Nichts wie weg aus Ungarn

4 WELTPOLITIK
M I TT WOCH , 13. MÄ R Z 20 13
EU-Kommission
will Klimaschutz
verschärfen
Regierungschef Viktor Orban hat das Land umgekrempelt. In der Folge wandern immer mehr Menschen aus.
Bild: SN/EPA
Nichts wie weg aus Ungarn
Frustration. Weil sie das politische Klima nicht mehr aushalten, verlassen immer mehr
Ungarn ihr Land. Der Kurs von Premier Viktor Orban lässt viele Menschen sozial abstürzen.
CHRISTIAN-ZSOLT VARGA
BUDAPEST, BERLIN (SN, n-ost). Hätte Gabriella V. gewusst, was es bedeutet, in einem Berliner Bürgeramt einen Platz für ihre Tochter in
der Kindertagesstätte zu beantragen – sie hätte sich das mit dem
Auswandern wohl noch einmal
überlegt. Und wäre trotzdem gekommen. „Ich habe die Atmosphäre in Ungarn nicht mehr ertragen“, sagt die 36-jährige Kulturjournalistin aus Budapest und
fügt hinzu: „Ich war froh, wenn ich
am Monatsende 400 Euro verdient hatte.“ Vor zwei Wochen hat
sie ihre Koffer gepackt und ist mit
Kind, Lebensgefährten und Mutter nach Berlin ausgewandert.
Immer mehr Ungarn verlassen
das Land. Sie fliehen nicht nur aus
wirtschaftlichen Gründen, sondern auch vor der politischen und
moralischen Krise seit dem Antritt des rechtskonservativen Regierungschefs Viktor Orban. Allein nach Deutschland zogen laut
dem Statistischen Bundesamt von
2011 bis Mitte 2012 rund 65.000
Ungarn. Damit sind die Ungarn
neben Griechen, Spaniern und
Portugiesen die zurzeit am stärksten wachsende Einwanderungsgruppe aus EU-Ländern in
Deutschland.
Auch Eva F. ist froh, dem negativen Klima in Ungarn entkommen zu sein: „Die Stimmung im
Alltag ist katastrophal. Die Men-
schen sind depressiv und mit dem
täglichen Existenzkampf beschäftigt. Ich habe das nicht mehr ausgehalten.“ Die 36-jährige Ungarin
bekommt täglich E-Mails von
Freunden und Bekannten, die sie
um Hilfe bitten, weil sie auch weg
wollen. Eva war in ihrer ostungarischen Heimat Buchhalterin in
einem Hotel. Seit einem halben
Jahr arbeitet sie in einer badenwürttembergischen Kleinstadt als
Für Ungarn kommt
das heute einem
Exodus gleich.
G. Matolcsy, Notenbankchef
Zimmermädchen. Abends putzt
sie in einem Kaufhaus.
Vor allem jüngere, gut ausgebildete Fachkräfte und Akademiker
kehren ihrem Land den Rücken.
Der ungarische Ex-Wirtschaftsminister und neue Notenbankchef
György Matolcsy sprach kürzlich
von 500.000 Menschen, die Ungarn in den vergangenen fünf Jahren verlassen hätten. Für den
Zehn-Millionen-Einwohner-Staat
komme das einem Exodus gleich.
Die Migrationsexpertin Agnes
Hars vom Budapester Wirtschaftsforschungsinstitut Kopint-
Tarki hält diese Zahl für übertrieben, schätzt die Lage aber als bedenklich ein. „Plötzlich hat eine
starke Migration aus Ungarn begonnen“, sagt Hars und erklärt,
dass die Bereitschaft der Ungarn,
das Land zu verlassen, bereits
nach den Sparmaßnahmen der
Vorgängerregierung angestiegen
sei. „Doch nach den ersten politischen und wirtschaftlichen Reformen der Fidesz-Regierung entfaltete sich dieses Potenzial schnell.“
Premierminister Viktor Orban
und seine Fidesz-Partei haben das
Land nach dem Amtsantritt 2010
schlagartig umgekrempelt. Mit einer aggressiven Politik gegen ausländische Konzerne verschreckte
Orban internationale Investoren.
Während der ungarische Forint
abstürzte, stiegen die Preise an
Supermarktkassen und Zapfsäulen. Orbans unsoziale Steuerpolitik katapultierte viele Ungarn aus
der Mittelschicht in die Armut.
„Die aktuelle Einkommensentwicklung zeigt, dass sehr große
Bevölkerungsteile existenziell von
der Wirtschaftspolitik getroffen
wurden“, sagt Hars.
Orban beschnitt die Rechte der
Verfassungsrichter und höhlte mit
einem repressiven Mediengesetz
die Pressefreiheit aus. Mit der
neuen ungarischen Verfassung
machte er klar: Akzeptiert wird,
wer national ist. „Viele Theaterdirektoren trauen sich nicht mehr,
kritische Stücke aufzuführen. Im
BRÜSSEL (SN, Reuters). Die EUKommission will die Klimaschutzziele bis zum Jahr 2030
verschärfen. Dann solle die Gemeinschaft 40 Prozent weniger
Treibhausgase ausstoßen als
1990, heißt es in einem Kommissionsentwurf. Bisher sind
bis 2020 Reduktionen in Höhe
von 20 Prozent vereinbart. Es
gilt als sicher, dass dieses Ziel
erreicht wird. Die EU hat sich
bereits dazu bekannt, bis 2050
die Treibhausgase um mindestens 80 Prozent zu reduzieren,
sodass neue Zwischenziele beschlossen werden müssen. Zudem heißt es in dem Papier, bis
2030 solle der Anteil erneuerbare Energien auf 30 Prozent
steigen. Bisher sind bis 2020
rund 20 Prozent vorgesehen.
WELT KOMPAKT
staatlichen Fernsehen werden Demonstrationen der Opposition
verfälscht dargestellt“, berichtet
die Journalistin Gabriella V.
Auch die Umtriebe der rechtsextremen Jobbik-Partei, die im
Parlament „Judenlisten“ fordert
und öffentlich gegen Roma hetzt,
empören sie: „Dass Rassenhass
und Neonazismus in Ungarns Gesellschaft ungebremst grassieren
dürfen, ist für mich inakzeptabel.
Ich will nicht, dass mein Kind sich
so etwas anhören muss.“
Die Regierung will nun mit einem neuen Gesetz die Abwanderung künftiger Akademiker verhindern. Es verpflichtet Studenten, nach ihrem Studium das Doppelte ihrer Ausbildungszeit in
Ungarn zu arbeiten. Wer nicht
bleiben will, muss Ausbildungsgebühren und Studienbeihilfen zurückerstatten oder von vornherein auf staatliche Förderung verzichten. Gymnasiasten und Studenten laufen seit Monaten Sturm
gegen diese Pläne.
Kaum ein Auswanderer lässt
Land, Familie und Freunde freiwillig zurück. Auch die Neuberlinerin Gabriella V. nicht: „Ich bin
sehr traurig. Ungarn ist meine
Heimat. Ich wäre nicht gegangen,
wenn man mich nicht dazu gezwungen hätte. Ich empfinde es
nicht als meine eigene Entscheidung, sondern als Reaktion. Jemand anders hat das für mich entschieden.“
Bodenschätze locken
in Grönland
KOPENHAGEN (SN, dpa). Grönland wählte am Dienstag ein
neues Parlament. Die 57.000
Bürger leben derzeit teilautonom in einer „Reichsgemeinschaft“ mit Dänemark. Der
linkssozialistische Regierungschef Kuupik Kleist (54) strebt
die völlige Unabhängigkeit an.
Er setzt auf massive neue Einnahmen durch die infolge des
Klimawandels
wahrscheinlicher gewordene Ausbeutung
der Bodenschätze.
Diplomat wird
Übergangspremier
SOFIA (SN, APA). Der Karrierediplomat Marin Rajkow wird an
der Spitze der bulgarischen
Übergangsregierung stehen, die
das Land bis zu der vorgezogenen Parlamentswahl am 12. Mai
leiten soll.
Nigerias Zentralbank
warnt vor China
LAGOS (SN). Der Chef der Zentralbank Nigerias , Lamido Sanusio, warnt eindringlich vor eine Öffnung Afrikas „für eine
neue Art des Imperialismus“.
Wie er in der „Financial Times“
schrieb, ist China derselben
Ausbeutungspraktiken
fähig
wie die alten Kolonialmächte.
Das EU-Mitgliedsland Ungarn ist auf einem Irrweg
Mit der weitgehenden Ausschaltung des Verfassungsgerichts macht die Regierung von Ministerpräsident
Viktor Orban einen weiteren großen Schritt weg von der Demokratie.
A
m 15. März 1848 standen die Ungarn gegen Zensur und Frondienst und für Pressefreiheit auf.
165 Jahre später versucht eine ungarische Regierung das Land dorthin zurückzuführen, wo es damals stand. Die
neuesten Aktionen der Regierung von
Viktor Orban sollten in ganz Europa die
Alarmglocken läuten lassen:
Ein Verfassungsgericht, das seiner
Funktion verlustig geht. Gesetze, die
sich gegen die Ärmsten der Armen richten – und eine Regierung, die immer
mehr jeden Realitätssinn zu verlieren
scheint und sich offenbar im totalen
Machtrausch befindet.
So sieht die Lage bei unserem östlichen Nachbarn aus. Diese Entwicklung
hat nicht erst am Montag mit den Beschlüssen begonnen, die dem Verfassungsgericht nahezu seine Kontroll-
funktion nimmt. Viktor Orban hat nie
ein Hehl daraus gemacht hat, welche
Vorhaben er für das Land hat.
Trotzdem hat Europa die meiste Zeit
demonstrativ in die andere Richtung geblickt, wenn Orban gegen Roma vorging oder antisemitische Freunde in
hohe Positionen hievte. Man hat zugesehen, als Medien und Theater an die
Kandare genommen wurden – zugegebenermaßen mit gerümpfter Nase,
mehr aber auch nicht.
Jetzt allerdings zeigt Regierungschef
Orban ganz deutlich, was er von einer
demokratischen Staatsordnung hält –
nämlich nichts. Das Verfassungsgericht
darf in Ungarn nur noch Beschlüsse des
Parlaments absegnen, das von Orbans
Partei dominiert wird. Obdachlos zu
sein wird strafbar. Studenten, die keine
Studiengebühren bezahlt haben, müssen mehrere Jahre in Ungarn bleiben –
um die wichtigsten Punkte zu nennen,
die Orban jetzt durchgepeitscht hat.
Aber nicht diese menschenverachtenden neuen Regeln sind es, die den
Politikern in der EU die Schweißperlen
auf die Stirn treiben. Wirkliche Sorge
herrscht über einige wirtschaftliche
Ausritte. So werden neuerdings ausländische Grundbesitzer enteignet, um nur
ein Beispiel zu nennen. Und das wird
praktiziert von einem Mitglied einer
Europäischen Union, deren Ziel es doch
immer gewesen ist, ebensolche Entwicklungen nicht zuzulassen und Gren-
zen zu überwinden. Im Internet stellte
jemand ziemlich verzweifelt die Frage,
was die EU jetzt tun könne. Eine berechtigte Frage und eine berechtigte
Verzweiflung. Den antidemokratischen
Aktionen des Herrn Orban und seiner
Kumpane ist viel zu lang zugesehen
worden. Jetzt muss die EU tatsächlich
energisch gegen den Marsch Ungarns in
ein autoritäres System vorgehen. Was
viele Menschen in Europa übrigens
schon lang verlangen.
Am 15. März jedenfalls – dem Jahrestag des Beginns der ungarischen Revolution von 1848 – werden jene, die sich
in Österreich wirklich Sorgen um die
Entwicklung im Nachbarland machen,
vor der ungarischen Botschaft in Wien
demonstrierenderweise ihre Meinung
sagen.
Susanne Scholl hat von 1991 bis 2009 für den
ORF aus Moskau berichtet und lebt jetzt als freie
Journalistin und Schriftstellerin in Wien.
www.salzburg.com/scholl