1 Manuskript radioWissen SENDUNG: 24.03.2015 09.05 Uhr/B2 AUFNAHME: STUDIO: Literatur Ab 8. Schuljahr TITEL: Die Femme fatale Ein literarisches Motiv AUTORIN: Hanna Dragon REDAKTION: Petra Herrmann REGIE: Irene Schuck TECHNIK: Regina Staerke PERSONEN: Sprecher: Andreas Neumann Zitator: Wolfgang Pregler Zitatorin: Maria Hartmann O-Töne von: Prof. Dr. Carola Hilmes, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt; Film „Der blaue Engel“. Musik, Atmo ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 MUSIK: Z9438372 223 (00‘45‘‘) SPRECHER Eine Szene aus dem Film „Der blaue Engel“, der 1930 Premiere hatte: Eine junge Varietesängerin, gespielt von Marlene Dietrich, räkelt sich lasziv auf ihrem Stuhl und wirft dem älteren, spitzbärtigen Herrn im Zuschauerraum verführerische Blicke zu. Sie verdreht ihm den Kopf. Und stürzt ihn ins Verderben. Eine Femme fatale. Eine verhängnisvolle Verführerin. Sie lockt, verspricht und entzieht sich (MUSIK ENDE). Zurück bleibt ein toter Mann. Ein Steckbrief von Carola Hilmes, Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main: O-TON CAROLA HILMES Die Femme fatale ist eine faszinierende Frau, eine schöne Frau. Denken Sie etwa an die Gemälde von Franz von Stuck, „Die Sinnlichkeit“, „Die Sünde“ oder auch „Die Leidenschaft“ und „Die Versuchung“. Wir sehen immer eine nackte Frau, gerne auch in Zusammenhang mit einer Schlange. Also sie wird jetzt dann im 19. Jahrhundert und dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt imaginiert als ideale Geliebte und zwar in dem Sinne, dass es nicht mehr die reine Frau, die Jungfrau ist. Sondern die ideale Geliebte bekommt jetzt auch sinnlich-erotisch-sexuelle Qualitäten. SPRECHER Heinrich Mann, der mit seinem 1905 erschienenen Roman „Professor Unrat“ die literarische Vorlage zu dem Film „Der blaue Engel“ liefert, greift auf dieses Frauenbild zurück. Die Handlung seines Romans spielt in Lübeck am Ende des 19. Jahrhunderts. O-Ton Film „Der blaue Engel“: Meine verehrten Damen und Herren, ich gestatte mir, Ihnen unseren heutigen Ehrengast vorzustellen: Doktor Imanuel Raat, Professor am hiesigen Gymnasium / Na und wenn schon… ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 SPRECHER Der strenge, überspitzt dargestellte Lehrer Imanuel Raat, genannt Unrat, ist ein Mann ganz nach dem Geschmack Kaiser Wilhelms. Er steht ein für… ZITATOR … eine einflussreiche Kirche, einen handfesten Säbel, strikten Gehorsam und starre Sitten. SPRECHER Um Beweise für den lasterhaften Lebenswandel seiner Schüler zu sammeln, sucht er das billige Hafenlokal „Der blaue Engel“ auf, in dem die freizügige Künstlerin Rosa Fröhlich auftritt. (MUSIK: Z9438372 223 [00‘35‘‘]) Er begegnet dort einer Frau, deren sprechender Name und das dazu passende exotische „bunte Gesicht“ im Kontrast zu seiner grauen Erscheinung stehen: ZITATOR Ihr Haar war rötlich, eigentlich rosig, fast lila, und enthielt mehrere geschliffene grüne Glasstücke. SPRECHER Als er sie in ihrer Garderobe (MUSIK ENDE) wegen ihres vermeintlich schlechten Einflusses auf seine Schüler zur Rede stellen will, gibt sie ihm selbstbewusst Kontra. ZITATOR Sie war etwas Neues. Sie war eine fremde Macht und augenscheinlich fast gleichberechtigt. SPRECHER Die Künstlerin Fröhlich schert sich nicht um bürgerliche Konventionen; ihre erotischen Reize trägt sie offen zu Schau. Unrat macht die „angstvolle Entdeckung“, ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 4 ZITATOR dass ihr zwischen den Maschen eines schwarzen Netzes blau hervorschimmerndes Seidenkleid nicht einmal bis unter die Achsel reichte und dass … in der Höhle unter ihrem Arm etwas Blondes erschien. SPRECHER Von ihrer unverstellten Sinnlichkeit in den Bann gezogen sucht er sie täglich im „Blauen Engel“ auf. Vom Tyrannen im Klassenzimmer entwickelt er sich zum ergebenen Diener in ihrer Garderobe. ZITATOR Er ordnete die Toilettengegenstände, suchte die saubersten Unterröcke und Höschen hervor, legte, was zu flicken war, auf einen Stuhl abseits… Er verstand bald, seine grauen Finger ganz spitz zu machen und die Knoten an ihr damit aufzulösen. SPRECHER Weil er die „Würde des Erzieherstandes“ nicht wahrt, wird er aus dem Schuldienst entlassen. Doch seine früheren Werte zählen für ihn ohnehin nicht mehr. Durch Rosa wird er sich seiner tief verdrängten sinnlichen Natur bewusst. ZITATOR Auf seine grauen Wangen kamen, von beglückender Tätigkeit, jetzt meistens rote Flecken. Er schlief des Nachts gut und lebte gefüllte Tage. SPRECHER Das Wesen der Femme fatale ist ambivalent: Sie beschert dem Mann ein Höchstmaß an Liebeserfüllung… bevor sie ihn zu Fall bringt. ZITATORIN ROSA FRÖHLICH Ich wer Sie doch nich laufen lassen - Alterchen. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 SPRECHER Für Rosa ist Professor Unrat zunächst als ein finanziell besser situierter, allein stehender Herr interessant. Die Beziehung zu ihm soll ihr den Ausbruch aus dem Rotlichtmilieu und ihrem Kind eine bessere Zukunft ermöglichen. ZITATORIN ROSA FRÖHLICH Das is ja man die glänzende Außenseite (…) Drinnen gibt’s nichts als graues Elend. SPRECHER Unrat verspricht ihr, sie „durchzubringen“. Er zahlt ihren Unterhalt und etikettiert die Liaison, in der er die Rolle des Freiers übernimmt, als Liebe. Worauf konsequenterweise die Eheschließung folgt. Rosa will schicke Kleider tragen und in teuren Hotels speisen. Nach zwei Jahren Ehe ist er finanziell ruiniert. Und ein Gespött der Lübecker Gesellschaft. (MUSIK: Z9438372 223 [00‘20‘‘]) Wenn du mich liebst, bist du erledigt, sagt Carmen, die attraktive Asoziale, die Don José um seine Ehre bringt. Eine Femme fatale hat viele Gesichter. Ihre Ahnfrauen sind in allen literarischen Ecken und Epochen anzutreffen - bis hin zur Antike. Zum Beispiel die Sirenen, die mit ihrem Gesang Männer um den Verstand bringen: MUSIK: Z9367647 008 (00‘30‘‘) ZITATORIN SIRENE Komm, besungener Odysseus, du großer Ruhm der Achäer! Lenke dein Schiff an Land und horche unserer Stimme. Denn hier steuerte noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber, Eh er dem süßen Gesang aus unserem Munde gelauschet; (…) MUSIK ENDE SPRECHER Jahrhunderte später wird das wunderbare Singen der Sirenen zum Gegenstand romantischer Lyrik. Clemens von Brentano erschafft 1801 die Loreley, deren ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 6 Liebeszauber Männer ins Verderben lockt. Ein Fluch, unter dem sie auch selbst leidet. Am Ende stürzt sie sich aus Verzweiflung von einem Felsen in den Rhein. (MUSIK: C5040380 023 [01‘00‘‘]) Heinrich Heines ironische Bearbeitung dieses Motivs aus dem Jahr 1824 ist durch die Vertonung von Friedrich Silcher zum Volksgut geworden: Seine Loreley sitzt auf dem - später nach ihr benannten Rheinfelsen bei St. Goar und kämmt ihr „goldenes Haar“: ZITATOR Sie kämmt es mit goldenem Kamme Und singt ein Lied dabey; Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodei. SPRECHER Wegen Loreleys Gesang vergessen die Seeleute ihre wichtigste Aufgabe: Den Kurs zu halten. Ihre Boote zerschellen an den Felsen und die Schiffer gehen mit den Wracks unter. (MUSIK ENDE) Die Loreley verkörpert die romantische Sehnsucht nach Beseelung der Natur. Und ist zugleich ein Sinnbild für den Untergang als bittersüße Erfüllung. Anders als die Rheinschiffer schafft es Odysseus, dem Gesang der Sirenen zu widerstehen: Er verklebt in weiser Voraussicht die Ohren seiner Kameraden mit geschmolzenem Wachs. Und lässt sich von ihnen am Schiffsmast mit Seilen fesseln. MUSIK: Z9367647 008 (00‘30‘‘) ZITATOR ODYSSEUS Also sangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen Fühlt ich, weiter zu hören und winkte den Freunden Befehle, Meine Bande zu lösen; doch hurtiger ruderten diese… Legten noch mehrere Fesseln mir an und banden mich stärker. Also steuerten wir an den Sirenen vorüber, und leiser, Immer leiser verhallte der Singenden Lied und Stimme. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Literaturprofessorin Carola Hilmes: O-TON CAROLA HILMES Die Vorstellung, dass die Frau als Verführerin immer auch ein bedrohliches Potential hat, das ist ja relativ alt. Die Verklärung der Frau, die Idealisierung des Weiblichen in der Figur der Maria kommt ja sozusagen erst später. Durch die Geschichte hindurch können wir aber beide Formen des Weiblichen immer wieder finden. Also wenn wir die Heilige vergleichen wollen, würde mir die Hexe einfallen, weil in beiden Fällen handelt es sich ja dann um reale Frauen, denen man in religiöser Hinsicht unterschiedliche Funktionen zuweist. Die Eine, die Heilige ist im engen Kontakt zu Gott und die Hexe ist im engen Kontakt zum Teufel. SPRECHER In der Kunst des 19. Jahrhunderts findet diese Einteilung ihre spezifische Ausprägung in der dämonischen Femme fatale und ihrem - insbesondere von der Romantik geprägten – Gegenbild (MUSIK: CD428170 104 [00‘40‘‘]): Der ätherischen, zur Heiligen erhobenen Femme fragile. Züge einer solchen zerbrechlichen Idealfigur trägt die selbstlose, an Schwindsucht leidende „Kameliendame“ von Alexandre Dumas, bekannt auch als „La Traviata“ aus Giuseppe Verdis Oper. Eine Edelkurtisane, die auf das Zusammenleben mit ihrem geliebten Armande verzichtet, um seine Zukunft durch die unehrenhafte Beziehung nicht zu gefährden. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Goethe, Vertreter der Weimarer Klassik, lässt sich von der Schaueromantik inspirieren und schreibt 1797 ein „vampyrisches Gedicht“, die Ballade „Die Braut von Korinth.“ Mit weißem Schleier und Gewand betritt diese nächtens das Zimmer eines Jünglings, dem sie einst versprochen war. Von ihrer Erscheinung fasziniert, hat er nur ein Ziel vor Augen eine Liebesnacht mit ihr. Ihre Warnungen… ZITATORIN BRAUT VON KORINTH Kalt wie Eis ist das Liebchen, das du dir erwählt. SPRECHER überhört er. Und nimmt sie ZITATOR von der Liebe Jugendkraft durchmannt SPRECHER in seine „starken Arme“: ZITATOR Hoffe doch bei mir noch zu erwarmen, Wärst du selbst mir aus dem Grab gesandt! ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Das weibliche Schreckbild wird jetzt zum Wunschbild. ZITATORIN SALOME Du wolltest mich deinen Mund nicht küssen lassen, Jochanaan. Jetzt werde ich ihn küssen. Ich werde mich mit meinen Zähnen hineinbeißen, wie man in eine reife Frucht beißt. SPRECHER So spricht Salome in dem gleichnamigen Stück von Oscar Wilde zu dem abgeschlagenen Kopf von Jochanaan, wie hier Johannes der Täufer genannt wird. Wilde schreibt den Einakter 1891 für die damals berühmte Schauspielerin Sarah Bernhardt. Doch die Aufführung des Stückes wird von der Zensur verboten (MUSIK: C5069330 023 [01‘00‘‘]). Heute gehört die darauf beruhende Oper von Richard Strauss zum Repertoire der Opernhäuser in aller Welt. Wilde greift auf ein Bibelmotiv zurück, wandelt es um und erschafft mit der Figur der Salome den Inbegriff der Femme fatale: Grausam. Berechnend. Vampirisch. Und: Im Gegensatz zur Rosa Fröhlich gezielt destruktiv in ihrem Handeln. Im Fin de Siècle erfährt die Femme ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 10 fatale ihre Blütezeit. Die Literaturforschung führt häufig die Konjunktur des verderblichen Weibes auf die Frauenbewegung im 19. Jahrhundert zurück. Und sieht darin die Antwort der Männer auf das Erstarken der Frauen. Eine Meinung, die die Frankfurter Literaturprofessorin Carola Hilmes nicht teilt. MUSIK ENDE O-TON CAROLA HILMES Also die Femme fatale ist ja kein Realtypus des Weiblichen, sondern so eine Imaginationsfigur. Also insofern finde ich einen Rückbezug auf die reale Geschichte schwierig. Ich glaube, es ist besser, wenn man versucht, sich auf so einer mentalitätsgeschichtlichen Ebene zu bewegen. Und da haben wir grosso modo im 19. Jahrhundert die Philosophie des Pessimismus. Wir haben Darwin, der natürlich jetzt den Menschen als Krönung der Schöpfung doch stark demontiert, indem er ihn in die Reihe mit dem Affen stellt. Wir haben dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts das, was man eine „Krise der Männlichkeit“ nennt. Und starke Frauen haben natürlich dann Konjunktur, wenn sich Männer schwach fühlen. SPRECHER Das 19. Jahrhundert ist vom Fortschrittsglauben geprägt, dem der große Börsenkrach von 1873 ein Ende setzt. Die jungen Männer fühlen sich verweichlicht gegenüber ihren Ahnherren, die sich in der Zeit der Industrialisierung hochgearbeitet haben. O-TON CAROLA HILMES Wir haben es zum Ende des 19. Jahrhunderts zu tun mit einer sehr erfolgreichen Generation von Gründervätern, die sind gut situiertes Bürgertum, und dann haben wir es eher mit den gelangweilten und orientierungslosen Söhnen zu tun. Das ist sicherlich auch ein Indikator für das, was ich Krise der Männlichkeit genannt habe. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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ZITATOR Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften, zu locken, zu verführen, zu vergiften. SPRECHER Die Ambivalenz von Faszination und Bedrohung im Fin de Siècle gründet in den damals kursierenden wissenschaftlichen Theorien zum Wesen der Frau, die sie als unverständlich, geheimnisvoll und gefährlich etikettieren. Der Mann sehnt sich nach einer übermächtigen Frau, und hat zugleich Angst, von ihr verschlungen zu werden: Diese Bedrohung durch die Sehnsuchtsgestalt Frau verkörpert auch Salome von Oscar Wilde. (MUSIK: C5069330 023 [02‘10‘‘]) Der Hof des Herodes spiegelt die künstliche Welt der Décadence mit ihrer schaurig-schwülen Atmosphäre. ZITATOR Wie schön ist die Prinzessin Salome heut Abend. (…) Sie ist wie eine weiße Rose in einem Spiegel von Silber. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Doch als sie sich als Tochter der Herodias zu erkennen gibt, weist er sie von sich. ZITATOR Zurück, Tochter Babylons! Durch das Weib kam das Übel in die Welt. SPRECHER Salome versucht dennoch, sich dem Asketen zu nähern. Sie preist sein Haar und seinen Mund. Und versucht ihn zu küssen. ZITATOR Hinweg, Tochter Sodoms! Rühre mich nicht an. Entweihe nicht den Tempel des Herrn. SPRECHER Jochanaans Verachtung bewirkt, dass Salome ihn umso stärker begehrt. SPRECHER Damit sie bekommt, was sie will, macht sie das, was ihr Stiefvater von ihr erwartet: Sie tanzt für ihn den erotischen „Tanz der sieben Schleier“. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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O-TON CAROLA HILMES Alle Femme fatal-Figuren des Fin de Siècle sind nicht nur die handlungsmächtigen, attraktiven Frauen. Sondern das sind auch immer die, die am Ende der Geschichte für das, was dann passiert ist - von dem ich gar nicht weiß, ob sie dafür immer so die Schuld tragen - zur Rechenschaft gezogen werden. Und meistens werden sie getötet. SPRECHER Carmen wird von Don José erdolcht. Lulu sinkt zur Straßendirne herab und wird von Jack the Ripper ermordet. Und auch die liebeshungrige Salome wird durch den Urteilsspruch von Herodes zum Opfer: ZITATOR Tötet dieses Weib! SPRECHER Das ist das eigentlich Fatale an der Femme fatale: Ihre Macht ist auf Sinnlichkeit beschränkt. Und dadurch stets vom männlichen Blick abhängig. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Sondern: Der Spießer wird entblößt: Worüber er sonst die Nase rümpft, lebt er hier aus. Als… ZITATOR Herrscherin über Gut und Böse, eine angebetete Verderberin… SPRECHER entlarvt Rosa Fröhlich die Doppelmoral des wilhelminischen Bürgertums. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de
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