ansage mit Blickrichtung Schweiz und Italien; auch im Süden
lockten Handel und Wandel. Dabei dachte man allerdings nicht nur ökonomisch.
Vielen galt die Eisenbahn auch als Heilsbringerin schlechthin. Eisenbahnen, so ein
zeitgenössisches Landtagsprotokoll, seien:
Zitat:
„Träger der Cultur, der Humanität und Gesittung, sie sind das Band der Einzelwesen
wie der Völker, das Künste und Wissenschaften, Licht und Aufklärung verbreitet…“
Eisenbahnpfiff
Autor:
Verständlich mithin, dass auch die Zeitgenossen im abgelegenen Westallgäu jenen
Pfiff herbeisehnten, der das Signal der neuen Zeit war. Sie machten mobil für eine
eigene „Allgäubahn“ - als Ableger der Südbahn zum Bodensee.
Allerdings sollte es damit noch ziemlich dauern. Grund dafür waren geographische,
finanzielle und politische Bedenken: Welcher von all den Orten sollte „zum Zuge“
kommen? Nicht jeder kleine Sprengel konnte schließlich seinen eigenen Bahnhof
haben… Die Strecken wurden letztlich durch regionale Politik und lokale Interessen
gebahnt – im Gerangel um Standort- und Wettbewerbsvorteile. Wobei der Dampf
„von unten“ gemacht wurde: von Handels- und Gewerbevereinen, von Lokalpresse
und Bürgerversammlungen, durch Resolutionen und Eingaben an die
Staatsregierung im fernen Stuttgart – und, wie in Leutkirch, durch ein eigenes
Eisenbahnkomitee.
Die königlich-württembergische Regierung konnte all das nicht ignorieren. So war
das Werben für die Allgäubahn als, wie es hieß, „wichtiges Glied in der Kette
durchlaufender Eisenbahnverbindungen von Osten und Südosten nach Westen und
Nordwesten“ letztlich von Erfolg gekrönt. 1868 begann man mit dem Bau der Bahn
zwischen Aulendorf und Waldsee, gefolgt von den Strecken Waldsee-Kißlegg und
Kißlegg-Leutkirch. Dort, am 1. September 1872, am Sedanfeiertag heute vor 144
Jahren, wurde, mit Festzug und Beflaggung, Turnvorführung und Militärkapelle,
Festreden und Böllerschuss, als „Schlussstein“ der Allgäubahn, der Leutkircher
Bahnhof eröffnet - damit hatte endlich das auch Allgäu seinen Anschluss an den „Zug
der Zeit“…
Atmo: abfahrender Dampfzug
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