Was ist guter inklusiver Unterricht? Gemeinsames Lernen - WDR 5

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Leonardo - Wissenschaft und mehr
Sendedatum: 07. Januar 2014
Was ist guter inklusiver Unterricht?
Gemeinsames Lernen
von Marcus Schwandner
Sprecher:
Etwa sechs bis sieben Prozent aller Schüler haben Förderbedarf, sind also geistig
behindert, haben Lernschwächen oder sind extrem auffällig. Bislang wurden die
meisten in Förderschulen unterrichtet. Die Eltern haben nun aber freie Schulwahl und
immer mehr Kinder mit Förderbedarf besuchen Regelschulen. Diese Kinder
brauchen anderen Unterricht und andere Materialien als ihre Klassenkameraden.
Für Gerd Borgmann ist das nichts Neues. Er ist Sonderschullehrer und unterrichtet
an der Gesamtschule in Köln Holweide. Schon seit Jahren lernen dort behinderte
und nicht behinderte Kinder gemeinsam. Starke Schüler machen schwierige
Aufgaben und schwache Schüler die einfachen.
O-Ton:
„Schon das Mathebuch gibt in guten Teilen Aufgaben in drei verschiedenen
Schwierigkeitsgraden her. Das ist gar nicht das Problem. Was dazu kommt,
zum Beispiel ein autistischer Schüler, da kann das sein, dass ich in Deutsch
einfach aufpassen muss, weil der keine Metaphern versteht oder
beziehungsweise Metaphern erst wie Fremdwörter Stück für Stück lernen
muss.“
Sprecher:
Der Unterricht sollte ein gemeinsames Thema haben. Dazu gibt es verschiedene
Aufgaben. Und verschiedene Erklärungen. So dass jeder Schüler, so gut er kann, an
diesem Thema lernt.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2014
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
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O-Ton:
„Wenn ich jetzt in Mathe in der neun bin und habe Algebra und es geht ums
aufstellen von Gleichungen, dann ist so ein ganz klassisches Beispiel einfach
Handytarife. Da kann ich sagen, Anzahl der Minuten ist X und dazu kommt
die Grundgebühr. Das gleiche Thema, was kostet mich eigentlich mein
Telefon, ist für einen Menschen mit einer umfassenden Lernbehinderung oder
mit einer geistigen Behinderung auch interessant. Ich muss für den dann aber
ganz andere mathematische Sachen machen. Das heißt, die einen haben
das ganz zentrale Thema in Mathe, Aufstellen von Gleichungen und die
anderen lernen dann an der Stelle mehr über die Handytarife.“
Sprecher:
Wobei der Lernerfolg an sich nicht das einzige Ziel ist, betont Professor Friedrich
Linderkamp, Bildungsforscher an der Uni Wuppertal.
O-Ton:
„Bei diesen Kindern geht es ganz besonders darum, und das ist auch eine
wesentliche Idee der Inklusion, die soziale Teilhabe zu gewährleisten und das
bedeutet für Unterricht eben auch, dass es wichtig ist, dass ich als Pädagoge
die Klasse als Gruppe definiere und Sorge dafür tragen muss, dass jedes
einzelne Kind Teil dieser Gruppe ist und mit seiner Situation noch zufrieden
ist.“
Sprecher:
Das bestätigt auch Lehrer Gerd Borgmann – nach elf Jahren Praxiserfahrung. Für
guten gemeinsamen Unterricht sei die Haltung der Lehrer entscheidend – und damit
auch ihre Einstellung gegenüber den Schülern mit Förderbedarf.
O-Ton:
„Zunächst mal muss man einfach davon ausgehen, dass Heterogenität in der
Schülerschaft etwas Schönes ist und kein Problem! Das heißt, man muss
ganz genau gucken, was können die Schülerinnen und Schüler, welchen
Zugang haben die zum Thema und muss dann gucken, dass man für den
Unterricht in weiten Teilen, das klappt nicht in allen Stunden, einen
gemeinsamen Gegenstand findet, von dem aus die Schüler dann das lernen
können, was für sie daran wichtig und wesentlich ist.“
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2014
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Sprecher:
Der Unterricht wird sich ändern müssen. Bislang sollen Schüler überwiegend
selbstentdeckend lernen. Der Lehrer erklärt also nicht, was gelernt werden soll,
sondern er stellt gute Aufgaben. Und die Kinder entdecken dabei etwas Neues. Das
funktioniert aber bei lernschwachen oder unruhigen, unaufmerksamen Kindern nicht
immer. Bildungsforscher Friedrich Linderkamp:
O-Ton:
„Im Fall von Lernschwächen, ich denke an spezifische Lernstörungen, wie
Dyskalkulie oder Lese-Rechtschreibschwäche, da wissen wir beispielsweise,
dass Techniken der direkten Instruktion ganz besonders wichtig sind. Das
bedeutet im Wesentlichen, dass sie die Aufgaben für die Kinder sehr fein
strukturieren und sehr klar untergliedern, dass sie sehr anleitend sind, dass
sie sehr unterstützend sind und dass sie eben auch, und das ist vielleicht ein
bisschen gewöhnungsbedürftig für einen modernen Lehrer, eine moderne
Lehrerein, dass sie eben sehr viel vorgeben.“
Sprecher:
In einer inklusiven Klasse sind also Schüler, die alleine lernen können und andere,
denen der Lehrer alles mehr oder weniger vorgeben muss. Vielleicht sind auch
welche dabei, die kaum Sprache verstehen, die ganz anders angeleitet werden
müssen oder über Tische und Bänke springen. Kann ein Lehrer das überhaupt
schaffen?
O-Ton (Borgmann):
„In vielen Phasen kann eine Person das alleine machen und auch alleine
managen. Aber man schafft es nicht hinter so vielen Schülern, 26, 27 in einer
Klasse an der Gesamtschule mit gemeinsamen Unterricht, allen gerecht zu
werden, wenn man das immer alleine machen würde. Sinnvoll fände ich
einen Grad an Doppelbesetzung von etwa zwei Drittel.“
Sprecher:
Die Gewerkschaften fordern sogar zwei Lehrer pro Klasse, einen ‚normalen’ und
einen Sonderpädagogen. Friedrich Linderkamp denkt eher an Teams.
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O-Ton:
„Dazu gehören reguläre Lehrer, dazu gehören Sonderpädagogen, dazu
gehören nach meiner Einschätzung durchaus auch Sozialarbeiter.“
Sprecher:
Denn gerade verhaltensauffällige Kinder kommen häufig aus Familien, die viele
verschiedene Probleme haben.
O-Ton:
„Gerade in dem Bereich, der am meisten alarmierend ist, wo die größten
Sorgen bestehen, nämlich der Bereich soziale, emotionale Entwicklung, die
Kinder mit Verhaltensstörungen, die hyperaktiven Kinder usw., die sorgen uns
ja, dass wir meinen, die sprengen uns die Klassen.“
Sprecher:
Einige dieser Kinder können gar nicht alleine zur Schule gehen. Sie haben, wie auch
manche geistig behinderten Schüler, einen Erwachsenen dabei, der in der Klasse
neben ihnen sitzt. Viele Lehrer fühlen sich angesichts dieser Herausforderung
überfordert.
O-Ton:
„Andererseits ist es mir auch sehr wichtig zu betonen, dass wir nicht typisch
deutsch jetzt das Kind mit dem Bade ausschütten und sagen, Inklusion
bedeutet alle zusammen, alle in einen Sack und dann müssen wir mit der
Masse der heterogenen Schüler umgehen. Ich denke natürlich, dass es sich
in vielen Kontexten sehr empfiehlt, dass wir da auch wieder in Kleingruppen
Förderung machen.“
Sprecher:
Die sehr verschiedenen Kinder einer Klasse müssen also nicht immer alle
gemeinsam unterrichtet werden.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2014
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