Wochenplan

Joschka Fischer: „Fragen dürfen Sie alles“
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Aber antwortet der Exaußenminister darauf auch?
„Wir brauchen ein stärkeres Europa“, sagt er im tazGespräch Über Merkel, Putin und die Grünen SEITE 4, 5
AUSGABE BERLIN | NR. 10553 | 44. WOCHE | 36. JAHRGANG | € 3,50 AUSLAND |
€ 3,20 DEUTSCHLAND
5.500,-¤ Preisgeld
Einsendeschluss:
30. November
2014
www.zenithonline.de/deutsch/fotopreis
| SONNABEND/SONNTAG, 1./2. NOVEMBER 2014
US-Wahl
Die Jäger
des verlorenen Schatzes
Kaffee trinken mit
Maschinengewehr
Das Recht, eine Waffe
zu tragen, betrachten
viele Amerikaner als
Grundrecht. Eine Abgeordnete will das ändern – und legt sich
vor der Kongresswahl
mit einer mächtigen
Lobby an SEITE 8, 9
Der stärkste Satz
„Mein Name
bedeutet
Mühsal. Es
geht um die Anstrengung, im Leben ein
guter Mensch zu sein“
Der Berliner Mediziner JIHAD ALABDULLAH über
den Missbrauch seines Vornamens durch radikale
Fanatiker SEITE 32
Autoren dieser Ausgabe: SCHOLASTIQUE
MUKASONGA erzählt vom heutigen Ruanda,
ULI HANNEMANN beschreibt das Novembergrau,
und KARIM EL-GAHWARY blickt nach Syrien
b  taz.berlin
RAUBKUNST Vor einem Jahr wurde mit dem Fall Gurlitt
klar, wie viele Kunstwerke verschollen sind, die von
den Nazis geraubt wurden. Immer noch sind es nur
eine Handvoll Leute, die Licht ins Dunkel bringen.
Die taz.am wochenende hilft mit einer neuen
Suchmaschine Gesellschaft SEITE 18–20
Mauer Das Geschäft mit
der Teilung. In Uniform am
Checkpoint Charlie SEITE 44, 45
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02
Kompass
SONNABEND/SONNTAG, 1./2. NOVEMBER 2014  TAZ.AM WOCHENENDE
Aus dem Inhalt
......................................................................
Politik
Ungarn Der erfolgreiche
Protest gegen die
Internetsteuer Seite 3
Altgrün Joschka Fischer im
Gespräch Seite 4, 5
Maut Droht der „gläserne
Autofahrer“? Seite 7
Reportage
USA Wie vor der
Kongresswahl ein
Waffenlobbyist eine kritische
Abgeordnete loszuwerden
versucht Seite 8, 9
Argumente
Demos Ein sinnfreies
Gewaltspektakel? Genau das
sind die Hooligan-Krawalle
nicht Seite 10
Kultur
Blicke in das
schwarze Loch
Popmusik Hätte der
Calypso-Beat in den 1950ern
um ein Haar den Rock ’n’
Roll verdrängt? Seite 16
Gesellschaft
Streitfrage Serien oder
Sozialleben? Seite 17
Titel Wie zwei Detektive
nach Bildern „entarteter
Kunst“ fahnden Seite 18–20
Ehrung Eine mutige Frau
und ihr langer Kampf für
Gleichberechtigung Seite 21
TV-Kultur „Unter Kontrolle
schafft man keine
Dramen“, sagt der dänische
Erfolgsproduzent Ingolf
Gabold Seite 22, 23
Bildwelt Der Fotograf
Christian Jungeblodt
findet die Schönheit im
Novembergrau Seite 26, 27
Sachkunde
Islamismus Die wichtigsten
Dschihadistengruppen im
Vergleich Seite 29–32
Medien
Pressefreiheit Die „Lausitzer
Rundschau“ lässt sich von
Neonazi-Angriffen nicht
einschüchtern Seite 35
Reise
Russland Eine Reise zu
der Datscha, auf der Kohl
und Gorbatschow die
Wiedervereinigung
aushandelten Seite 36, 37
Leibesübungen
Palästina Trauer um den
größten Fußballer Seite 39
AUS DER TAZ SEITE 23
LESERBRIEFE SEITE 28
TV-PROGRAMM SEITE 34
DIE WAHRHEIT SEITE 4
LEKTIONEN
5Dinge,diewir
diese Woche
gelernt haben
1. Studenten sind unpolitisch
geworden
Die Studierenden von heute interessieren sich vor allem für ihre
Karriere und ihr privates Glück –
und immer weniger für Politik.
Laut dem jüngsten „Studierendensurvey“ hält nur ein Viertel
der Befragten politisches Geschehen für „sehr wichtig“. Rekordtiefstand auch bei der Rücklaufquote. Nur 18,6 Prozent der
angeschriebenen Studierenden
haben mitgemacht. Ein weiteres
Indiz für das Desinteresse? Vielleicht haben die politisch Interessierten schlicht keine Zeit, sich
uf der Klassenreise fiel
der Lehrerin erstmals
eine Veränderung auf.
In früheren Jahren habe
man beim Essensangebot einfach darauf geachtet, dass religiöse Vorschriften beachtet werden konnten. Aber jetzt sei die
Frage, was „haram“ und was „halal“ sei, plötzlich zum zentralen
Thema geworden. Und als eine
muslimische Schülerin etwas gegessen habe, was einige Klassenkameraden für verboten hielten,
habe ein regelrechtes „Religionsmobbing“ eingesetzt. Die Kinder
sind zwölf und dreizehn Jahre alt.
Einige Wochen später baten
zwei Jungen um Entbindung
vom Tafeldienst nach Schulschluss. Sie wollten zum Freitagsgebet in die Moschee. Kurz darauf waren es vier, dann sechs.
Wer sie denn dahin mitnähme,
fragte die Lehrerin. Ein libanesischer Klassenkamerad.
Sympathischer Junge, intelligent, immer ein bisschen auf
Krawall gebürstet. Der Lehrerin
gefällt das ganz gut. Sie ist in den
siebziger Jahren politisch aktiv
A
Cocula, Mexiko. Sie suchen nach einer Spur der Entführten: der Junge, der angeblich etwas gesehen
hat, und der Polizist mit Waffe. Einer Spur zu den 43 Studenten, die vor fünf Wochen das letzte Mal
lebend gesehen wurden, als die Polizei sie festsetzte. Inzwischen hat Staatspräsident Peña Nieto die
Eltern der jungen Männer empfangen. Aber kann das den Angehörigen Hoffnung bringen? In Mexiko
verschwimmen die Grenzen zwischen Staat, Politik und Drogenmafia immer mehr.
Foto: Lenin Ocampo Torres/EFE/dpa
neben dem Bachelorbüffeln
auch noch um die Beantwortung
von 20 eng bedruckte Seiten eines Fragebogens zu kümmern.
2. Die deutschen Banken sind
stressresistent
Alle 24 überprüften deutschen
Banken haben den sogenannten
Stresstest der EZB bestanden –
auch das Sorgenkind HSH Nordbank, das nach der Finanzkrise
vom Staat gerettet werden musste. Aus den Reihen der Opposition im Norden kommt aber die
Forderung, die HSH Nordbank
trotzdem abzuwickeln. Ihr Geschäftsmodell funktioniere einfach nicht. Wenn das mal keinen
Stress gibt.
3. Onlinegangster sind Muttersöhnchen
Wer sich online gratis Filme anschauen mag, landet meist in der
Südsee. Zumindest virtuell, denn
viele illegale Streamingseiten
enden auf .to, das Internetkürzel
von Tonga. Dort wird auf das Urheberrecht offenbar nicht so viel
Wert gelegt. In Deutschland
schon. Deshalb ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft Dresden
nun gegen zwei Betreiber mehrerer Websites. Nach den 23 und 25
Jahre alten Brüder wird öffentlich gefahndet. Zu Hause in ihrem Dorf in Schleswig-Holstein
traf sie die Polizei nicht an. Dort
wohnten sie zuletzt bei ihren Eltern. Und das, obwohl sie mit ihrem illegalen Internetgeschäft
Millionen verdient haben sollen.
4. Die Dortmunder lieben die
Dunkelheit
Dass es nun abends früher dunkel wird, darüber freut sich niemand außer den Spielern der Borussia Dortmund. Denn unter
Flutlicht haben sie in dieser Saison super gespielt – sonst nicht
so. „Wir sollten den Antrag stellen, nur noch abends zu spielen“,
sagte BVB-Trainer Jürgen Klopp
vor dem Duell gegen den FC Bayern. Er vermutet: Der Mittagsschlaf tat seinen Spielern gut.
5. Die Justiz gibt Rätsel auf
Es ist schon länger als ein halbes
Jahr her, dass Ex-Bayern-Präsident Uli Hoeneß zu dreieinhalb
Jahren Haft wegen Steuerhinterziehung verurteilt wurde. Nun
hat das Landgericht München II
das schriftliche Urteil veröffentlicht – in anonymisierter Form.
Das ist üblich und zugleich seltsam, weil ja jeder weiß, um wen
es geht. Trotzdem gibt die Justiz
mit den 50 Seiten Rätsel auf: Wer
sind denn nun die Banken A, B
und C, wer X, Y und Z, und was
steht hier: (…)? Eines lässt sich
aus dem Urteil in jedem Fall herauslesen: Hoeneß war ein krasser Zocker, der mit bis zu 500 Millionen Euro spekulierte. Und am
Ende hat er sich selbst verzockt.
Name und Adresse bitte
EINE LEHRERIN BRAUCHT RAT, WEIL IHRE SCHÜLER SICH FÜR DEN SALAFISMUS
BEGEISTERN. STATTDESSEN KOMMT DIE POLIZEI
.......................................................
BETTINA GAUS IST POLITISCHE
KORRESPONDENTIN DER TAZ
.......................................................
sammlungsort für Salafisten, der
Verfassungsschutz hat ein Auge
darauf. Sie informiert sich, ebenfalls im Rahmen ihrer Möglichkeiten, über Salafismus. Wofür
gibt es Sommerferien. Nach den
Verteidigungsministerin URSULA VON DER
LEYEN, als am Mittwoch in der Bundespressekonferenz in Berlin der Feueralarm losgeht.
Von der Leyen will sich eigentlich zur Attraktivitätsoffensive für die Bundeswehr äußern,
doch dann wird der Saal geräumt
SEBASTIAN ERB
..................................................................................................................
MACHT
geworden: Frauenbewegung, Anti-AKW-Bewegung. Die Haltung,
dass Protest gegen bestehende
Verhältnisse nichts Schlimmes
ist, hat sie sich bewahrt. Ebenso
wie ihre Ablehnung gegen jede
Form des religiösen Fundamentalismus.
Die Eltern? „Freundlich, gut
integriert.“ An religiösen Fragen
ihrem Eindruck nach in ähnlich
hohem Maße interessiert wie
Christen, die jedes Jahr einmal
den Gottesdienst besuchen – an
Heiligabend nämlich, um die
Spannung vor der Bescherung zu
erhöhen.
Die Lehrerin informiert sich
im Rahmen ihrer Möglichkeiten
über die Moschee, die bei einigen
Jungen in ihrer Klasse solche Begeisterung auslöst. Ein Ver-
Das Zitat
„Wir waren’s nicht“
Foto: Markus Schreiber/ap
Interview Die Schriftstellerin
Scholastique Mukasonga
über ihre Kindheit in Ruanda
und den Genozid Seite 12
Ferien setzt sie eine Doppelstunde zum Thema an. In der folgenden Woche kommt ihr libanesischer Schüler zu ihr: Er habe sich
in der Moschee mal erkundigt,
ob das alles so stimme, was sie da
sage. Und er solle ihr ausrichten,
bei ihnen gehe alles streng gewaltfrei zu. Wie soll sie auf diese
Botschaft reagieren?
Die Lehrerin bittet die Eltern
der sechs Jungen, die inzwischen
regelmäßig diese Moschee besuchen, um ein Gespräch. Informell, bloß keinen Vorgang daraus machen. Nur nicht den Gesprächsfaden abreißen lassen.
Die Eltern sind allesamt hilflos und ratlos. Ebenso wie die
Lehrerin. Einigkeit besteht darüber, dass man den Schülern
schlecht den Besuch des Frei-
tagsgebets verbieten kann. Das
wäre vermutlich kontraproduktiv. Aber was kann man stattdessen tun?
Der Lehrerin fällt nichts mehr
ein. Sie erkundigt sich nach Beratungsangeboten vor Ort, immerhin in einer mittleren Großstadt.
Nein, leider gebe es da bisher
nichts. Immerhin: Das Problem
scheint als solches erkannt worden zu sein. In verschiedenen
Bundesländern und Kommunen
sind inzwischen Anlaufstellen
eingerichtet worden. Nur für sie
gibt es eben noch keine. Pech.
Einige Tage später sucht ein
Polizeibeamter sie auf. Er habe
gehört, es gebe da ein Problem.
Und nun hätte er gerne Namen
und Adressen der betreffenden
Schüler.
Die Lehrerin sagt, das käme
überhaupt nicht infrage. Sie
habe Hilfe und Rat gesucht, nicht
Zwölfjährige staatlicher Beobachtung aussetzen wollen. Der
Polizist – „übrigens ein sehr netter und verständnisvoller Mann“
– verabschiedet sich. Die Lehrerin bleibt allein zurück.
Die Drei
SONNABEND/SONNTAG, 1./2. NOVEMBER 2014  TAZ.AM WOCHENENDE
AUS BUDAPEST ANNA FRENYÓ
UNBEHAGEN Regierungschef Viktor
ie Rufe des Volkes sind
bis ans Ohr von Viktor
Orbán gedrungen. Nach
einer Woche der Proteste
gibt Ungarns Ministerpräsident
nach. Die Internetsteuer werde
in dieser Form vorerst nicht eingeführt, kündigte er in seinem
wöchentlichen Freitagmorgeninterview an. „Wenn das Volk etwas nicht nur nicht mag, sondern es auch für unvernünftig
hält, sollte es nicht gemacht werden“, sagte er. Schließlich sei er
„kein Kommunist“. Für Mitte Januar stellte er eine „Nationale
Konsultation“ über das Internet
in Aussicht, denn das Internet generiere einen riesigen Profit, und
es wäre sinnvoll, einen Teil davon
im Land zu halten.
Der Regierung Orbán geht es
allerdings nicht nur um Geld, sagen Kritiker in Ungarn und im
Ausland. Der selbstherrlich regierende Ministerpräsident will
vor allem politische Gegner und
kritische Medien zum Schweigen
bringen. „Ein Muster ungarischen Regierungshandeln“ sah
die EU-Kommissarin Neelie
Kroes in der geplanten und nun
verschobenen Internetsteuer.
Den Aufschub haben sich die Ungarn erkämpft. Mehrere Tausend
Menschen sind ab Sonntag ver-
Orbán vertagt die Internetsteuer, die
Smartphone-Bewegung hat ihr Ziel
erreicht. Sind die Ungarn wieder im
Einklang mit dem Autokraten?
D
Ungarn
bleiben
online
gangener Woche in Budapest auf
die Straße gegangen, bis zum
Dienstag verbreitete sich die Protestwelle bis Szeged, Pécs, Miskolc, Debrecen und dutzend andere Städte im Land. Die Ungarn
demonstrierten gleichzeitig gegen die weitere Einschränkung
der
Kommunikationsfreiheit
und gegen die Orbán-Regierung.
Die in Ungarn übliche politische
Apathie wurde durchbrochen,
denn die Internetsteuer betrifft
alle Altersgruppen und alle sozialen Schichten.
„Es ist eine moralische Pflicht
zu demonstrieren“, sagt eine
Frau, so um die 50. Sie ist auf dem
Weg zur Demo am Dienstagabend an der Elisabethbrücke in
Budapest. „Das Internet ist ein
Mittel freier Kommunikation,
und das will unsere Regierung
hiermit auch kontrollieren.“ Sie
arbeitet in der kreativen Szene
Budapests und möchte ihren Namen nicht nennen. Sie hat Angst,
dass man ihr die Steuerbehörde
vorbeischickt – die sanft-diktatorische Einschüchterungsmethode der Orbán-Regierung
funktioniert.
In den dicht gedrängten Menschenmassen an der Elisabethbrücke marschieren die Generationen bunt gemischt. Junge Leute mit EU-Flaggen und Transparenten mit Botschaften wie „Freies Land, freies Internet“ und
„Korruptionsfreie Steuerbehörde“. Die Polizei ist überall – zwei
Tage zuvor hatten Demonstranten das Hauptquartier von Orbáns Fidesz-Partei mit alten
Computern beworfen. Einige
Protestierende zerstörten dann
auch die Ausrüstung des regierungstreuen Senders hír TV, und
die Polizei konnte noch verhindern, dass sie die Journalisten
angriffen.
Die ältere Generation demonstriert in
vorderster Reihe. „Ich sehe
meine Familie nur über Skype“,
erklärt eine ältere Dame die Präsenz der Pensionäre. Ihre Enkelkinder leben im Ausland, wie inzwischen mehrere hunderttausend junge Ungarn. Sie hält ihr
altes Handy hoch – gleichzeitig
werden tausende Smartphones
hochgehalten und erleuchten
die Elisabethbrücke. Ein Sinnbild
des Protests gegen die Internetsteuer. Immer wieder ertönen
Parolen wie „Orbán, verschwinde!“ und „Europa, Europa“.
Die Sehnsucht nach Europa
wird lauter während der gefühlten Zeitreise Ungarns in die Vergangenheit, die sich unter Orbán
abspielt. Der Parlamentspräsident László Kövér erwog am Tag
vor der Kundgebung gegen die
Internetsteuer einen möglichen
Austritt aus der EU. Schon nach
den Neuwahlen im Mai hielt er es
nicht für notwendig, dass eine
EU-Fahne am ungarischen Parlament hängt – zurzeit weht dort
nur die ungarische Flagge und
Korrupte Beamte,
die Annäherung an
Russland – und
die Internetsteuer
entfachten den Protest
die Szekler Fahne der ungarischsprachigen Volksgruppe im rumänischen Siebenbürgen.
Ein Teil der Menschen geht
aus der Demonstration zum Parlament und will dort die EU-Fahne aufhängen. Die Polizei versucht das zu verhindern, der Adrenalinpegel steigt. Die junge Politikerin Agnes Kunhalmi von
der sozialdemokratischen MSZP
rettet die Situation, als sie und ihre Kollegen mit großen EU-Fahnen aus dem Fenster des Parlamentsgebäudes winken.
Am Ende der Kundgebung singen die Demonstranten die ungarische Hymne am ClarkÁdám-Platz vor der Kettenbrücke am Null-Kilometer-Stein, der
einem historischen Nationaldenkmal gleichkommt. Die Demonstranten wollen ein Symbol
setzen. „Die Fidesz-Regierung
hat den Ungarn die Nationalgefühle, die Musik und die Tradition enteignet“, sagt ein 40-jähriger deutsch-ungarischer Klavierlehrer. Die Demonstranten würden zeigen, dass jeder ein Recht
darauf hat – unabhängig von seiner politischen Einstellung.
Die Atmosphäre in Ungarn
war bereits vor den Demonstrationen angespannt. Die OrbánRegierung mangelt es nicht an
Selbstbewusstsein, und sie hat
die Bevölkerung auf unterschiedliche Weise gegen sich gestimmt. Ungarns Öffnung nach
03
Osten, die Abwendung von der liberalen Demokratie, die Dämonisierung von Bürgerinitiativen
und die Einschränkung der Medienfreiheit haben das ganze
Jahr über zur Unzufriedenheit
beigetragen.
2014 fing mit einer Annäherung an Russland an – Ungarn
soll sein Atomkraftwerk in Paks
mit einem russischen Kredit
weiter ausbauen. Im Juli verkündete Premierminister Orbán,
dass der ungarische Staat sich
nicht weiter an liberale Werte
halten werde, sondern sich lieber
an Vorbildern wie Russland, China und der Türkei orientiere.
Im Sommer musste auch der
verantwortliche Chefredakteur
des kritischen Nachrichtenportals Origo gehen, das einer Tochterfirma der Deutschen Telekom
gehört. Der Vorfall ereignete
sich, unmittelbar nachdem das
Portal aufgedeckt hatte, dass Viktor Orbáns Kanzleichef, János
Lázár, in einen Spesenskandal
verwickelt war.
Des Weiteren sorgten die Sondersteuer für Medien für Aufregung im Land. Geradezu Unbehagen bereitet den Ungarn allerdings die Einreisesperre in die
USA für sechs regierungsnahe
ungarische Personen wegen Korruptionsvorwürfen, die Mitte
Oktober bekannt wurde. Mangels konkreter Informationen
bleibt Raum für Spekulationen:
Eine der Betroffenen könnte die
Chefin der Steuer- und Zollbehörde (NAV), Vida Ildikó, sein. Sie
äußerte sich bisher nicht zu den
Vorwürfen. Die Reaktionen auf
den ziemlich einmaligen Vorgang wirken von Regierungsseite wahlweise zynisch oder naiv.
Die Regierung Orbán erwarte eine Erklärung von den USA, die
momentan aus Persönlichkeitsrechtsgründen keine weiteren
Auskünfte gibt.
In dieser geladenen Stimmungslage entfachte am 21. Oktober die Meldung über die geplante Einführung einer Internetsteuer ein Feuer. Gleich am
ersten Tag modifiziert, hätte die
monatliche Rate für Privatpersonen etwa 2,30 Euro, für Firmen
rund 16 Euro betragen sollen. Orbán wollte seinen Plan durchsetzen, ohne vorher die Internetanbieter oder gar seine eigenen
Parteileute konsultiert zu haben
– selbst hochrangige Mitglieder
seiner Fidesz-Partei kritisierten
den Plan.
Ganz zurückziehen kann Viktor Orbán sein Vorhaben nun
nicht. Schließlich will er sein Gesicht nicht verlieren. Aber selbst
wenn es schließlich eine sehr
abgeschwächte Internetsteuer,
vielleicht unter einem anderen
Namen geben sollte, macht die
Dynamik dieser Protestbewegung Hoffnung.
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Ein Mann demonstriert am 26. Oktober
2014 in Budapest gegen Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán und die geplante Internetsteuer Foto: Puzzle Pix/imago