SWR2 Zeitwort

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SWR2 Zeitwort
03.06.1989
Tempo 100 auf der AVUS empört die Berliner
Von Reinhard Hübsch
Sendung: 03.06.2016
Redaktion: Ursula Wegener
Produktion: SWR 2016
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Autor:
Rund 18.000 Fahrzeuge krochen über den Kurfürstendamm, um PS- und lautstark
gegen diese Geschwindigkeitsbeschränkung zu protestieren, aufgerufen hatte dazu
der ADAC. Die knapp sieben Kilometer lange AVUS-Strecke bildete die letzte in
Westberlin, in der noch freie Fahrt für freie Bürger möglich gewesen war, und jetzt?
Vis à vis von Honeckers Arbeiter- und Bauernstaat wähnten sich Westberlins
Automobilisten und Motorradfahrer von (Zitat) "sozialistischer Gleichmacherei"
überfahren, das Tempolimit galt ihnen als "Folterwerkzeug aus der Horrorkiste"; der
CDU-Bundestagsabgeordnete Jochen Feilcke meint gar, die "Bürgerschreckkoalition"
von Sozialdemokraten und Grünen habe den Berlinern "auch die letzten Bereiche
selbstbestimmter Lebensfreude genommen". Dabei hatte Verkehrssenator Horst
Wagner (SPD) gute Argumente für das ausbremsen von Mantas und Moto Guzzis,
von Harleys und Hondas angeführt.
O-Ton Horst Wagner:
„Wir hatten in den Jahren 86 und 87, 77 bzw. 70 Verkehrsunfälle auf diesem
Abschnitt und hatten 88 eine Steigerung auf 108 Verkehrsunfälle, ein Toter, vierzehn
Schwerverletzte, 38 leicht Verletzte. Ich meine, das ist eine erschreckende Bilanz,
die beweist, dass die Berlinerinnen und Berliner und die anderen Nutzer, die auf
diesem Abschnitt die Richtgeschwindigkeiten offensichtlich nicht sehr ernst
genommen haben und gerast sind. Denn bei fast allen Unfällen war Raserei Anlass
der beklagenswerten 108 Verkehrsunfälle.“
Autor:
Daß der ADAC gegen die Senatsentscheidung opponierte, erboste wiederum
Schriftsteller wie Günter Grass und den Grafiker Klaus Staeck, die dazu aufriefen,
man möge den Verein verlassen – 400 sollen ihnen gefolgt sein. wer heute hört, wie
sich Volkes Stimme damals hochtourig zwischen Charlottenburg und Schöneberg mit
dem ADAC gegen Tempo 100 empörte, mag sich amüsieren wie Bolle.
O-Ton:
Berliner Bürger:
„Idiotisch, ist das doch Mensch, können sie doch sagen was sie wollen. In welchem
Staat leben wir denn überhaupt? Leben wir in der Freiheit oder wo?“
Autor:
Apropos Freiheit: während die Berliner Kiez-Grössen PS-Freiheit für sich
reklamierten, wurde zeitgleich in den Radio- und Fernsehprogrammen berichtet, wie
auf dem Pekinger Tian’anmen Platz tausende der chinesischen
Demokratiebewegung um ihre Freiheit gebracht wurden. BMW hatte in einem
Protestschreiben den Berliner Senat aufgefordert, die Geschwindigkeitssperre
zurückzunehmen, und die Kfz-Händler zwischen Tegel und Tempelhof gaben
rhetorisch noch einmal richtig Gas: so ein Fahrzeug müsse auch aus technischen
Gründen schon einmal hochtourig gefahren werden, wurde argumentiert, das sei nur
auf der AVUS möglich gewesen.
O-Ton Berliner Kfz-Händler:
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„Ja, da ist was dran, das muss auf hohe Drehzahl gefahren werden, damit mal alles
ausbrennt, da sind ja Rückstände, die sich an Ventilen und Kolben festsetzen und
deswegen ist es gut, wenn ein Motor mal richtig ausgefahren wird.“
Autor:
Auch am Abend dieser turbulenten Tages kam die Stadt nicht zur Ruhe – um Tempo
100 wurde nun an den Stammtischen, bei Berliner Weiße mit Schuss, bei Buletten
und Schrippen gestritten. Währenddessen lauschten 22.000 junge und junge
gebliebene auf der Berliner Waldbühne drei alten Herren, die Pop-Geschichte
geschrieben hatten: die Bee Gees, also die drei Brüder Gibb, deren ältester, nämlich
Barry Gibb mit einem Bandscheibenleiden auf die Bühne geklettert war. Zuvor hatte
sein Bruder Maurice noch erklärt, die drei Rock-Senioren würden weitermachen, Zitat
"bis wir im Rollstuhl sitzen" – auf der AVUS hätten sie damit bis heute keine
Geschwindigkeitsprobleme.
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