SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Zeitwort 08.10.1972: Die legendäre dokumenta 5 geht zu Ende Von Paul Assall Sendung: 08.10.2016 Redaktion: Ursula Wegener Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Zeitwort können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/zeitwort.xml Autor: Es war ein ebenso avantgardistisches wie subversives unterfangen, Kunst in ihrem sozialen Beziehungsgeflecht zu sehen und zu präsentieren. Es war in der Tat eine denkwürdige, umstrittene und wohl eine der einflussreichsten Kunstausstellungen der Nachkriegszeit, die für das Verständnis von Kunst, für das sehen und das wahrnehmen von Kunst eine Zäsur darstellte. Waren die vorangegangen documentas noch mit dem Blick in die Vergangenheit, auf die klassische modere, zusammengestellt worden, so blickte die documenta 5 nach vorn und erregte damit den Unmut vieler. Szeemann und seine Mitstreiter Jean-Christoph Ammann und Bazon Brock verabschiedeten sich vom traditionellen Kunstverstehen, das die moderne Abstraktion zum Kanon erhoben hatte, und zeigten den neuen amerikanischen und europäischen Realismus. "Befragung der Realität - Bildwelten heute" lautete das documenta-5-Motto. Konzept war, Bilder als Illusion zu erkennen beziehungsweise als Illusion kenntlich zu machen. Selbstinszenierung der Künstler stand im Vordergrund, ein - unabhängig von Form, Stil oder Medium - ausgebreitetes Panorama von Ideen, Mentalitäten, Weltanschauungen, "sinnlich erfahrbare Intensitätsgeschichten". Die Frage nach dem Wirklichen und damit die Fragen nach den Erkenntnismöglichkeiten mittels Kunst. Vorbildhaft Christian Boltanski beispielsweise, der sich auf die "Suche nach der verlorenen Lebenszeit" machte, eine Rekonstruktion der eigenen Kindheit, oder, besonders umstritten, die arbeiten der Wiener Aktionisten Hermann Nitsch und Günter Brus, blutiges "Orgien- und Mysterien-Theater", das die Schmerzgrenze der Besucher strapazierte. Ebenso wie Joseph Beuys Marathonunternehmen seines "Büros der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung", in dem der Schamane des Fetts und des Filzes hundert Tage lang mit den Besuchern diskutierte, oder besser gesagt seine Thesen propagierte, "jeder Mensch ist ein Künstler", "denken ist Plastik ist Kunst" und "die Revolution das sind wir selber". Skandalträchtiger noch die den Voyeuristen in uns herauskitzelnde Aktion von Vettor Pisani, der seine nackt angekettete Schwester unter den Blicken der Zuschauer malträtierte oder der „Phantomkünstler" James Lee Bayers, der Poet des unwiderbringlichen Augenblicks, den die Kasseler Polizei von einem Baum herunterholen musste, wohin sich der in einen Riesenpapagei sich verwandelte Bayers, geflüchtet hatte. Eine Aktion, die schlaglichtartig verdeutlichte, wie viele Gesten im privaten wie im öffentlichen Raum uns bereits aberzogen, wie domestiziert wir sind, ein Protest gegen die Versachlichung und Verarmung des alltäglichen Lebens. Überhaupt war die documenta 5 eine Verabschiedung aller Ideologien, Prag 68 hallte nach, der Mai 68 in Paris und die Studentenrebellion förderten demokratische und emanzipative Impulse, die neue Ostpolitik der Regierung Brandt Scheel, Brandts Kniefall im Warschauer Ghetto, der Terror der Baader und Meinhofs wie die hysterische Reaktion darauf ließen eine Kunst am Horizont aufscheinen, die sich der Einheit von Kunst und Leben wieder verschrieb, die wieder gesellschaftliche und politische Funktionen beanspruchte, Modell wird für Selbstbestimmung und einen kreativ gestalteten Lebensvollzug. 2
© Copyright 2024 ExpyDoc