Chance auf Politikwechsel in Israel Deutschland, deine Zombies Benjamin Netanjahu will Ministerpräsident bleiben. Aber eine mögliche Mitte-Links-Koalition könnte die Wahl für sich entscheiden. Seiten 2 und 3 Daniel Kehlmann stellt in »Kommt, Geister« seine literarischen Hausgötter vor und zeigt sich ungewohnt politisch. Seite 15 Grafik: 123rf/Stephen Finn Dienstag, 17. März 2015 70. Jahrgang/Nr. 64 Bundesausgabe 1,70 € STANDPUNKT www.neues-deutschland.de Schlimmer Finger Michel will nicht Velten Schäfer über den Wehretat im Theater der Meinungsumfragen Es ist so eine Sache mit den Umfragen, etwa mit der neuen von »Yougov« für dpa: Demnach sind 49 Prozent der Deutschen für eine Anhebung des Wehretats, woraus die Schlagzeilenmaschinerie ein »Umdenken in Krisenzeiten« und dergleichen macht. Logisch klingt das im Vergleich zu Daten desselben Instituts vom Jahreswechsel, als nur 35 Prozent für einen höheren Militäretat waren. Doch bevor nun die Analytiker zum Griffel greifen, empfiehlt sich ein weiterer Blick ins Archiv: Dort findet sich etwa ein »Deutschlandtrend« von Infratest dimap aus dem Herbst, als sogar 55 Prozent mehr Geld für die Truppe wollten. Lautet die richtige Überschrift also doch eher »Unterstützung für mehr Wehrausgaben sinkt«? Stimmungslagen sind komplexer als Balken- oder Kuchendiagramme. Und erst recht ist Vorsicht geboten, wenn es um die Gründe geht: Obwohl von »Yougov« die Aufrüstungsfrage mit Blick auf die globale Konfliktlage gestellt wurde, ist der Zusammenhang des Ergebnisses mit IS, Donbass und Boko Haram nicht eindeutig: Es können auch andere Motive als das abgefragte hinter einem Ja stehen – bis hin zum verletzten Stolz einer Maschinenbauernation angesichts kaum flugfähiger Hubschrauber. In eine solche Richtung deuten womöglich wiederum »Yougov«Daten von Ende Februar, als 68 Prozent mehr militärische Außenpolitik ablehnten. Und hier sind die Werte derart stabil, dass sich tatsächlich analysieren lässt: »Der deutsche Michel will das nicht«, muss der Tenor lauten. Athens Finanzminister und die deutsche Öffentlichkeit Berlin. Griechenlands Premier Alexis Tsipras ist zuversichtlich, bis Ende der Woche eine Einigung mit den europäischen Gläubigern über die kurzfristige Finanzierung seines Landes zu erreichen. Derweil wurde bekannt, dass der SYRIZA-Chef kommenden Montag Kanzlerin Angela Merkel in Berlin trifft. Und: Auch Athens konservativer Präsident Prokopis Pavlopoulos macht sich für deutsche Reparationszahlungen stark. Solche Nachrichten interessierten am Montag allerdings kaum – fast ausnahmslos richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Frage, ob Finanzminister Yanis Varoufakis bei einem Auftritt in Zagreb im Zusammenhang mit Deutschland den Stinkefinger in die Kamera gehalten hat oder nicht. Der Politiker war mit diesem Vorwurf in der ARD-Sendung »Günther Jauch« konfrontiert worden, dort waren Geste und begleitende Äußerungen indes aus dem Kontext gerissen worden. Varoufakis bestand am Montag darauf, dass das Video gefälscht worden sei – was die ARD abstritt. Der bayerische Finanzminister Markus Söder von der CSU nahm den Ball umgehend auf und beschuldigte Varoufakis »offensichtlich im deutschen Fernsehen die Unwahrheit gesagt« zu haben. Dagegen sprach die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, von einem einzigen »Ablenkungsmanöver«. Mit der Debatte über die Geste von Varoufakis werde von den eigentlichen Konflikten abgelenkt. Es gebe kein Problem zwischen »den Deutschen« und »den Griechen«, die Grenze verlaufe vielmehr zwischen oben und unten, so Kipping. Ob nun mit oder ohne Finger: Was Yanis Varoufakis wirklich über Deutschland und den Kapitalismus denkt, können Sie übrigens im aktuellen nd-Dossier über den »Griechischen Frühling« lesen: Alles über SYRIZA, die Berliner Blockadepolitik, die linke Soli-Debatte und vieles mehr. Auf 64 Seiten. Ab Dienstag am Kiosk oder direkt beim »nd«. tos Seite 5 Foto: dpa/Maurizio Gambarini Polizei riegelt Frankfurt ab Blockupy kritisiert Einsatz vor Eröffnung des EZB-Neubaus Frankfurt am Main. Angesichts der geplanten Proteste des antikapitalistischen Blockupy-Bündnisses ist die Europäische Zentralbank (EZB) zwei Tage vor ihrer Eröffnung hermetisch geriegelt worden. Um den Neubau wurden am Montag Gitter aufgestellt und mit NATO-Draht gesichert. Zu den Protesten am Mittwoch werden 10 000 Teilnehmer aus dem In- und Ausland erwartet. Blockupy plant eine Kundgebung auf dem zentralen Römerberg und anschließend eine Demonstration zum Opernplatz. Am frühen Morgen sollen zudem die Eingänge der EZB blockiert werden. Die Polizei ist nach eigenen Angaben mit Kräften »im mittleren vierstelligen Bereich« im Einsatz. Vertreter des Bündnisses übten scharfe Kritik an dem Polizeieinsatz in der Finanzmetropole. »Fast alle Wasserwerfer des Landes, GSG9-Einsatz, 100 Kilometer Zaun und fast 10 000 Polizeibeamte – die Einsatzplanung der Polizei zeigt überdeutlich, dass das Gerede von Dialog und Deeskalation nur eine PR-Maßnahme der schwarz-grünen Landesregierung ist«, teilte Frederic Wester mit. Als Erfolg für Blockupy wertete Hannah Eberle, dass die »pompöse Eröffnungsfeier« der Zentralbank auf das Niveau »einer Abifeier« geschrumpft sei. »Am Mittwoch werden wir zu Ende bringen, was die EZB selbst begonnen hat: Mit Tausenden Menschen aus Frankfurt und ganz Europa werden wir die EZB-Eröffnungsfeier vollständig verhindern«, so Eberle. Nach Kritik aus Politik und Medien forderte auch der Deutsche Journalistenverband freien Zugang für Pressevertreter zur Eröffnungsfeier. Zugelassen sind nur wenige Journalisten, darunter Agenturen und der Hessische Rundfunk. Derweil hat der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) angekündigt, dass die Polizei bei den Protesten konsequent gegen Gewalttaten einschreiten wird. Sie wolle sowohl die Arbeitsfähigkeit der EZB und deren Eröffnungsfeier sichern als auch das Recht auf friedliche Demonstration, erklärte der Minister. Agenturen/nd Foto: photocase/secretgarden UNTEN LINKS Guten Morgen, Kollege Schmidt, ich rufe Sie aus dem Büro an. Haben Sie sich unser Angebot überlegt? Die junge Frau mit den Kopfhörern versucht, in der Berliner Straßenbahnlinie M 2 gleichzeitig zu telefonieren, aus ihrem Pappbecher Kaffee zu schlürfen und das Aktenmäppchen aufzuheben, welches ihr gerade ein Kind mit Rucksack heruntergerissen hat. Aus ihrer Wut über diese blöde Hast im öffentlichen Nahverkehr der Bundeshauptstadt macht sie kein Geheimnis. Sie möchte hier einfach nur in Ruhe arbeiten, ist das so schwer zu verstehen? Das Kind nennt sie Meckerziege und streckt heimlich die Zunge heraus, ehe es seine Mutter an der nächsten Haltestelle aus der Tram reißt. Es sollte froh sein, dass es überhaupt noch mitfahren darf in diesem Kontor auf Rädern, wo es morgens schon wie im Callcenter zugeht, weil von der ratternden Schiene aus die halbe Welt angebimmelt wird. Aber gegen Berliner Büromieten ist der Preis für eine Umweltkarte eben Pillepalle. ott ISSN 0323-3375 Studie: Jeder zweite Deutsche will aufrüsten Poroschenko fordert in Berlin erneut Sanktionen gegen Russland und erfährt freundliche Distanz Waffenexport stieg weltweit USA und Russland bleiben führend Beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Poroschenko am Montag in Berlin bremste die Bundeskanzlerin Erwartungen hinsichtlich weiterer Sanktionen gegen Russland. Von Uwe Kalbe Petro Poroschenko durfte sich in Berlin über Respektsbekundungen der deutschen Bundeskanzlerin freuen. Beim ersten Staatsbesuch in Berlin nach seiner Wahl versicherte sie dem ukrainischen Präsidenten am Montag zugleich, dass Deutschland das umstrittene Referendum auf der Krim unverändert für völkerrechtswidrig hält, das für die Angliederung der Halbinsel vor einem Jahr an Russland die rechtliche Begründung lieferte. Damit sei die europäische Friedensordnung in Frage gestellt worden, so die Kanzlerin. Poroschenko hatte in einem Interview der »Bild«-Zeitung zuvor die Gelegenheit genutzt, Moskau erneut für angebliche Verletzungen des Minsker Friedensvertrages zu kritisieren. Dabei verlangte er auch eine Verlängerung der Sanktionen gegen Russland. Zugleich nannte er es »undenkbar«, dass Russland die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 ausrichte, so- lange russische Soldaten in der Ostukraine kämpften. Umgehend erfolgte der Einspruch aus Moskau zum letzten Punkt: Alle Verpflichtungen als Organisator der Weltmeisterschaft würden rechtzeitig erfüllt, beteuerte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Zum Thema Sanktionen äußerte sich Angela Merkel bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Poroschenko gleichwohl zurückhaltend. Solche Sanktionen müssten verhängt werden, wenn sie unvermeidlich seien. »Aber wir wollen sie nicht«, sagte Merkel. »Wenn es eine neue Lage gibt, müssen wir neu entscheiden.« Der EU-Gipfel Ende der Woche in Brüssel werde voraussichtlich keine neuen Strafmaßnahmen beschließen. Mit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen besuchte Poroschenko das Bundeswehr-Krankenhauses in Berlin. Man werde den Menschen in der Ukraine weiter helfen, ließ die Ministerin wissen. In den nächsten Tagen werden weitere 20 schwer verwundete ukrainische Soldaten zur Behandlung in Deutschland erwartet. Zu Beginn seines Besuches war Poroschenko am Morgen von Bundespräsident Joachim Gauck empfangen worden. Unterdessen sorgen in Berlin Berichte für Aufregung, dass an den Kämpfen in der Ukraine möglicherweise auch Kämpfer aus Deutschland beteiligt sind. Unter Berufung auf Sicherheitskreise hatte die »Welt am Sonntag« berichtet, mittlerweile hätten sich mehr als 100 Bundesbürger den aufständischen Separatisten angeschlossen. Bei den meisten handele es sich um sogenannte Russlanddeutsche, etliche seien ehe- »Wir sind bereit zu notfalls neuen Sanktionen, die aber kein Selbstzweck sind.« Angela Merkel malige Bundeswehrsoldaten. Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler, geht allerdings davon aus, dass in dem Konflikt Kämpfer aus Deutschland auf beiden Seiten »unterwegs sind«. Er sehe hier ein vergleichbares Risiko wie bei zurückkehrenden Dschihadisten aus Syrien, gaben Agenturen Erler am Montag wieder. Die Entwicklungen in der Ukraine liefern auch die Begründung, eine sich vermeintlich wandelnde Stimmung in der deutschen Bevölkerung zu konstatieren, was militärische Schlussfolgerungen für den Westen und Deutschland angeht. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der dpa unterstützten 49 Prozent der Befragten eine Aufstockung des Etats für die Bundeswehr, nur 36 Prozent waren dagegen. Der Bundesvorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, sah darin ein Zeichen, dass die deutsche Bevölkerung binnen des letzten halben Jahres »deutlich sensibler für Fragen der äußeren Sicherheit geworden« sei. »Die Gründe dafür dürften eindeutig in den Entwicklungen an den europäischen Grenzen liegen«, so der Oberstleutnant in seiner Mitteilung weiter. »Wäre Deutschland im Jahr 2010 mit den heutigen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen, mit dem Terror des IS oder dem Agieren Russlands, konfrontiert gewesen, wäre weder die Wehrpflicht derart unüberlegt ausgesetzt noch die Bundeswehr mit überzogenen Sparauflagen belastet worden.« Mit Agenturen Stockholm. Der weltweite Export von Rüstungsgütern ist laut einer Studie weiter angestiegen. Zwischen 2010 und 2014 seien 16 Prozent mehr Waffen ausgeführt worden als in den fünf Jahren davor, erklärte das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI in einem am Montag veröffentlichten Bericht. Demnach bleiben die USA der größte Waffenexporteur, gefolgt von Russland, China, Deutschland und Frankreich. Laut SIPRI hat China Deutschland von der Liste der drei größten Waffenexporteure der Welt verdrängt. Die wichtigsten Importeure waren Indien, Saudi-Arabien, China und die Vereinigten Arabischen Emirate. Die Golfstaaten haben ihre Einfuhren insgesamt um 71 Prozent gesteigert. Bei den Exporten führten die USA 2010 bis 2014 mit einem Anteil von 31 Prozent, während Russlands Anteil 27 Prozent betrug. Gegenüber dem Zeitraum 2005 bis 2009 erzielten die USA demnach ein Plus von 23 Prozent, während Russlands Exporte um 37 Prozent wuchsen. Unterdessen schossen Chinas Waffenexporte im Vergleich zu den fünf Jahren davor um 143 Prozent in die Höhe. Trotzdem liegt die Volksrepublik mit einem Anteil von fünf Prozent am globalen Waffenhandel immer noch deutlich hinter den USA und Russland. Die Exporte deutscher Waffenfirmen seien um 43 Prozent gesunken, so die Stockholmer Friedensforscher. Allerdings habe Deutschland 2014 mehrere große Aufträge aus Staaten in Nahost erhalten. epd/nd Kommentar Seite 4
© Copyright 2024 ExpyDoc