Z E I T U NG F Ü R D E U T S C H LA N D Montag, 23. März 2015 · Nr. 69 / 13 D 3 Schäuble für Korrekturen bei Erbschaftsteuer mas./enn. BERLIN, 22. März. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ist nach Protesten der Wirtschaft zu Korrekturen an seinen Plänen für eine Reform der Erbschaftsteuer bereit. „Ich will doch nicht den Mittelstand aus Deutschland vertreiben“, sagte Schäuble dieser Zeitung. Er wolle nicht mehr ändern als unbedingt notwendig, „aber auch nicht weniger“. Größter Streitpunkt ist die Bedürfnisprüfung, die das Bundesverfassungsgericht für die Verschonung großer Betriebsvermögen von der Erbschaftsteuer verlangt. Bisher werden Unternehmenserben weitgehend verschont, wenn sie den Betrieb einige Jahre weiterführen und Arbeitsplätze erhalten. Der Wirtschaft ist der von Schäuble geplante Grenzwert von zwanzig Millionen Euro zu gering. Er sagte dazu: „Wir haben uns auf nichts festgelegt.“ Aus Bayern kam am Wochenende Kritik an Schäuble. Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer forderte, bei der Berechnung der Steuerpflicht auf das Betriebsvermögen dürfe nicht „das ansonsten vorhandene Privatvermögen, das erarbeitet und schon versteuert wurde, herangezogen“ werden. „Das wäre eine Vermögensteuer. Und das machen wir nicht.“ Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) verlangte, der Bund solle die Reform den Ländern überlassen. (Siehe Wirtschaft, Seite 17.) Heute HERAUSGEGEBEN VON WERNER D’INKA, JÜRGEN KAUBE, BERTHOLD KOHLER, HOLGER STELTZNER Griechischer Wein Hängen und Würgen Von Jasper von Altenbockum s wäre schön, wenn die Reformen, E die in Athen jetzt beschlossen wurden und noch folgen sollen, Grie- Am Wickel – Das Schöne und den Umgang der Menschen miteinander Erleichternde eines geschlossenen und mit Krawatte abgebundenen Hemdes könnte darin liegen, dass der Kopf ein wenig wie körperlos zu schweben scheint. Fehlt die Krawatte und ist das Hemd auch noch am Kragen geöffnet, wirkt es so, als quelle der edle Schädel aus dem immer irgendwie unangenehm-organischen Leib hervor, was letztlich so ist, aber auch kein Grund zur Freude sein muss. Sollte Tsipras heute ohne Krawatte in Berlin erscheinen, wird die duldsame Kanzlerin das aber auch ertragen. Foto Anna Mutter Berlin skeptisch gegenüber Reformversprechen Griechenlands Das Vakuum füllen Viele Salafisten werden im Gefängnis radikalisiert. Um das zu verhindern, predigen Imame nun hinter Gittern. Politik, Seite 3 Fluchende Oligarchen Auf Druck des Westens rücken die Erben des Majdans von den Oligarchen ab. Doch die wehren sich – nicht nur mit Waffen. Politik, Seite 6 Piraterie ist ein Geschäft Ein Viertel der Bevölkerung liest elektronische Bücher. Viele von ihnen werden illegal heruntergeladen. Was tun? Feuilleton, Seite 11 Athen verfügt nur noch bis Ostern über ausreichend Liquidität / Tsipras besucht Merkel hmk./sat. BRÜSSEL/BERLIN, 22. März. Die griechische Regierung hat offenbar nur noch bis Ostern ausreichend Geld zur Bezahlung ihrer Verpflichtungen. Wie aus internen Berechnungen der Geldgeber-Institutionen hervorgeht, verfügt das Land bis zum 8. April über ausreichend Liquidität. Anschließend wird die Situation nach Einschätzung von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) kritisch. Das berichtete die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Berücksichtigt sind bei der Analyse der Geldgeber, die von Anfang vergangener Woche stammt, dass die Regierung auf Barmittel der Sozialkassen und staatlicher Unternehmen zurückgreift. Die Auswirkungen jüngster Beschlüsse sind indes nicht einge- rechnet. In der Nacht zum Samstag hatte das Parlament in Athen ein Gesetz verabschiedet, das die Nachzahlung von Steuern erleichtern soll. Am 8. April muss Griechenland eine Kredittranche von 467 Millionen Euro an den IWF zurückzahlen. Mitte April müssen außerdem kurzfristige Staatsanleihen im Wert von 2,4 Milliarden Euro refinanziert werden. Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras, der an diesem Montag von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin empfangen wird, hatte nach dem Treffen der EU-Staats- und -Regierungschefs noch bekräftigt, Athen könne seine Verpflichtungen vorerst bedienen und den Staat am Laufen halten. Es gebe „kurzfristig keinerlei Liquiditätsproblem“. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel forderte Griechen- land und die EU auf, aufeinander zuzugehen. „Beide Seiten müssen sich ehrlich machen“, sagte Gabriel dem „Tagesspiegel“. Derweil schloss der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Volker Kauder (CDU), ein drittes Hilfspaket für Griechenland vorerst aus. „Wir denken an keine weiteren Programme“, sagte Kauder dem „Handelsblatt“. Tsipras hatte sich in Brüssel verpflichtet, in den kommenden Tagen eine eigentlich schon am 20. Februar zugesagte detaillierte Liste mit Reformvorschlägen vorzulegen. Merkel machte deutlich, dass dies in Brüssel und nicht bei dem Treffen in Berlin geschehen solle. In der Bundesregierung herrscht weiterhin große Skepsis, ob Tsipras seinen Worten Taten folgen lässt. (Siehe Seiten 2 und 10 sowie Wirtschaft, Seiten 17, 18 und 19.) Bank ohne Filialen Die Deutsche Bank bereitet die Abspaltung ihres Filialgeschäfts und der Postbank vor. Sie sollen an die Börse gehen. Wirtschaft, Seite 21 Houthi-Rebellen weiter auf dem Vormarsch Kämpfer erobern Teile der drittgrößten Stadt des Jemens / Washington zieht Soldaten ab mrb. KAIRO, 22. März. Die Houthi-Rebellen sind im Jemen weiter auf dem Vormarsch. Am Sonntag gelang es den Kämpfern Abd al Malik al Houthis, den Flughafen sowie mehrere Stadtviertel der drittgrößten Stadt des Landes Taiz einzunehmen. Sie liegt zwischen der von ihnen bereits beherrschten Hauptstadt Sanaa und der Hafenstadt Aden, in die der völkerrechtlich anerkannte Präsident Abd Rabbo Mansur Hadi im Februar geflohen war und die er zur neuen Hauptstadt erklärt hatte. Bereits am Samstag hatten die letzten im Jemen verbliebenen amerikanischen Soldaten den Luftwaffenstützpunkt al Anad verlassen, nachdem Kämpfer der Terrorgruppe Al Qaida auf der Arabischen Halbinsel (Aqap) das nahe gelegene Huta unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Auch jemenitische Soldaten, die Präsident Hadi gegenüber loyal waren, ergriffen die Flucht. Das Abgleiten des Jemens in einen offenen Bürgerkrieg, der durch die Konfrontation der Regionalmächte Iran und SaudiArabien befeuert wird, beschleunigt sich durch die Entwicklungen vom Wochenende. Die in Sanaa herrschenden Houthi-Rebellen riefen am Samstag zum bewaffneten Kampf gegen die Anhänger Hadis auf. Die Offensive gegen alle staatlichen und militärischen Institutionen, die ihnen nicht folgten, bezeichneten sie in einer Erklärung als Kampf gegen Extremisten. Hadi kündigte in der ersten Fernsehansprache seit seiner Flucht nach Aden an, dafür zu sorgen, dass in der Houthi-Hochburg Saada wieder die jemenitische, nicht die iranische Flagge wehen werde. Von Saada waren die von Iran unterstützten Rebellen im vergangenen September auf die Hauptstadt Sanaa vorgerückt. Inzwischen sollen sie neun von 21 Provinzen des ärmsten Landes der arabischen Welt kontrollieren. Hadi hingegen bekommt Hilfe von den sunnitischen Staaten des Golf-Kooperationsrats (GCC), die bis auf Oman ankündigten, künftig in Aden ihre Botschaften zu unterhalten. Am Freitag waren bei Anschlägen auf zwei von der schiitischen Minderheit der Zaiditen besuchte Moscheen 137 Menschen getötet worden. Der „Islamische Staat“ hatte sich der Tat bezichtigt. Das amerikanische Außenministerium erklärte derweil, eine Täterschaft des IS könne bislang nicht bestätigt werden. Knapper Wahlsieg für Sozialisten in Andalusien Tunesien fahndet nach drittem Attentäter UMP siegt bei Départementswahlen FC Bayern unterliegt Mönchengladbach 0:2 wie. MADRID, 22. März. Bei den spanischen Regionalwahlen in Andalusien, die als erste Testabstimmung für die nationale Abstimmung im Herbst gelten, hat die konservative Volkspartei von Ministerpräsident Mariano Rajoy eine heftige Niederlage erlitten. Die in der Region seit 32 Jahren regierenden Sozialisten konnten sich behaupten, allerdings ohne eine absolute Mehrheit zu erreichen. Als neue dritte Kraft gelangten die Linkspopulisten von Podemos (Wir können) in das Parlament. cheh. TUNIS, 22. März. Nach dem Terroranschlag auf ausländische Touristen in Tunesien fahnden die Behörden nach einem dritten Attentäter. Der Mann sei flüchtig, werde aber nicht weit kommen, sagte Präsident Béji Caïd Essebsi am Sonntag in einem Interview mit französischen Medien. Das Innenministerium hatte zuvor Bilder von Überwachungskameras veröffentlicht, die zeigen, wie die beiden später am Tatort erschossenen Attentäter im Bardo-Museum einem dritten Mann begegnen, der danach weitergeht. In Sicherheitskreisen hieß es, dieser sei wohl unterstützend an dem Anschlag beteiligt gewesen und nicht als Schütze. Bislang haben die Behörden bei landesweiten Razzien mehr als 20 Verdächtige festgenommen. (Siehe Seite 6.) mic. PARIS, 22. März. Bei den französischen Départementswahlen zeichnet sich ein Sieg der UMP unter dem Vorsitz Nicolas Sarkozys ab. Im ersten Wahlgang lag die bürgerliche Rechte mit einem Ergebnis um 36 Prozent laut ersten Hochrechnungen deutlich vor der rechtsextremen Partei Front National (FN) mit etwa 25 Prozent. „Der Front National ist nicht die erste Partei Frankreichs, ich gratuliere uns dazu“, sagte Premierminister Manuel Valls am Sonntagabend. Die regierenden Sozialisten lagen je nach Umfrageinstitut mit 25,5 Prozent vor dem FN oder mit 24,5 Prozent knapp dahinter. Valls kündigte an, das endgültige Wahlergebnis werde erst in den frühen Morgenstunden feststehen. F.A.Z. FRANKFURT, 22. März. Der FC Bayern München hat seit fast einem Jahr wieder ein Heimspiel in der FußballBundesliga verloren. Gegen Borussia Mönchengladbach gab es am Sonntag ein 0:2. Josef Zinnbauer ist nicht mehr Cheftrainer des Hamburger SV. Grund ist der Absturz des Klubs nach sechs Punktspielen ohne Sieg auf den Relegationsrang. Sportdirektor Peter Knäbel übernimmt bis Saisonende den Posten. Skispringer Severin Freund gewann den Gesamt-Weltcup, ihm reichte dafür Platz sieben beim Skifliegen in Planica. Skirennfahrer Felix Neureuther wurde dagegen nur Zwölfter beim Slalom in Méribel, die Disziplinwertung entschied deshalb der Österreicher Marcel Hirscher für sich. (Siehe Sport.) Das Lied der Einigkeit Alfons Hörmann führt den deutschen Sport in einen Rausch: Alle sind jetzt für Hamburgs OlympiaBewerbung. Sport, Seite 32 Geld, Geld, Geld Kann die EZB mit ihrer Geldschwemme Europa retten? Erkenntnisse aus der Praxis klingen ernüchternd. Der Volkswirt, Seite 18 Briefe an die Herausgeber Seite 7 4<BUACUQ=eacfah>:W;l;V;m;o 2,50 € D 2954 A Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH; Abonnenten-Service: 0180 - 2 34 46 77 (6 Cent pro Anruf aus dem dt. Festnetz, aus Mobilfunknetzen max. 42 Cent pro Minute). Briefe an die Herausgeber: [email protected] Belgien 3,20 € / Dänemark 24 dkr / Frankreich, Griechenland 3,20 € / Großbritannien 3,10 £ / Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande 3,20 € / Österreich 3,20 € / Portugal (Cont.) 3,20 € / Schweiz 4,80 sfrs / Slowenien 3,20 € / Spanien, Kanaren 3,20 € / Ungarn 840 Ft chenland wirklich voranbringen könnten. Doch die Beschlüsse in der Nacht zum Samstag und die Liste, die Alexis Tsipras demnächst (schon an diesem Montag in Berlin?) vorlegen will, werden im besten Fall nur wettmachen können, was die neue griechische Regierung in den wenigen Wochen ihrer Amtszeit angerichtet hat. Alles andere wäre so, wie wenn von der Linkspartei erwartet worden wäre, die DDR in blühende Landschaften zu verwandeln. Was also immer passiert in den kommenden Tagen und Wochen, Reformen hüben und Hilfspakete drüben, es wird nicht reichen und noch eine ganze Zeitlang so weitergehen wie bisher. Wie tief das Gefälle zwischen Griechenland und dem Rest der Eurozone ist, wie groß deshalb der griechische Reformbedarf, lässt sich an einer Bemerkung des SPD-Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann ablesen. Er schenkte den Griechen reinen Wein ein, indem er vorschlug, deutsche Verwaltungsfachleute nach Griechenland zu schicken, „erfahrene Leute aus den Kommunen“, die aufbauen sollen, was F. A. Z. im Internet: faz.net es nach deutschem und europäischem Verständnis dort nicht gibt: einen Staat, der den Namen verdient. Hätte nicht ein SPD-Politiker, sondern ein CDU-Politiker den Vorschlag gemacht, wäre er, wie jetzt schon Angela Merkel, inmitten von Besatzungsoffizieren der Wehrmacht auf die Titelseite einer Illustrierten montiert und verhöhnt worden. Doch im 25. Jahr nach der deutschen Einheit hat Oppermanns Idee noch eine ganz andere Seite. Er wird sich gesagt haben: Wenn die deutsche Einheit blühende Landschaften schuf, warum nicht auch die europäische? Wenn schon im Osten, warum nicht auch im Süden? Dazwischen liegen Welten, von der Verfassung bis zu Mentalitäten, die sich so schnell nicht ändern lassen. Aber allein der Gedanke zeigt, dass es nicht stimmt, in allem, was der Euro angeblich anrichtet, nur eine Spaltung oder gar den Rückfall des Kontinents in voreuropäische Gewohnheiten zu sehen. Die Finanz- und Schuldenkrise hat die Eurozone auch jenseits der Bank- und Geldangelegenheiten stärker verschmolzen, als ihren Völkern bewusst geworden ist. Oder glaubt jemand, Deutschland wäre das beliebteste Einwanderungsland in Europa ohne Euro? Das und vieles andere lässt sich nicht mit Geld aufwiegen. Übrigens auch nicht die deutsche Einheit, nicht einmal mit noch so viel D-Mark. Arabische Dämmerung Von Christoph Ehrhardt ie Terroranschläge der vergangeD nen Woche bestätigen alle Befürchtungen, dass der arabischen Welt noch viele Jahre der Gewalt, der Krise und des Terrors bevorstehen. Ob es tatsächlich die „Ritter des Kalifats“ waren, die Touristen in Tunis ermordeten, ob wirklich der „Islamische Staat“ hinter dem Blutbad steckt, das in Sanaa angerichtet wurde, ist noch nicht abschließend geklärt. Doch die Botschaften der Terrororganisation waren eindeutig: Der „Islamische Staat“ will weiter expandieren. Der amerikanisch geführten Koalition mag es in den vergangenen Wochen und Monaten gelungen sein, den Vormarsch der Terroristen in Syrien und im Irak zu stoppen. Doch diese Anstrengungen werden nicht ausreichen, die Anziehungskraft der Islamisten einzudämmen. Abu Bakr al Badgadi exportiert seine Ideologie in die ganze Region, auch wenn er geschwächt ist. Der Terror von Tunis und Sanaa zeigt außerdem, dass scheiternde Staaten ebenso betroffen sind wie die „Hoffnungsträger“. Tunesien und der Jemen stehen nach der „Arabellion“ an den jeweiligen Enden der Skala: Der Jemen ist gescheitert, Tunesien blickt nach vorn. Doch in beiden Ländern konnte der islamistische Extremismus Wurzeln schlagen und gedeihen – mit unterschiedlichen Folgen, aber ähnlichen Ursachen. Die Gewaltherrschaft der arabischen Sicherheitstechnokratien, ihr Nepotismus und die soziale Ungerechtigkeit haben in den vergangenen Jahrzehnten in der ganzen Region reichlich Stoff für Hassprediger angesammelt. Die Jemeniten und die Tunesier vertrieben nach ihrem Wutanfall ihre Diktatoren. Der Jemen versank im Chaos, wurde zum Schlachtfeld innerer Machtkämpfe, aber auch des iranisch-saudischen Konflikts und des sunnitisch-schiitischen Gegensatzes. Als sicherer Rückzugsort für Dschihadisten steht das Land für all die Probleme, die Anlass für düstere Prognosen bieten. In Tunesien siegte Bürgerpatriotismus über Machtwillen, wurde eine offene Debatte über die Rolle der Religion in Staat und Gesellschaft geführt, wurden demokratische Wahlen abgehalten. Die „Arabellion“ schien hier tatsächlich ein arabischer Frühling zu sein. Dennoch zogen etwa 3000 junge Dschihadisten auf die Schlachtfelder der Levante oder besuchten Trainingscamps in Libyen. Der Angriff auf das Nationalmuseum zeigt, wie zerbrechlich das Land noch immer ist. Präsident Béji Caïd Essebsi und die Regierung haben sich einem entschlossenen Kampf gegen den Terrorismus verschrieben, und schon vor dem Anschlag hatte Sorge geherrscht, dass in diesem Kampf auch neugewonnene Freiheitsrechte geopfert werden könnten. Das neue Antiterrorgesetz, dessen Verabschiedung lange verschleppt wor- den war, könnte nun schärfer ausfallen, als es einer jungen Demokratie guttut. Seilschaften aus dem alten Sicherheitsestablishment wittern schon Morgenluft. Essebsis eindringlicher Appell an die Tunesier, in dieser Krise zusammenzustehen, ist nicht zuletzt ein Hinweis darauf, dass trotz des politischen Burgfriedens das Misstrauen und die Feindschaft zwischen den politischen Lagern noch lange nicht gewichen sind. Ebenso wenig wie das Misstrauen der frustrierten und perspektivlosen Jugend gegenüber den politischen Eliten. In die patriotischen Solidaritätsbekundungen mischen sich auch schon Schuldzuweisungen. Etwa an die Islamisten von Ennahda, die in ihrer Regierungszeit zuließen, dass die radika- Der Schrecken von Sanaa und Tunis zeigt: Der „Islamische Staat“ will Krieg in ganz Arabien. len und militanten Islamisten immer stärker wurden. Sie sahen im Polizeiapparat die größere Gefahr als in den Salafisten, deren Umtrieben sie nur halbherzig entgegentraten. Die Versuche der Islamisten, ihre extremistischen Brüder einzuhegen, scheiterten ebenso wie die Versuche der Diktatur, den Islamismus einzukerkern. Selbst Essebsis eigene Schöpfung, die Regierungspartei Nidaa Tounes, wird von inneren Machtkämpfen erschüttert, seit die Galionsfigur in den Präsidentenpalast gezogen ist und anderen die Führung überließ – unter anderen seinem Sohn. Auch die neue Führung Tunesiens leidet darunter, dass sie der vernachlässigten jungen Generation von heute auf morgen keine Perspektive bieten kann, weder sozial noch wirtschaftlich. Gerecht geht es trotz fortschrittlicher Verfassung und freier Wahlen noch immer nicht zu in Tunesien. Die Glaubwürdigkeit des Demokratisierungsprojekts steht auf dem Spiel. Ob im Jemen oder in Tunesien – ohne eine wirkliche Teilhabe der Bevölkerung wird kein innerer Frieden einkehren, wird der Terrorismus weder besiegt noch eingedämmt werden können. Wenn es aber einen Staat im arabischen Raum gibt, der das schaffen könnte, dann ist es immer noch Tunesien. Die Sicherheitskräfte brauchen dafür dringend bessere Ausrüstung und bessere Ausbildung. Das Land braucht Investitionen, denn es steht ihm ein langer und harter Kampf gegen die Wirtschaftskrise bevor. Der Westen muss seine Ankündigungen wahr machen und den Tunesiern – mit allen Mitteln – in ihrem Kampf beistehen. Sonst erlischt selbst Tunesien als letzter Hoffnungsschimmer in der arabischen Dämmerung.
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