Anleitung zum ökonomischen Verzweifeln

Helaba Volkswirtschaft/Research
VERTRAU(D)LICH
16. Juni 2016
Anleitung zum ökonomischen Verzweifeln …
AUTOR
Dr. Gertrud R. Traud
Chefvolkswirt/
Leitung Research
Telefon: 0 69/91 32-20 24
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REDAKTION
Markus Reinwand, CFA
HERAUSGEBER
Helaba
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Hessen-Thüringen
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Telefax: 0 69/91 32-22 44
... bzw. wie man vor lauter Risikobewusstsein Chancen verpasst
Der heutige Chefvolkswirt Kommentar trägt den gleichen Titel wie vor zehn Jahren und wird auf
zahlreiche Aspekte von damals zurückgreifen. Dies geschieht nicht aus romantischen Gründen.
Auch wenn sich seitdem viel geändert hat, ist eines doch gleich geblieben: Risiken werden immer
wieder hervorgehoben, Chancen vernachlässigt oder sogar ignoriert. Im Nachhinein war 2006
nämlich ein überraschend gutes Jahr. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt wuchs um fast vier Prozent, in den USA wurden fast drei Prozent erreicht und der DAX stieg um gut 20 % an. Zum Jahresanfang 2006 standen jedoch zumeist die Risiken im Vordergrund und deshalb stellte ich im
Februar 2006 die Frage: „Was wäre, wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen in diesem Jahr
zwar weniger spektakulär wären, dafür aber umso mehr Chancen böten?“
Die Risikofaktoren von damals sind auch heute noch modern. Beim Ölpreis hat sich allerdings das
Vorzeichen geändert. Nunmehr wird in einem dauerhaft niedrigen Ölpreis eine Gefahrenquelle für
die Weltkonjunktur gesehen. Auch geopolitische Unwägbarkeiten, insbesondere im Nahen Osten,
sind nichts Neues, ebenso wie die strukturellen Ungleichgewichte in der Welt.
Das größte Risiko war seinerzeit der Immobilienmarkt in den USA. Tatsächlich ist die Blase mit
etwas Verzögerung geplatzt.
Unterschätzt wurde hingegen Deutschland, das nach schmerzhaften Restrukturierungen tatsächlich an Dynamik gewann und über eine anspringende Investitionstätigkeit positive Effekte am Arbeitsmarkt erzielen konnte.
Was wäre, wenn die Eurozone nach einer Phase eher verhaltenen Wachstums eine ähnliche Dynamik entwickeln würde? Der Jahresauftakt war schon vielversprechend. Besonders erfreulich ist
die Entwicklung der Ausrüstungsinvestitionen, die nicht nur in Deutschland Fahrt aufgenommen
haben. Auch in Frankreich und Spanien ist mittlerweile fast wieder das Niveau von Mitte 2008, also
vor der Krise, erreicht.
Die Publikation ist mit größter
Sorgfalt bearbeitet worden.
Sie enthält jedoch lediglich
unverbindliche Analysen und
Prognosen zu den gegenwärtigen und zukünftigen
Marktverhältnissen. Die Angaben beruhen auf Quellen,
die wir für zuverlässig halten,
für deren Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität wir
aber keine Gewähr übernehmen können. Sämtliche in
dieser Publikation getroffenen Angaben dienen der Information. Sie dürfen nicht
als Angebot oder Empfehlung für Anlageentscheidungen verstanden werden.
So könnte es doch sein, dass 2016 als das Jahr der positiven Überraschungen in die Geschichtsbücher eingehen wird, genauso wie 2006. Wieder einmal sind die Notenbanken gefordert. Auch
damals befand sich die Fed in einem Zinserhöhungszyklus, der jedoch bis in den restriktiven Bereich geführt wurde. Die Fed Funds Rate wurde bis Juni 2006 auf 5,25 Prozent angehoben. Dann
platzte die Immobilienblase und alles Weitere ist ja bekannt.
Derzeit sehen wir keine Immobilienblase in den USA. Die Angst vor einer möglichen Abschwächung der Wirtschaft schwingt jedoch offensichtlich auch bei der US-Notenbankchefin Janet Yellen
immer mit, so dass der Zinserhöhungszyklus diesmal sehr behutsam angegangen wird.
Aktuell schwebt auch noch das Damoklesschwert eines Brexit über Europa. Zweifelsohne würde
ein Austritt sowohl für Großbritannien, aber auch für Europa zu einer Belastungsprobe. Ich denke,
die Risiken sind mittlerweile hinreichend diskutiert und entsprechend auch im Markt antizipiert
worden. Was wäre aber, wenn die Briten in der EU blieben? Diesem Szenario messen wir immerhin eine Wahrscheinlichkeit von 60 % bei. Premierminister Cameron könnte dann gestärkt aus
dem Referendum hervor gehen und die EU hätte eine Baustelle weniger. Die Gefahr von Nachahmern, die die Union verlassen möchten, würde schwinden. Nicht auszuschließen ist sogar, dass
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ein britisches „Ja“ zu Europa die EU insgesamt stärkt. Nach außen und vor allem nach innen könnte sich die Union seit langem wieder geschlossener zeigen. Mit dem neuen „Commitment“ zur EU
könnte sich Großbritannien stärker einbringen und den zuletzt eher still gewordenen wirtschaftsliberalen Stimmen innerhalb Europas mehr Gehör verschaffen. Damit wäre zumindest ein Unsicherheitsfaktor weg. Die konjunkturelle Erholung Europas würde sich fortsetzen und der DAX erreicht bis Jahresende das in unserem Basisszenario veranschlagte Ziel von 12.000 Punkten.
So wie vor zehn Jahren bin ich auch diesmal optimistisch. Trotz aller Risiken sollten immer auch
die Chancen gesehen werden. Ansonsten würden wir ökonomisch verzweifeln.
Beitrag erschienen in „Die Welt“, 16. Juni 2016 
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