Bayern 2 Vorlage - Bayerischer Rundfunk

1
Manuskript
radioWissen
SENDUNG: 17.03.2015
09.05 Uhr
AUFNAHME:
STUDIO:
MUSIK
ab 8. Schuljahr
TITEL:
György Ligeti Die Zukunft der Musik
AUTOR:
Frank Halbach
REDAKTION:
Petra Herrmann
REGIE:
Frank Halbach
TECHNIK:
Christiane Gerheuser-Kamp
PERSONEN:
ERZÄHLERIN:
ZITATOR
Musik
Atmo
Christiane Roßbach
Wolfgang Pregler
Zuspielungen
Im O-Ton: György Ligeti -
Besondere Anmerkungen:
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Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich!
© Bayerischer Rundfunk 2015
Bayern 2-Hörerservice
Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42
Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de
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MUSIK Atmosphères
1. O-Ton Ligeti I (01:30)
Jeder Komponist geht vom Nullpunkt aus, wir sind in einer Situation, wo man nicht
einfach ein Handwerk erlernt, und es brav so macht, wie die früheren Meister es
gemacht haben, heute sind wir fast in einer Situation, wie Descartes war in der
Philosophie. Er sagte: ich kenne keine Philosophie, ich gehe zum Nullpunkt zurück und
baue aus dem Nichts mein System auf.
MUSIK Atmosphères kurz frei
ERZÄHLERIN
György Ligeti "der Erneuerer der Neuen Musik", einer der bedeutendsten Komponisten
des 20. Jahrhunderts - und einer der wenigen Vertreter einer radikal innovativen Musik,
der dem Namen und seinem Klang nach einem breiteren Publikum bekannt ist.
MUSIK ENDE
2. O-Ton Ligeti II (20:48)
Man müsste die Frage stellen, woran das liegt.
ERZÄHLERIN
Nun, sicherlich daran, dass der berühmte Regisseur Stanley Kubrick etliche von Ligetis
Kompositionen in seinen Filmen verwendet hat. Am prominentesten wohl in seinem
Science-Fiction-Streifen "2001: Odyssee im Weltraum"…
MUSIK Lux Aeterna
…neben Richard Strauss, und Johann Strauß bedient sich Kubrick bei Ligeti.
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ZITATOR
Ligeti soll froh sein, dass er durch diesen Film in den USA bekannt geworden ist.
ERZÄHLERIN
Meint die Filmgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer. Aber Ligeti ist nicht froh. Er hatte der
Verwendung seiner Kompositionen - "Atmosphères"," Aventures", "Lux Aeterna"
nämlich niemals zugestimmt. Nachdem das Kind aber schon in den Brunnen gefallen
war, wollte Ligeti wenigstens ein Honorar. Er zieht vor Gericht. Streitwert des
Prozesses: 30 000 Dollar.
ZITATOR
Sie werden Ihren Prozess in Frankfurt, Wien und London gewinnen. In Los Angeles
aber können wir ihn 20 Jahre dauern lassen. Wollen Sie lieber jetzt 1000 Dollar?
ERZÄHLERIN
Schließlich zahlt MGM ganze 3000 Dollar. Das Budget des Films waren 10,5 Millionen,
er spielte über 190 Millionen Dollar ein.
MUSIK ENDE
3. O-Ton Ligeti IV (43:15)
Es besteht kein eindeutiger Zusammenhang von Ursache und Wirkung.
MUSIK Poème Symphonique für 100 Metronome
ERZÄHLERIN
Die musikgeschichtliche Bedeutung Ligetis hat freilich nichts mit Stanley Kubrick zu tun.
Das Charakteristische seines Schaffens ist die Revolution. Unaufhörlich. Beinahe mit
jedem Werk versucht er etwas Neues, jeder Komposition gibt er eine
Unverwechselbarkeit, Eigenheit. Zugleich gibt es Konstanten.
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Eine dieser Konstanten ist die fortwährende Beschäftigung mit Zeit und Raum,
Prozesshaftigkeit und Gegenständlichkeit in der Musik. Musik wird bei ihm zu…
ZITATOR
…gefrorener Zeit, zum Gegenstand des Imaginären…
ERZÄHLERIN
…bis zu dem Ziel, die Zeit zu bannen, ihr Vergehen aufzuheben.
ZITATOR
Ligeti lässt nicht zuletzt die konventionelle, musikalische Zeitwahrnehmung weit hinter
sich. Sie wird nicht länger als eine Abfolge von Ereignissen, Gegensätzen und
Entsprechungen wahrnehmbar, sondern tendiert deutlich zum Objekthaften.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
analysiert der Musikpublizist Dirk Wieschollek.
MUSIK Violin-Konzert II
ERZÄHLERIN
György Sándor Ligeti wurde am 28. Mai 1923 in Siebenbürgen geboren. Seine Eltern
sind jüdischer Herkunft, aber nicht sonderlich religiös. In Klausenburg will er nach der
Schule Mathematik und Physik studieren. Aber daraus wird nichts…
ZITATOR
Nicht für Juden!
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ERZÄHLERIN
Ligeti studiert stattdessen Musiktheorie und Orgel zunächst am Klausenburger
Konservatorium. Dann in Budapest. Dort wird er 1944 zum Arbeitsdienst in die
ungarische Armee abkommandiert und gerät so schließlich in die Gefangenschaft der
Sowjets. Er hat Glück: während eines Bombenangriffs kann er fliehen.
Glück hat auch seine Mutter Ilona: sie überlebt Auschwitz.
MUSIK ENDE
Kein Glück haben sein jüngerer Bruder Gábor und sein Vater Sándor. Gabor wird im
März 1945 im KZ Mauthausen, Sandor im April 1945 im KZ Bergen-Belsen von den
Nazis ermordet.
György lebt weiter. Er schließt sein Studium 1949 ab, wird schließlich Dozent für
Musikanalyse und Harmonielehre in Budapest, das jetzt vom Stalinismus geprägt ist.
Ligeti spricht darüber später von einer "Kultur des geschlossenen Zimmers", ist
entsetzt, dass die Impressionisten des Budapester Kunstmuseums einfach abgehängt
und nicht systemkonforme Bücher - u.a. "Don Quijote" und "Winnie the Pooh"! eingestampft werden.
Ein Klima, in dem "für die Schublade zu produzieren als Ehre galt." Erst die Nazis, dann
die Stalinisten. Ligeti hasst fortan Ideologien und Diktaturen - das prägt auch seine
Kunstauffassung: keine Kunsttheorie, keine Message, sondern der Versuch immer
neue Dinge auszuprobieren. Und das heißt in letzter Konsequenz nicht:
ZITATOR
Épater le Bourgois - den Bürger schrecken
ERZÄHLERIN
sondern:
ZITATOR
Épater l'Avantgarde - die Avantgarde schrecken.
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4. O-Ton Ligeti III (03:15)
Nach 20 Jahren wurde die Avantgarde alt. Das hat Adorno schon rechtzeitig
diagnostiziert. Irgendwie sind die Stücke, ein bestimmter musikalischer Habitus des
stark Konstruktiven und noch nie Dagewesenen, also etwas Wesentliches für die
Avantgarde, das hat doch seine Neuartigkeit stark eingebüßt.
ERZÄHLERIN
Das heißt nicht, dass Ligeti nach seiner Emigration - er flieht 1956 nach Ende des
Ungarischen Volksaufstandes mit seiner späteren Frau Vera Spitz über Wien nach Köln
- nicht jegliche Form von Avantgarde wie ein Schwamm aufgesogen hätte.
5. O-Ton Ligeti III (03:40)
Und ich selbst, ich gehöre doch zu dieser Generation, die das alles nicht nur
mitgemacht, sondern auch gemacht hat, wenn ich so unbescheiden sein darf. 02:40
Nun muss etwas ganz Anderes kommen.
ERZÄHLERIN
Ligeti möchte, als er in Köln ab 1957 im Studio für elektronische Musik des
Westdeutschen Rundfunks arbeitet, erst einmal nichts mehr zu tun haben mit seinen
"ungarischen" Werken, in denen er Bartok nachgefolgt war - und sich mit ihm kritisch
auseinandergesetzt hatte. Er lernt Karlheinz Stockhausen, den Pionier der
elektronischen und der seriellen Musik, kennen.
MUSIK Glissandi
Serielle Musik : eine Weiterentwicklung von Arnold Schönbergs Zwölftontechnik,
komponiert nach klaren Regeln. Tondauer, Tonhöhe, Lautstärke basieren auf Zahlenreihen. So soll Unstimmigkeit und der Einfluss subjektiven Geschmacks vermieden
werden.
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MUSIK Glissandi hoch
Die neuen Möglichkeiten inspirieren Ligeti erst einmal, z.B. zu "Artikulation" oder
"Glissandi".
MUSIK Glissandi hoch & ENDE
6. O-Ton Ligeti III 2:44
Dann hab ich auch ein Gefühl, dass die Situation dessen, was wir Avantgarde nennen,
was noch auf die 50er Jahre, Köln, Darmstadt zurückgeht, dass das auch irgendwie
nicht mehr aktuell ist. Ich will jetzt nicht die Geschichte umschreiben, ich sage nicht,
dass das nicht gültig war, nein das hat eine ganz, ganz große Bedeutung, sowohl die
serielle Musik als auch die Richtung Cage…
ERZÄHLERIN
John Cage, der statt Zahlenreihen auf den Zufall setzt, um "nicht-intentionale"
Ereignisse zu produzieren. Er wendet sich von durch den Verstand verbrauchten
Klängen ab, setzt dafür auf Geräusche, Alltagsklänge.
Aber Ligeti erkennt die inneren Widersprüche sowohl der Seriellen Musik als auch der
von John Cage. Ligetis Eindruck: Zufallsfolgen und absolut konstruierte Musik ähneln
sich oft auf fatale Weise.
ZITATOR
Der ebenso scharfsinnige wie wahrhaft originale und bedeutende ungarische
Komponist György Ligeti hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass im Effekt die
Extreme der absoluten Determination und des absoluten Zufalls zusammenfallen.
Statistische Allgemeinheit wird zum ichfremden Gesetz der Komposition.
ERZÄHLERIN
analysiert Theodor W. Adorno die Dialektik von Berechnung und Zufall. Ligetis Ausweg:
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Er verwendet in erster Linie eine Abfolge von Klängen, die einer eher schlichten
Dramaturgie folgen: Crescendo, lauter, Decrescendo, leiser, sie werden verdichtet,
verdünnt usw.
MUSIK Atmosphères
So in Atmosphères von 1961, die komponierte Abkehr von einer strukturell gedachten
Kompositionsweise. Eines der zentralen Werke Ligetis. Rhythmus und Melodie
verschmelzen zu einem massiven Klang. Nicht nur, dass Stanley Kubrick sich des
Stücks bemächtigt, zeigt seine Publikumswirksamkeit. Bei der Uraufführung auf den
Donaueschinger Musiktagen, ist das Auditorium so begeistert, dass Atmosphères
wiederholt werden muss.
7. O-Ton Ligeti IV (16:30)
Einzelne Instrumente setzen ein, andere setzen aus, wieder andere
Instrumentalstimmen springen plötzlich von einem liegenden Ton zu einem anderen.
Alle diese diskreten Veränderungen sind aber einzeln nicht hörbar, da sie in relativ
großer Anzahl gleichzeitig oder in unmittelbarer Sukzession erfolgen, und einander
gegenseitig verdecken.
MUSIK Atmosphères hoch
ERZÄHLERIN
Eine Cluster-Komposition. Cluster sind Klanggebilde mit nahe beieinander liegenden
Tönen - gewissermaßen Akkorde ohne Zwischenräume.
MUSIK HOCH
Die selbstständigen Einzelstimmen verschmelzen zu einem nicht mehr trennbaren
Gesamtklang, ein Klang, der sich ständig wandelt. Der Takt ist für den Charakter des
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Stücks selbst unwichtig, sondern nur wesentlich, um eine zeitliche Gliederung zu haben
und die Einzelstimmen synchron zu halten.
ZITATOR
Alles steht ja völlig still; während der zu einer Ewigkeit zerdehnten neun Minuten, die
das Stück dauert, geschieht überhaupt nichts!
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Auch wenn der Musikkritiker, der diese Zeilen schreibt u.a. noch von "völlig missglückt"
spricht, bezeichnet Ligeti die Kritik "als die schönste seines Lebens."
8. O-Ton Ligeti IV (20:27)
Durch sprunghafte Veränderungen der einzelnen klanglichen Bestandteile ist es
möglich nicht nur globale Bewegungen des resultierenden Komplexes zu erzielen,
sondern sogar den Eindruck des Stillstandes zu erwecken. 21:07 Nach und nach
bleiben Instrumentalstimmen aus, wie Großstadtlichter, die nacheinander verlöschen.
Aus großer Entfernung gesehen verschwimmen die einzelnen Lichter zu einer einzigen
leuchtenden Wolke, die sich allmählich auflöst.
ERZÄHLERIN
Die Technik, ohne Zeit strukturierende Formen wie Rhythmus und Melodie zu
komponieren, überträgt Ligeti auch auf die Orgel: "Volumina" von 1962 variiert einfach
Klangfarben, ein schwebender Gesamtcharakter entsteht…
ZITATOR
Hier gibt es Rhythmus nur als Fluss in der Zeit, nicht als ruckartige Zeitbewegung.
Tonhöhen treten in solchen Mengen auf, dass an Melodie oder Harmonie nicht zu
denken ist. Ohne diese üblichen Orientierungen wird Aufmerksamkeit für Neues frei.
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ERZÄHLERIN
schildert der Organist, Komponist und Musikschriftsteller Gerd Zacher.
MUSIK "Volumina" frei
Der Beginn der Klangraum-Komposition "Volumina" ist ein Totalcluster: alle Register
der Orgel sind gezogen, die komplette Tastatur gedrückt, erst dann wird die Orgel
eingeschaltet. Die Musik entsteht aus dem Nichts, bis der Motor der Orgel genügend
Luftdruck aufgebaut hat. Und am Ende des Stücks wird die Orgel ausgeschaltet - die
Windversorgung der Pfeifen bricht nach und nach zusammen.
MUSIK "Volumina" Ende
ZITATOR
Fünfzig Jahre war ich hellhörig, in Veröffentlichungen von und über Ligeti etwas über
seine Verbindung mit GOTT zu erfahren. Sein Requiem war nicht klar. Nun warte ich
also, bis ich selbst eines Tages ins Jenseits wechsle und ihm hoffentlich wieder
begegne.
ERZÄHLERIN
sagt Karlheinz Stockhausen 2006. Requiem? Ein geistliches Werk - verfasst 19621965 - von einem Atheisten?
MUSIK "Lux Aeterna"
Ligetis berühmtes "Lux Aeterna" für einen 16-stimmigen a capella-Chor ist eine
Auskoppelung aus seinem Requiem. Jetzt ist es also ein Vokalensemble, das
schwebende Klangfelder erzeugt. Und wieder…
ZITATOR
…eine Auflösung des Rhythmus zugunsten des befreiten Raums.
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ERZÄHLERIN
Aus Clustern entstehen Klangfarbenteppiche. Die Stimmen verschmelzen, lösen sich
auf, genauso wie die rhythmische Struktur. Ein Klangraum unendlicher Ausdehnung
entsteht. Beängstigend und befreiend…Lux Aeterna: Ewiges Licht.
MUSIK "Lux Aeterna" hoch
Das gefiel nicht nur Stanley Kubrick. Nach seiner Motivation, als Atheist ein Requiem zu
schreiben, gestand Ligeti seinen Studenten, dass ihn Höllendarstellungen, Bilder des
Jüngsten Gerichts, etwa von Pieter Breughel oder Hieronymus Bosch seit seiner
Kindheit verfolgten.
ZITATOR
Die Mystik, die der katholischen Liturgie anhaftet, wurde hier in eine klare Haltung
existentieller Bewusstheit überführt, ins Daseinshelle gehoben, ja eigentlich in konträrer
Richtung zum Weltlichen hin transzendiert. Beide Werke fragen, genau wie jede
Religion, nach den Rätselhaftigkeiten und Unerforschlichkeiten des Lebens, suchen
aber nicht das Irrationale als unverstehbare, gottgewollte Ordnung hinzunehmen, gar
als Fatum anzubeten, sondern mit offenem Blick, mit Ahnung und freier, empfänglicher
Sensibilität zu durchdringen.
ERZÄHLERIN
schildert der Musikpublizist Ulrich Dibelius.
MUSIK "Lux Aeterna" hoch
Was beim Hören nicht wahrnehmbar ist: die bis ins kleinste Detail ausgearbeitete
Partitur. Für jede Stimme gibt es eine präzise festgelegte Tonabfolge, die Einsätze sind
auf die Sekunde genau notiert.
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MUSIK ENDE
9. O-Ton Ligeti IV (05:41)
Auf diese Weise kommen wir vom Material als physikalische Realität - den Schallwellen
- zu einem Material, das nur auf einer geistigen oder imaginären Ebene existiert.
ERZÄHLERIN
Der Kosmopolit Ligeti lebt ab 1969 für drei Jahre in Berlin, 1972 in Stanford, Kalifornien,
wird 1973 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater in
Hamburg. 1978 kommt es in Stockholm zu einer Ligeti-Uraufführung, die sich mit einem
weitern Genre der klassischen Musik auseinandersetzt: die Oper.
ZITATOR
Sprengt die Opernhäuser in die Luft!
ERZÄHLERIN
hatte der Wortführer der französischen Aventgardekomponisten, Pierre Boulez,
gefordert, und lediglich der "Anti-Oper" eine Zukunft bescheinigt. Ligeti reagiert mit der
Konzeption einer Anti-Anti-Oper.
10. O-Ton Ligeti III (04:23)
Diese Benennung Anti-Anti-Oper ist ein bisschen ironisch gemeint, auch selbstironisch.
Ich sage also, es ist keine Anti-Oper mehr, sondern eine Anti-Anti-Oper. So wie
zweimal Minus, die heben sich gegenseitig auf. Also, die Gattung ist doch Oper.
ERZÄHLERIN
Le Grand Macabre - das große Makabre - ist der Titel der Oper. Sind die
apokalyptischen Bilder Breughels schon ein persönlicher Impuls für das Requiem
gewesen, so spielt "Le Grand Macabre" in einem imaginären Breughelland.
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11. O-Ton Ligeti III (13:03)
Es spielt in einem merkwürdigem bizarr verkommenen Land, eben diesem
Breughelland, ein geträumtes Alt-Flandern, wo nichts funktioniert, und die Leute
trotzdem relativ glücklich leben - also Liebe machen und trinken - obwohl alles durch
die Geheimpolizei kontrolliert wird, die Geheimpolizei funktioniert aber gar nicht gottseidank.
Diese merkwürdig verrottete und dekadente und dennoch lebensbejahende
Fantasieland, dieses Land dachte ich mit einer gewissen ironischen Schicht der Musik
auch zu behandeln.
ERZÄHLERIN
Clusterbildungen, Reihenstrukturen, Klangflächen, comicartige Filmmusik. "Le Grand
Macabre" ist…
ZITATOR
…eine grelle, absurde, pralle Revue, pausen- und atemlose zwei Stunden kurz.
ERZÄHLERIN
Der Handlung liegt "La Balade du grand Macabre" von Michel de Ghelderode, einem
Meister des absurden Theaters zu Grunde.
MUSIK Le Grand Macabre
Das Vorspiel erklingt aus Autohupen…
ZITATOR (begeistert)
ein Spektakel voll griffiger Musik und nacktem Leben.
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14
ERZÄHLERIN
Le Grand Macabre, Nekrotzar, entsteigt dem Grab und prophezeit die Apokalypse für
"Breughelland".
ZITATOR
Nekrotzars leeres Grab ist der ideale Ort für Amando und Amanda, um zu…
ERZÄHLERIN (unterbricht ihn)
Le Grand Macabre macht sich auf den Weg zum Hof des Fürsten Go-Go…
ZITATOR (begeistert)
und kommt dabei beim Astrologen Astradamors und seiner Frau Mescalina vorbei, die
schon den Kometen der Apokalypse beobachtet haben, aber doch mehr auf
sadomasochistische Spielchen stehen und…
ERZÄHLERIN (unterbricht ihn)
Das überlebt Mescalina nicht. Der frisch gebackene Witwer schließt sich freudig dem
Zug des Grand Macabre an. Am Hof des Fürsten warnt der Chef der Gepopo
ZITATOR (besserwisserisch)
also der Geheimen Politischen Polizei…
ERZÄHLERIN (genervt)
der Gepopo vor dem Nahen von Komet und Grand Macabre, die schon einen
Volksauflauf verursacht haben…
ZITATOR (freudig)
Nekrotzar, le Grand Macabre, erscheint und verkündet donnernd das Ende der Welt
und betrinkt sich erst einmal.
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15
ERZÄHLERIN (jetzt doch leicht amüsiert)
als der Komet einschlägt, ist der große Makabre zu besoffen, um das Ende der Welt
einzuleiten. Und die Moral von der Geschicht'?
ZITATOR
Nämlich das Beste, was es gibt,
ist, wenn man sich ausführlich liebt.
ERZÄHLERIN
Wenn man das tut, dann steht die Zeit
Ganz still: es gibt nur Ewigkeit.
ERZÄHLERIN und ZITATOR
Fürchtet den Tod nicht, gute Leut’!
Irgendwann kommt er, doch nicht heut’.
Und wenn er kommt, dann ist’s soweit….
Lebt wohl so lang in Heiterkeit!
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN (fasst sich)
Auf Nebenfiguren…
ZITATOR (sie lüstern unterbrechend)
…wie Spermando und Clitoria
ERZÄHLERIN (wieder souverän)
…kann hier getrost verzichtet werden. Gerüchte über die Proben heizen das
Publikumsinteresse allerdings an.
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16
ZITATOR
Erste Probenberichte aus Schweden verstärkten die Erwartungen. Das Ensemble
weigerte sich, "Ficken", "Vögeln" und anderen Schweinkram zu besingen, die
Sopranistin Barbro Ericson wollte weder das Wort "Schwanz' in den Mund nehmen
noch sich den Hintern küssen lassen. Das Gerücht einer Porno-Oper war in der Welt.
Entsprechender Zulauf bei der Premiere.
ERZÄHLERIN
textet Klaus Umbach 1978 im "Spiegel". So banal das Fazit der Oper auch scheint…
ZITATOR
Das Leben geht weiter!
ERZÄHLERIN
…so steht "Le Grand Macabre" doch in einer Kontinuität hinsichtlich Ligetis
Auseinandersetzung mit Zeit und Tod. Und musikalisch schreibt Klaus Umbach völlig
zutreffend von…
ZITATOR
… einer vitalen, vielfarbigen, kurzweiligen Partitur ohne intellektuelle Spröde. Von
satinweichen Schmeichelklängen über virtuosen Flattersatz bis zu Brutalo-Rhythmen
hat Ligeti die Mittel im Griff. Selbst wenn das Klanggefüge mit Klecksern und Tupfern
mal bedrohlich dünn wird, bricht das Werk nicht ein.
12. O-Ton Ligeti III (06:33)
Ich wollte etwas ganz Anderes machen, ich dachte nicht an ein griechisch
antikisierendes Milieu, sondern an eine sehr stark schematisierende, im Sinne von
Cartoons…
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17
ERZÄHLERIN
Und György Ligeti hat nicht aufgehört, etwas Anderes machen zu wollen. In den 1980er
Jahren entwickelt sich sein Stil wieder in eine andere Richtung: er beschäftigt sich in
seinen Études für Soloklavier mit rhythmischen Verwicklungen, beschäftigt sich mit
exotischen Tonsystemen. György Ligeti stirbt am 12. Juni 2006 in Wien.
MUSIK Lux Aeterna
ZITATOR
Jetzt ist sein Gesamtschaffen abgeschlossen und wir können nur dankbar sein für die
entscheidenden Anstöße und Öffnungen, die sein Komponieren in der zweiten Hälfte
des zwanzigsten Jahrhunderts der zeitgenössischen Musikkultur gab. Und hoffentlich
für lange Jahrzehnte kreativ weiter geben wird.
ERZÄHLERIN
resümiert der Schweizer Komponist Klaus Huber in seinem Nachruf für Ligeti.
ERZÄHLERIN und ZITATOR
Fürchtet den Tod nicht, gute Leut’!
Irgendwann kommt er, doch nicht heut’.
Und wenn er kommt, dann ist’s soweit….
Lebt wohl so lang in Heiterkeit!
MUSIK
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