Z E I T U NG F Ü R D E U T S C H LA N D Dienstag, 3. Februar 2015 · Nr. 28 / 6 D 2 HERAUSGEGEBEN VON WERNER D’INKA, JÜRGEN KAUBE, BERTHOLD KOHLER, HOLGER STELTZNER Merkel fordert mehr Demokratie von Orbán Heute Michelangelos Muskelmänner Kunsthistorischer Krimi: Zwei auf Panthern reitende Bacchanten gelten nun als Bronzen des Renaissance-Meisters. Feuilleton, Seite 11 Weißer Aufschwung Gehen die Olympischen Winterspiele 2022 nach Peking, wird alle Welt bald Chongli kennen, für manche Chinas Davos. Politik, Seite 5 Baut Berlin für die Kunst? Das Projekt eines Museums der Moderne wurde am Montag im Haushaltsausschuss ventiliert: trostlos. Feuilleton, Seite 9 Ungarn driftet ab Von Reinhard Veser ls die sowjetische Armee 1956 den Aufstand der Ungarn gegen A die sozialistische Diktatur blutig nie- Alberto Uderzo und René Goscinny, Asterix der Gallier, Filmbild 1967, United Archives löw. BUDAPEST, 2. Februar. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu einem offeneren Umgang mit seinen Kritikern aufgerufen. Sie habe ihn auf die Verantwortung hingewiesen, die man trage, wenn man eine sehr breite Mehrheit habe wie der ungarische Regierungschef, sagte sie nach einem Gespräch mit Orbán am Montag in Budapest. Gerade dann sei es wichtig in einer Demokratie, die Rolle der Opposition, der Medien und der Zivilgesellschaft zu schätzen. Wie Merkel stützt sich Orbán auf eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, allerdings nicht in einer Koalition. Kritik an Orbán hatte sich daran entzündet, dass seine Regierung eine stärkere Kontrolle der Medien ermöglichte, das Wahlrecht zugunsten der eigenen Partei änderte und regierungskritische Organisationen bedrängte. Nach einer früheren Formulierung Orbáns gefragt, wonach für Ungarn nicht die liberale, sondern eine „illiberale“ Demokratie anzustreben sei, sagte Merkel, mit diesem Begriff könne sie „nichts anfangen“. Orbán beharrte darauf, dass es erlaubt sein müsse, andere Wege als den des Liberalismus zu beschreiten. Merkel sprach auch mit Vertretern der jüdischen Gemeinde sowie mit Studenten an der von Deutschland mitfinanzierten deutschsprachigen Andrássy-Universität. (Siehe Seiten 2 und 8.) Schöne Schweinerei Mehr Strecke machen – Als hätten wir nicht schon genug Sorgen mit Griechen, Russen, Boko Haram und all den anderen Störenfrieden auf der Weltbühne. Jetzt kommen auch noch Wildschweinrotten hinzu, die marodierend durch deutsche Wälder und Felder, aber auch über deutsche Straßen ziehen, um möglichst viel zu zerstören in ihrem kurzen, aber frischlingsreichen Leben. Das stellt deutsche Jäger auf Seite 7 vor Herausforderungen. Vielleicht sollten sie sich an Asterix und Obelix ein Beispiel nehmen, aus deren Zeit nichts über Wildschweinplagen überliefert ist. Foto Picture-Alliance Prorussischer Separatistenführer kündigt „allgemeine Mobilmachung“ an Washington denkt über Waffenlieferungen an Ukraine nach / Merkel: Ausgeschlossen anr./löw./rve. WASHINGTON/BUDAPEST/FRANKFURT, 2. Februar. Der Führer der „Volksrepublik Donezk“ Aleksandr Sachartschenko hat nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti am Montag den Beginn einer „allgemeinen Mobilmachung“ in den Separatistengebieten innerhalb der nächsten zehn Tage angekündigt. Dabei sollten „bis zu 100 000 Mann einberufen werden“. Zudem distanzierten sich die Separatisten weiter vom Minsker Waffenstillstand vom September vergangenen Jahres: Die Separatisten hätten die der Vereinbarung beigefügte Waffenstillstandslinie nie angenommen, sagte einer ihrer Führer. Unterdessen dauerten im Osten der Ukraine die erbitterten Kämpfe um den Eisenbahnknotenpunkt Debalzewe an. Der amerikanische Nato-Oberbefehlshaber Philip Breedlove spricht sich derweil angeblich dafür aus, der Ukraine Verteidigungswaffen zu liefern. Laut einem Bericht der Zeitung „New York Times“, den der General nicht bestätigte, herrscht in Washington neue Offenheit, einen Strategiewechsel zu erwägen. Der scheidende Verteidigungsminister Chuck Hagel unterstützt den Plan demnach, doch sein Wort hat nicht mehr viel Gewicht. Neben Außenminister John Kerry und Generalstabschef Martin Dempsey soll nun aber auch die Nationale Sicherheitsberaterin Susan Rice bereit sein, ihre Haltung zu überdenken. Präsident Barack Obama hatte bisher auf Rice gehört, die fürchtet, dass Russland auf Waffenlieferungen mit einer weiteren Verschärfung des Krieges im Osten der Ukraine reagieren würde. Das Weiße Haus bekannte sich in einer Stellungnahme zur Suche nach einer diplomatischen Lösung. Man erwäge aber auch „immer andere Optionen“. Fachleute dreier Denkfabriken empfehlen Obama in einem am Montag veröffentlichten Bericht, Kiew für drei Milliarden Dollar Panzerabwehrraketen, Aufklärungsdrohnen, gepanzerte Fahrzeuge, Radaranlagen und Munition zu liefern. „Deutschland wird die Ukraine mit Waffen nicht unterstützen“, sagte Bundeskanzlerin Merkel in Budapest. Sie warb gegenüber Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán aber für eine einige Haltung der EU gegenüber Russland. Das sei „ein hohes Gut“. Orbán wird in zwei Wochen den russischen Präsidenten Wladimir Putin als Gast empfangen. (Kommentar Seite 8.) Der Ofen ist aus Der Vater der Aldi-Brüder hat bei Stauffenberg gelernt, lange blieben seine Söhne der Bäckerei treu. Jetzt ist sie pleite. Wirtschaft, Seite 22 Tsipras warnt vor Folgen eines Euroaustritts Griechenland will „vorerst“ kein Geld aus Russland / Juncker will Athen entgegenkommen tens./wmu. ISTANBUL/BRÜSSEL, 2. Februar. Auf seiner ersten Auslandsreise als griechischer Ministerpräsident hat Alexis Tsipras am Montag vor den Folgen eines Ausscheidens seines Landes aus der Eurozone gewarnt. Ein solcher Schritt würde die Stabilität Südosteuropas gefährden, sagte Tsipras nach einem Treffen mit Zyperns Staatschef Nikos Anastasiadis in Nikosia. Trotz der Krise, „die Griechen und Zyprer mit ungerechten Opfern beladen hat“, blieben die beiden Länder die „wichtigsten Säulen der Stabilität“ in der Region, sagte der Ministerpräsident. Eine finanzielle Unterstützung Russlands suche sein Land „derzeit“ nicht, versicherte Tsipras. Zypern ist neben Griechenland der einzige Staat der Eurozone, in dem eine Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds die Politik der dortigen Regierung überwacht. Üblicherweise beginnen griechische Ministerpräsidenten ihre Amtszeit mit einer Reise nach Nikosia, dem engsten Partner Athens in der Staatengemeinschaft. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will der Regierung Tsipras im Streit über die künftige Hilfe der Eurostaaten an Athen offenbar entgegenkommen. Junckers Sprecher bezeichnete eine Erklärung von Tsipras vom Wochenende als „Ausgangspunkt“ für dessen Gespräche mit Juncker am kommenden Mittwoch in Brüssel. Tsipras hatte erklärt, er sei zuversichtlich, dass mit den Gläubigern Griechenlands rasch eine Einigung erreichbar sei. In Junckers Umfeld wurden Meldungen dementiert, wonach der Kommissionschef die Troika für Griechenland abschaffen wolle. Auch die Bundesregierung wies Berichte zurück, wonach sie sich eine Alternative zur Troika vorstellen könne. Es gebe „keinen Anlass, von diesem bewährten Mechanismus abzuweichen“, sagte eine Regierungssprecherin in Berlin. Der britische Premierminister David Cameron zeigte sich derweil kompromisslos mit Blick auf einen Schuldenerlass für Athen. Es werde weiterhin erwartet, dass alle Länder ihre internationalen Verpflichtungen erfüllten, sagte ein Sprecher des Premierministers nach einem Treffen Camerons mit dem neuen griechischen Finanzminister Giannis Varoufakis in London. (Siehe Seite 2 sowie Wirtschaft, Seiten 15 und 17; Kommentar Seite 8.) André Schürrle wechselt zum VfL Wolfsburg Union und SPD uneins über Einwanderung Obama plant große Investitionen in Straßen 183 Todesurteile gegen Islamisten in Ägypten re. FRANKFURT, 2. Februar. FußballWeltmeister André Schürrle kehrt in die Bundesliga zurück. Der VfL Wolfsburg bestätigte am frühen Montagabend kurz nach Ende der Wechselfrist, dass man mit dem FC Chelsea über einen Wechsel des 24 Jahre alten Nationalsspielers einig geworden sei. Schürrle kommt für eine vereinsinterne Rekordsumme von geschätzten 32 Millionen Euro zum Tabellenzweiten der Bundesliga. Er erhält bei den Niedersachsen einen Vertrag bis 2019. (Siehe Sport, Seite 28.) elo. BERLIN, 2. Februar. Der Streit über ein Einwanderungsgesetz entzweit nicht nur die Koalition, sondern führt auch zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb von Union und SPD. Die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Gerda Hasselfeldt, wandte sich am Montag gegen ein Einwanderungsgesetz, das die SPD befürwortet. Der Vorsitzende der CDU-Mittelstandsvereinigung, Carsten Linnemann, warnte unterdessen davor, die Debatte „im Keim zu ersticken“. Auf den Vorschlag des SPD-Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann, ein Punktesystem einzuführen, reagierte SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi mit der Bemerkung: „Das kann ein Modell sein.“ (Siehe auch Seite 3 sowie Wirtschaft, Seite 16.) wvp. WASHINGTON, 2. Februar. Der amerikanische Präsident Barack Obama plant Investitionen in die Infrastruktur des Landes in Höhe von 478 Milliarden Dollar (umgerechnet 423 Milliarden Euro). Das geht aus dem neuen Haushaltsentwurf hervor, der am Montag vorgestellt wurde. Ein Sprecher des Weißen Hauses sagte, die Investitionen würden benötigt, um marode Straßen und Brücken zu reparieren und die Infrastruktur zu modernisieren. Außerdem plant Obama mehr Ausgaben für Forschung, für die Universitäten und für das Militär. Finanziert werden sollen diese unter anderem mit Krediten und durch eine Besteuerung der Auslandsvermögen von amerikanischen Konzernen. (Siehe Wirtschaft, Seite 17.) KAIRO, 2. Februar (dpa). Die ägyptische Justiz geht mit drakonischen Urteilen gegen die Muslimbruderschaft vor. In einem neuen Massenprozess wurde gegen 183 Personen die Todesstrafe bestätigt. Das Gericht folgte damit am Montag weitgehend dem Urteil aus erster Instanz, wonach 188 Angeklagte schuldig befunden worden waren, elf Polizisten bei islamistischen Krawallen im Sommer 2013 „gelyncht“ zu haben. Eines der Todesurteile wurde auf zehn Jahre Haft reduziert, zwei Angeklagte wurden freigesprochen. Bei zwei inzwischen verstorbenen Verurteilten sei das Verfahren eingestellt worden. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte das Urteil, das noch nicht rechtskräftig ist, als „skandalös“. Vollmers großer Tag Ein Deutscher gewinnt den Super Bowl: Sebastian Vollmer hat großen Anteil am Sieg der New England Patriots. Sport, Seite 27 Durch die Stadt gezogen Die Mini Metro ist eine besondere Bahn. Sie hat keinen Fahrer, keinen Motor und keine Stromleitungen. Technik und Motor, Seite 1 Briefe an die Herausgeber Seite 6 4<BUACUQ=eacfah>:n;V;V;l;r 2,50 € D 2954 A Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH; Abonnenten-Service: 0180 - 2 34 46 77 (6 Cent pro Anruf aus dem dt. Festnetz, aus Mobilfunknetzen max. 42 Cent pro Minute). Briefe an die Herausgeber: [email protected] Belgien 3,00 € / Dänemark 23 dkr / Frankreich, Griechenland 3,00 € / Großbritannien 3,00 £ / Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande 3,00 € / Österreich 3,00 € / Portugal (Cont.) 3,00 € / Schweiz 4,80 sfrs / Slowenien 3,00 € / Spanien, Kanaren 3,00 € / Ungarn 780 Ft derschlug, richteten die Führer der Volkserhebung eine verzweifelte Bitte um Beistand an den Westen. Der unterstützte die Ungarn aber nur mit Worten, auf eine militärische Konfrontation mit der Sowjetunion wollte er sich nicht einlassen. Dafür gab es gute Gründe, aber den Ungarn kam es – was man gut verstehen kann – doch so vor, als seien sie von der freien Welt schmählich im Stich gelassen worden. Viele Kämpfer des Aufstands kamen für lange Zeit ins Gefängnis, seine Führer wurden hingerichtet und in anonymen Gräbern verscharrt. Ihre feierliche Umbettung in Ehrengräber 1989 war ein Meilenstein auf dem Weg Ungarns in die Freiheit. Viktor Orbáns politische Karriere begann mit dieser Demonstration: Er verband damals die Vergangenheit mit der Gegenwart, indem er den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn forderte, die seit dem Aufstand dort stationiert waren. 25 Jahre später versucht Russland mit Gewalt, Ungarns Nachbarn im Osten davon abzuhalten, seinen Weg F. A. Z. im Internet: faz.net selbst zu wählen. Der Westen reagiert erstaunlich geschlossen, wenn auch nicht ganz so entschieden, wie das die Ukrainer gerne hätten. Dafür gibt es gute sachliche Gründe, aber es hat auch damit zu tun, dass manche Regierungschefs in den Reihen der EU nicht so recht mitziehen wollen. Einer davon ist, als hätte er seine eigene Geschichte vergessen, Viktor Orbán, der in zwei Wochen den russischen Präsidenten Putin in Budapest empfangen will, als sei nichts geschehen. Nur als Fußnote: Eines der großen Vorbilder Putins ist Jurij Andropow, der 1956 die Niederschlagung des ungarischen Aufstands leitete. Bundeskanzlerin Merkel hat Orbán bei ihrem Besuch in Budapest daran erinnert, welch „hohes Gut“ die Einigkeit der EU gegenüber Russland sei. Dass sie das tun musste, hat auch damit zu tun, wie Orbán Ungarn regiert: Er ist zwar ohne Zweifel aus demokratischen Wahlen als Sieger hervorgegangen, aber unter seiner Führung beginnt Ungarn, vom demokratischen Weg abzudriften. Ungarn ist weit davon entfernt, so zu sein wie Russland. Aber angesichts dessen, was Orbán über kritische Medien, Nichtregierungsorganisationen und „illiberale Demokratie“ sagt, drängt sich der Verdacht auf, dass er gern hätte, dass es so wäre. Perversion des Datenschutzes Von Reinhard Müller er solche Datenschützer hat, braucht keine Feinde mehr. W Da ist die Bundesbeauftragte aus ihrem Winterschlaf erwacht – und meint nun, eine Vorratsdatenspeicherung doch ablehnen zu müssen. Plötzlich will sie einen „massiven Eingriff“ in die Persönlichkeitsrechte „aller Bürger“ erkennen. Offenbar hat sie nun die Auflagen des schon bald ein Jahr alten Urteils des Europäischen Gerichtshofs entdeckt; das Bundesverfassungsgericht hatte schon im März 2010 entschieden. Doch es bleibt dabei: Beide Gerichte haben das Instrument der Vorratsdatenspeicherung keineswegs verworfen, sondern nur die konkrete Ausgestaltung seitens des Gesetzgebers. Nun wartet Berlin wieder auf eine neue europäische Regelung – oder auf den nächsten Anschlag. Das Argument, das Attentat von Paris habe durch die Vorratsdatenspeicherung offenkundig nicht verhindert werden können, ist genauso peinlich wie die Behauptung, die Speicherung der Verbindungsdaten sei ein Allheilmittel im Kampf gegen den Terrorismus. Zweifellos aber ist sie nützlich. Schon klar: Im Zweifel wünschen sich Sicherheitsbehörden und auch Strafverfolger immer mehr Befugnisse; mitunter schrecken sie auch vor Übertreibungen nicht zurück. Aber nicht ohne Grund hat der sonst zurückhaltende Bund der Richter und Staatsanwälte unlängst daran erinnert, dass die Vorratsdatenspeicherung notwendig ist: „In nahezu allen Bereichen schwerer Kriminalität sind Telefon- und Internetverbindungsdaten ein wesentlicher, oft der einzige Ansatz für Ermittlungen.“ In der Tat können viele Delikte ohne diese Maßnahme kaum aufgeklärt werden. Das mag und muss man in einigen Fällen auch verschmerzen. Der Rechtsstaat darf eben nicht jedes Mittel nutzen. Aber er darf sich auch nicht aufgeben. Hier geht es, wohlgemerkt, nicht um Kleinkriminalität, wohl aber, leider, um alltägliche Untaten, die das Leben der Bürger noch viel mehr beeinflussen als die alltägliche abstrakte Terrorwarnung. Wer als Opfer nur ein Schulterzucken erntet und allenfalls noch von einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen „unbekannt“ hört, der verliert das Vertrauen in den Staat. Und zwar nicht deshalb, weil der etwa seine Bürger rund um die Uhr überwacht. Dieses Orwellsche Albtraumbild hat nichts mit der Wirklichkeit einer Vorratsdatenspeicherung zu tun. Deren Kern ist das meist ohnehin vorgenommene automatisierte Vorhalten nichtpersonenbezogener Verbindungsdaten durch private Unternehmen. Auf die so gespeicherten Daten kann nur unter strengen Voraussetzungen zugegriffen werden. Der Europäische Gerichtshof sprach von einer „Zielset- zung, die dem Gemeinwohl dient, und zwar der Bekämpfung schwerer Kriminalität und somit letztlich der öffentlichen Sicherheit“. Diesem Ziel hätte sich die Bundesregierung längst verschreiben können und müssen. Noch vor kurzem war Deutschland das einzige EULand, das die damals noch verbindliche Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung nicht in deutsches Recht übertragen hatte; im Grunde ist das ein Haftungsfall. Und auch nach der Luxemburger Entscheidung und sogar noch nach dem Anschlag von Paris glaubt Berlin immer noch, alle Zeit der Welt zu haben. Doch diese Perversion des Datenschutzes ist noch zu steigern: durch das Schweigen zu Facebook. Hier Gegen die Überwachung durch Facebook ist die Vorratsdatenspeicherung ein Witz. zeigt sich das tragische Missverständnis der aktuellen Sicherheits- und auch der Rechtspolitik. Die neuen Geschäftsbedingungen des amerikanischen Unternehmens sind neben dem Gebaren von Google vermutlich die größte anlasslose Datenspeicherung aller Zeiten. Gegen diese Überwachung ist die Vorratsdatenspeicherung ein Witz. Oder sollte man sich auf den Standpunkt zurückziehen, das sei ja die freie Entscheidung eines jeden, ob er sich Facebook und seinen Bedingungen unterwerfe? Gewiss, auch wenn man an dieser „Freiheit“ mitunter verzweifeln mag. Doch Klauseln, die fundamental oder überraschend gegen deutsches Recht verstoßen, sind schlicht und einfach nichtig. Sie gelten gar nicht. Das ist bei Regeln der Fall, unter denen der Nutzer ohne Widerspruchsmöglichkeit sein gesamtes digitales Leben an den Konzern abtritt. Die entscheidende Frage ist, was daraus folgt. Denn Facebook wird sich nicht darum scheren. Dann müssen die Nutzer sich wehren, vor allem aber müssen deutsche Behörden und Gerichte das deutsche Recht durchsetzen. Dass das sogar gegen einen solchen Konzern möglich ist, haben der Bundesgerichtshof wie auch der Europäische Gerichtshof schon mit einigem Erfolg im Fall Google vorgeführt. Aber wo sind eigentlich die deutschen Datenschützer? Viel Wert wird zu Recht auf ihre Unabhängigkeit vom Staat gelegt (der sie bezahlt). Doch „1984“ liegt hinter uns. Der neue Leviathan ist das globale Unternehmen, das sich um nationales Recht nicht schert. Jeder ahnt irgendwie, was hier preisgegeben wird. Später will dann niemand schuld gewesen sein.
© Copyright 2024 ExpyDoc