1 Manuskript radioWissen SENDUNG: 17.03.2015 09.05 Uhr AUFNAHME: STUDIO: MUSIK ab 8. Schuljahr TITEL: György Ligeti Die Zukunft der Musik AUTOR: Frank Halbach REDAKTION: Petra Herrmann REGIE: Frank Halbach TECHNIK: Christiane Gerheuser-Kamp PERSONEN: ERZÄHLERIN: ZITATOR Musik Atmo Christiane Roßbach Wolfgang Pregler Zuspielungen Im O-Ton: György Ligeti - Besondere Anmerkungen: ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 MUSIK Atmosphères 1. O-Ton Ligeti I (01:30) Jeder Komponist geht vom Nullpunkt aus, wir sind in einer Situation, wo man nicht einfach ein Handwerk erlernt, und es brav so macht, wie die früheren Meister es gemacht haben, heute sind wir fast in einer Situation, wie Descartes war in der Philosophie. Er sagte: ich kenne keine Philosophie, ich gehe zum Nullpunkt zurück und baue aus dem Nichts mein System auf. MUSIK Atmosphères kurz frei ERZÄHLERIN György Ligeti "der Erneuerer der Neuen Musik", einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts - und einer der wenigen Vertreter einer radikal innovativen Musik, der dem Namen und seinem Klang nach einem breiteren Publikum bekannt ist. MUSIK ENDE 2. O-Ton Ligeti II (20:48) Man müsste die Frage stellen, woran das liegt. ERZÄHLERIN Nun, sicherlich daran, dass der berühmte Regisseur Stanley Kubrick etliche von Ligetis Kompositionen in seinen Filmen verwendet hat. Am prominentesten wohl in seinem Science-Fiction-Streifen "2001: Odyssee im Weltraum"… MUSIK Lux Aeterna …neben Richard Strauss, und Johann Strauß bedient sich Kubrick bei Ligeti. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 ZITATOR Ligeti soll froh sein, dass er durch diesen Film in den USA bekannt geworden ist. ERZÄHLERIN Meint die Filmgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer. Aber Ligeti ist nicht froh. Er hatte der Verwendung seiner Kompositionen - "Atmosphères"," Aventures", "Lux Aeterna" nämlich niemals zugestimmt. Nachdem das Kind aber schon in den Brunnen gefallen war, wollte Ligeti wenigstens ein Honorar. Er zieht vor Gericht. Streitwert des Prozesses: 30 000 Dollar. ZITATOR Sie werden Ihren Prozess in Frankfurt, Wien und London gewinnen. In Los Angeles aber können wir ihn 20 Jahre dauern lassen. Wollen Sie lieber jetzt 1000 Dollar? ERZÄHLERIN Schließlich zahlt MGM ganze 3000 Dollar. Das Budget des Films waren 10,5 Millionen, er spielte über 190 Millionen Dollar ein. MUSIK ENDE 3. O-Ton Ligeti IV (43:15) Es besteht kein eindeutiger Zusammenhang von Ursache und Wirkung. MUSIK Poème Symphonique für 100 Metronome ERZÄHLERIN Die musikgeschichtliche Bedeutung Ligetis hat freilich nichts mit Stanley Kubrick zu tun. Das Charakteristische seines Schaffens ist die Revolution. Unaufhörlich. Beinahe mit jedem Werk versucht er etwas Neues, jeder Komposition gibt er eine Unverwechselbarkeit, Eigenheit. Zugleich gibt es Konstanten. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 4 Eine dieser Konstanten ist die fortwährende Beschäftigung mit Zeit und Raum, Prozesshaftigkeit und Gegenständlichkeit in der Musik. Musik wird bei ihm zu… ZITATOR …gefrorener Zeit, zum Gegenstand des Imaginären… ERZÄHLERIN …bis zu dem Ziel, die Zeit zu bannen, ihr Vergehen aufzuheben. ZITATOR Ligeti lässt nicht zuletzt die konventionelle, musikalische Zeitwahrnehmung weit hinter sich. Sie wird nicht länger als eine Abfolge von Ereignissen, Gegensätzen und Entsprechungen wahrnehmbar, sondern tendiert deutlich zum Objekthaften. MUSIK ENDE ERZÄHLERIN analysiert der Musikpublizist Dirk Wieschollek. MUSIK Violin-Konzert II ERZÄHLERIN György Sándor Ligeti wurde am 28. Mai 1923 in Siebenbürgen geboren. Seine Eltern sind jüdischer Herkunft, aber nicht sonderlich religiös. In Klausenburg will er nach der Schule Mathematik und Physik studieren. Aber daraus wird nichts… ZITATOR Nicht für Juden! ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 ERZÄHLERIN Ligeti studiert stattdessen Musiktheorie und Orgel zunächst am Klausenburger Konservatorium. Dann in Budapest. Dort wird er 1944 zum Arbeitsdienst in die ungarische Armee abkommandiert und gerät so schließlich in die Gefangenschaft der Sowjets. Er hat Glück: während eines Bombenangriffs kann er fliehen. Glück hat auch seine Mutter Ilona: sie überlebt Auschwitz. MUSIK ENDE Kein Glück haben sein jüngerer Bruder Gábor und sein Vater Sándor. Gabor wird im März 1945 im KZ Mauthausen, Sandor im April 1945 im KZ Bergen-Belsen von den Nazis ermordet. György lebt weiter. Er schließt sein Studium 1949 ab, wird schließlich Dozent für Musikanalyse und Harmonielehre in Budapest, das jetzt vom Stalinismus geprägt ist. Ligeti spricht darüber später von einer "Kultur des geschlossenen Zimmers", ist entsetzt, dass die Impressionisten des Budapester Kunstmuseums einfach abgehängt und nicht systemkonforme Bücher - u.a. "Don Quijote" und "Winnie the Pooh"! eingestampft werden. Ein Klima, in dem "für die Schublade zu produzieren als Ehre galt." Erst die Nazis, dann die Stalinisten. Ligeti hasst fortan Ideologien und Diktaturen - das prägt auch seine Kunstauffassung: keine Kunsttheorie, keine Message, sondern der Versuch immer neue Dinge auszuprobieren. Und das heißt in letzter Konsequenz nicht: ZITATOR Épater le Bourgois - den Bürger schrecken ERZÄHLERIN sondern: ZITATOR Épater l'Avantgarde - die Avantgarde schrecken. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 6 4. O-Ton Ligeti III (03:15) Nach 20 Jahren wurde die Avantgarde alt. Das hat Adorno schon rechtzeitig diagnostiziert. Irgendwie sind die Stücke, ein bestimmter musikalischer Habitus des stark Konstruktiven und noch nie Dagewesenen, also etwas Wesentliches für die Avantgarde, das hat doch seine Neuartigkeit stark eingebüßt. ERZÄHLERIN Das heißt nicht, dass Ligeti nach seiner Emigration - er flieht 1956 nach Ende des Ungarischen Volksaufstandes mit seiner späteren Frau Vera Spitz über Wien nach Köln - nicht jegliche Form von Avantgarde wie ein Schwamm aufgesogen hätte. 5. O-Ton Ligeti III (03:40) Und ich selbst, ich gehöre doch zu dieser Generation, die das alles nicht nur mitgemacht, sondern auch gemacht hat, wenn ich so unbescheiden sein darf. 02:40 Nun muss etwas ganz Anderes kommen. ERZÄHLERIN Ligeti möchte, als er in Köln ab 1957 im Studio für elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks arbeitet, erst einmal nichts mehr zu tun haben mit seinen "ungarischen" Werken, in denen er Bartok nachgefolgt war - und sich mit ihm kritisch auseinandergesetzt hatte. Er lernt Karlheinz Stockhausen, den Pionier der elektronischen und der seriellen Musik, kennen. MUSIK Glissandi Serielle Musik : eine Weiterentwicklung von Arnold Schönbergs Zwölftontechnik, komponiert nach klaren Regeln. Tondauer, Tonhöhe, Lautstärke basieren auf Zahlenreihen. So soll Unstimmigkeit und der Einfluss subjektiven Geschmacks vermieden werden. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Ich will jetzt nicht die Geschichte umschreiben, ich sage nicht, dass das nicht gültig war, nein das hat eine ganz, ganz große Bedeutung, sowohl die serielle Musik als auch die Richtung Cage… ERZÄHLERIN John Cage, der statt Zahlenreihen auf den Zufall setzt, um "nicht-intentionale" Ereignisse zu produzieren. Er wendet sich von durch den Verstand verbrauchten Klängen ab, setzt dafür auf Geräusche, Alltagsklänge. Aber Ligeti erkennt die inneren Widersprüche sowohl der Seriellen Musik als auch der von John Cage. Ligetis Eindruck: Zufallsfolgen und absolut konstruierte Musik ähneln sich oft auf fatale Weise. ZITATOR Der ebenso scharfsinnige wie wahrhaft originale und bedeutende ungarische Komponist György Ligeti hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass im Effekt die Extreme der absoluten Determination und des absoluten Zufalls zusammenfallen. Statistische Allgemeinheit wird zum ichfremden Gesetz der Komposition. ERZÄHLERIN analysiert Theodor W. Adorno die Dialektik von Berechnung und Zufall. Ligetis Ausweg: ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 8 Er verwendet in erster Linie eine Abfolge von Klängen, die einer eher schlichten Dramaturgie folgen: Crescendo, lauter, Decrescendo, leiser, sie werden verdichtet, verdünnt usw. MUSIK Atmosphères So in Atmosphères von 1961, die komponierte Abkehr von einer strukturell gedachten Kompositionsweise. Eines der zentralen Werke Ligetis. Rhythmus und Melodie verschmelzen zu einem massiven Klang. Nicht nur, dass Stanley Kubrick sich des Stücks bemächtigt, zeigt seine Publikumswirksamkeit. Bei der Uraufführung auf den Donaueschinger Musiktagen, ist das Auditorium so begeistert, dass Atmosphères wiederholt werden muss. 7. O-Ton Ligeti IV (16:30) Einzelne Instrumente setzen ein, andere setzen aus, wieder andere Instrumentalstimmen springen plötzlich von einem liegenden Ton zu einem anderen. Alle diese diskreten Veränderungen sind aber einzeln nicht hörbar, da sie in relativ großer Anzahl gleichzeitig oder in unmittelbarer Sukzession erfolgen, und einander gegenseitig verdecken. MUSIK Atmosphères hoch ERZÄHLERIN Eine Cluster-Komposition. Cluster sind Klanggebilde mit nahe beieinander liegenden Tönen - gewissermaßen Akkorde ohne Zwischenräume. MUSIK HOCH Die selbstständigen Einzelstimmen verschmelzen zu einem nicht mehr trennbaren Gesamtklang, ein Klang, der sich ständig wandelt. Der Takt ist für den Charakter des ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 9 Stücks selbst unwichtig, sondern nur wesentlich, um eine zeitliche Gliederung zu haben und die Einzelstimmen synchron zu halten. ZITATOR Alles steht ja völlig still; während der zu einer Ewigkeit zerdehnten neun Minuten, die das Stück dauert, geschieht überhaupt nichts! MUSIK ENDE ERZÄHLERIN Auch wenn der Musikkritiker, der diese Zeilen schreibt u.a. noch von "völlig missglückt" spricht, bezeichnet Ligeti die Kritik "als die schönste seines Lebens." 8. O-Ton Ligeti IV (20:27) Durch sprunghafte Veränderungen der einzelnen klanglichen Bestandteile ist es möglich nicht nur globale Bewegungen des resultierenden Komplexes zu erzielen, sondern sogar den Eindruck des Stillstandes zu erwecken. 21:07 Nach und nach bleiben Instrumentalstimmen aus, wie Großstadtlichter, die nacheinander verlöschen. Aus großer Entfernung gesehen verschwimmen die einzelnen Lichter zu einer einzigen leuchtenden Wolke, die sich allmählich auflöst. ERZÄHLERIN Die Technik, ohne Zeit strukturierende Formen wie Rhythmus und Melodie zu komponieren, überträgt Ligeti auch auf die Orgel: "Volumina" von 1962 variiert einfach Klangfarben, ein schwebender Gesamtcharakter entsteht… ZITATOR Hier gibt es Rhythmus nur als Fluss in der Zeit, nicht als ruckartige Zeitbewegung. Tonhöhen treten in solchen Mengen auf, dass an Melodie oder Harmonie nicht zu denken ist. Ohne diese üblichen Orientierungen wird Aufmerksamkeit für Neues frei. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 10 ERZÄHLERIN schildert der Organist, Komponist und Musikschriftsteller Gerd Zacher. MUSIK "Volumina" frei Der Beginn der Klangraum-Komposition "Volumina" ist ein Totalcluster: alle Register der Orgel sind gezogen, die komplette Tastatur gedrückt, erst dann wird die Orgel eingeschaltet. Die Musik entsteht aus dem Nichts, bis der Motor der Orgel genügend Luftdruck aufgebaut hat. Und am Ende des Stücks wird die Orgel ausgeschaltet - die Windversorgung der Pfeifen bricht nach und nach zusammen. MUSIK "Volumina" Ende ZITATOR Fünfzig Jahre war ich hellhörig, in Veröffentlichungen von und über Ligeti etwas über seine Verbindung mit GOTT zu erfahren. Sein Requiem war nicht klar. Nun warte ich also, bis ich selbst eines Tages ins Jenseits wechsle und ihm hoffentlich wieder begegne. ERZÄHLERIN sagt Karlheinz Stockhausen 2006. Requiem? Ein geistliches Werk - verfasst 19621965 - von einem Atheisten? MUSIK "Lux Aeterna" Ligetis berühmtes "Lux Aeterna" für einen 16-stimmigen a capella-Chor ist eine Auskoppelung aus seinem Requiem. Jetzt ist es also ein Vokalensemble, das schwebende Klangfelder erzeugt. Und wieder… ZITATOR …eine Auflösung des Rhythmus zugunsten des befreiten Raums. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 11 ERZÄHLERIN Aus Clustern entstehen Klangfarbenteppiche. Die Stimmen verschmelzen, lösen sich auf, genauso wie die rhythmische Struktur. Ein Klangraum unendlicher Ausdehnung entsteht. Beängstigend und befreiend…Lux Aeterna: Ewiges Licht. MUSIK "Lux Aeterna" hoch Das gefiel nicht nur Stanley Kubrick. Nach seiner Motivation, als Atheist ein Requiem zu schreiben, gestand Ligeti seinen Studenten, dass ihn Höllendarstellungen, Bilder des Jüngsten Gerichts, etwa von Pieter Breughel oder Hieronymus Bosch seit seiner Kindheit verfolgten. ZITATOR Die Mystik, die der katholischen Liturgie anhaftet, wurde hier in eine klare Haltung existentieller Bewusstheit überführt, ins Daseinshelle gehoben, ja eigentlich in konträrer Richtung zum Weltlichen hin transzendiert. Beide Werke fragen, genau wie jede Religion, nach den Rätselhaftigkeiten und Unerforschlichkeiten des Lebens, suchen aber nicht das Irrationale als unverstehbare, gottgewollte Ordnung hinzunehmen, gar als Fatum anzubeten, sondern mit offenem Blick, mit Ahnung und freier, empfänglicher Sensibilität zu durchdringen. ERZÄHLERIN schildert der Musikpublizist Ulrich Dibelius. MUSIK "Lux Aeterna" hoch Was beim Hören nicht wahrnehmbar ist: die bis ins kleinste Detail ausgearbeitete Partitur. Für jede Stimme gibt es eine präzise festgelegte Tonabfolge, die Einsätze sind auf die Sekunde genau notiert. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 12 MUSIK ENDE 9. O-Ton Ligeti IV (05:41) Auf diese Weise kommen wir vom Material als physikalische Realität - den Schallwellen - zu einem Material, das nur auf einer geistigen oder imaginären Ebene existiert. ERZÄHLERIN Der Kosmopolit Ligeti lebt ab 1969 für drei Jahre in Berlin, 1972 in Stanford, Kalifornien, wird 1973 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. 1978 kommt es in Stockholm zu einer Ligeti-Uraufführung, die sich mit einem weitern Genre der klassischen Musik auseinandersetzt: die Oper. ZITATOR Sprengt die Opernhäuser in die Luft! ERZÄHLERIN hatte der Wortführer der französischen Aventgardekomponisten, Pierre Boulez, gefordert, und lediglich der "Anti-Oper" eine Zukunft bescheinigt. Ligeti reagiert mit der Konzeption einer Anti-Anti-Oper. 10. O-Ton Ligeti III (04:23) Diese Benennung Anti-Anti-Oper ist ein bisschen ironisch gemeint, auch selbstironisch. Ich sage also, es ist keine Anti-Oper mehr, sondern eine Anti-Anti-Oper. So wie zweimal Minus, die heben sich gegenseitig auf. Also, die Gattung ist doch Oper. ERZÄHLERIN Le Grand Macabre - das große Makabre - ist der Titel der Oper. Sind die apokalyptischen Bilder Breughels schon ein persönlicher Impuls für das Requiem gewesen, so spielt "Le Grand Macabre" in einem imaginären Breughelland. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 13 11. O-Ton Ligeti III (13:03) Es spielt in einem merkwürdigem bizarr verkommenen Land, eben diesem Breughelland, ein geträumtes Alt-Flandern, wo nichts funktioniert, und die Leute trotzdem relativ glücklich leben - also Liebe machen und trinken - obwohl alles durch die Geheimpolizei kontrolliert wird, die Geheimpolizei funktioniert aber gar nicht gottseidank. Diese merkwürdig verrottete und dekadente und dennoch lebensbejahende Fantasieland, dieses Land dachte ich mit einer gewissen ironischen Schicht der Musik auch zu behandeln. ERZÄHLERIN Clusterbildungen, Reihenstrukturen, Klangflächen, comicartige Filmmusik. "Le Grand Macabre" ist… ZITATOR …eine grelle, absurde, pralle Revue, pausen- und atemlose zwei Stunden kurz. ERZÄHLERIN Der Handlung liegt "La Balade du grand Macabre" von Michel de Ghelderode, einem Meister des absurden Theaters zu Grunde. MUSIK Le Grand Macabre Das Vorspiel erklingt aus Autohupen… ZITATOR (begeistert) ein Spektakel voll griffiger Musik und nacktem Leben. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 14 ERZÄHLERIN Le Grand Macabre, Nekrotzar, entsteigt dem Grab und prophezeit die Apokalypse für "Breughelland". ZITATOR Nekrotzars leeres Grab ist der ideale Ort für Amando und Amanda, um zu… ERZÄHLERIN (unterbricht ihn) Le Grand Macabre macht sich auf den Weg zum Hof des Fürsten Go-Go… ZITATOR (begeistert) und kommt dabei beim Astrologen Astradamors und seiner Frau Mescalina vorbei, die schon den Kometen der Apokalypse beobachtet haben, aber doch mehr auf sadomasochistische Spielchen stehen und… ERZÄHLERIN (unterbricht ihn) Das überlebt Mescalina nicht. Der frisch gebackene Witwer schließt sich freudig dem Zug des Grand Macabre an. Am Hof des Fürsten warnt der Chef der Gepopo ZITATOR (besserwisserisch) also der Geheimen Politischen Polizei… ERZÄHLERIN (genervt) der Gepopo vor dem Nahen von Komet und Grand Macabre, die schon einen Volksauflauf verursacht haben… ZITATOR (freudig) Nekrotzar, le Grand Macabre, erscheint und verkündet donnernd das Ende der Welt und betrinkt sich erst einmal. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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MUSIK ENDE ERZÄHLERIN (fasst sich) Auf Nebenfiguren… ZITATOR (sie lüstern unterbrechend) …wie Spermando und Clitoria ERZÄHLERIN (wieder souverän) …kann hier getrost verzichtet werden. Gerüchte über die Proben heizen das Publikumsinteresse allerdings an. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 16 ZITATOR Erste Probenberichte aus Schweden verstärkten die Erwartungen. Das Ensemble weigerte sich, "Ficken", "Vögeln" und anderen Schweinkram zu besingen, die Sopranistin Barbro Ericson wollte weder das Wort "Schwanz' in den Mund nehmen noch sich den Hintern küssen lassen. Das Gerücht einer Porno-Oper war in der Welt. Entsprechender Zulauf bei der Premiere. ERZÄHLERIN textet Klaus Umbach 1978 im "Spiegel". So banal das Fazit der Oper auch scheint… ZITATOR Das Leben geht weiter! ERZÄHLERIN …so steht "Le Grand Macabre" doch in einer Kontinuität hinsichtlich Ligetis Auseinandersetzung mit Zeit und Tod. Und musikalisch schreibt Klaus Umbach völlig zutreffend von… ZITATOR … einer vitalen, vielfarbigen, kurzweiligen Partitur ohne intellektuelle Spröde. Von satinweichen Schmeichelklängen über virtuosen Flattersatz bis zu Brutalo-Rhythmen hat Ligeti die Mittel im Griff. Selbst wenn das Klanggefüge mit Klecksern und Tupfern mal bedrohlich dünn wird, bricht das Werk nicht ein. 12. O-Ton Ligeti III (06:33) Ich wollte etwas ganz Anderes machen, ich dachte nicht an ein griechisch antikisierendes Milieu, sondern an eine sehr stark schematisierende, im Sinne von Cartoons… ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 17 ERZÄHLERIN Und György Ligeti hat nicht aufgehört, etwas Anderes machen zu wollen. In den 1980er Jahren entwickelt sich sein Stil wieder in eine andere Richtung: er beschäftigt sich in seinen Études für Soloklavier mit rhythmischen Verwicklungen, beschäftigt sich mit exotischen Tonsystemen. György Ligeti stirbt am 12. Juni 2006 in Wien. MUSIK Lux Aeterna ZITATOR Jetzt ist sein Gesamtschaffen abgeschlossen und wir können nur dankbar sein für die entscheidenden Anstöße und Öffnungen, die sein Komponieren in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts der zeitgenössischen Musikkultur gab. Und hoffentlich für lange Jahrzehnte kreativ weiter geben wird. ERZÄHLERIN resümiert der Schweizer Komponist Klaus Huber in seinem Nachruf für Ligeti. ERZÄHLERIN und ZITATOR Fürchtet den Tod nicht, gute Leut’! Irgendwann kommt er, doch nicht heut’. Und wenn er kommt, dann ist’s soweit…. Lebt wohl so lang in Heiterkeit! MUSIK ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de
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