Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg – Veranstaltungsbericht „Russland verstehen?“ Der Saal war brechend voll: 140 Interessierte kamen zur Podiumsdiskussion „Russland verstehen?“ am 18. März in Heidelberg und wurden nicht enttäuscht: Die Debatte zwischen Prof. Klaus von Beyme, dem ehemaligen Leiter des Instituts für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg, und Jens Siegert, Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, war spannend: auf hohem Niveau, informativ, kontrovers aber nicht konfrontativ. Es geht uns tatsächlich darum, Russland zu verstehen, allerdings nicht im Sinne der oft so genannten Putin-Versteher, sagte Annette Goerlich, Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg, in ihrer Begrüßung. Was ist das System Putin? Was ist die Situation, die Stimmung im Land? Ist die aktuelle Entwicklung infolge der Krim-Annexion und der Ukraine-Krise eine Rückkehr zum Kalten Krieg ist? Wie hat sich die EU bisher verhalten? Welche Rolle spielt Deutschland? Jens Siegert erklärte die wirtschaftlich angespannte Lage in Russland weniger als Folge der Ukraine-Krise. Die eigentliche Veränderung setzte im September 2011 ein, als der damalige Präsident Medwedew Putins erneute Präsidentschaftskandidatur bekannt gab. Zu diesem Zeitpunkt spürte das Land bereits die Auswirkungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise, unter der es bis heute leidet. Medwedew hatte daraufhin einen Modernisierungsdiskurs begonnen, der aber über das Reden kaum hinaus kam. Die Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von Öl und Gas wuchs sogar noch im Laufe der Krise. Putins angekündigte Rückkehr in den Kreml zerstörte Hoffnungen auf Änderungen vor allem beim gut ausgebildeten, mobilen, urbanen Teil der Bevölkerung. Die Folge waren die Proteste gegen Wahlfälschung und Korruption nach der Parlamentswahl Anfang Dezember 2011 und nach der erneuten Wahl Putins zum Präsidenten im März 2012. Der Kreml befürchtete eine orangene Revolution ähnlich der in der Ukraine auch in Russland und reagierte mit Repressionen gegen Protestierende (prominentes Beispiel: Pussy Riot) und einer Vielzahl neuer, repressiver Gesetze (z.B. zu Internetsperren, Behinderung der Arbeit von NGOs und ein Verleumdungsgesetz). Gleichzeitig wurde eine geistig-moralische Wende eingeleitet, die sich zeigt in der Hinwendung zu Konservatismus, alten, „slawischen“ bzw. “russischen“ Werten, erzkonservative Familienbilder und einer scharfen Abgrenzung vom Westen und seinen Werten Demokratie, Pluralität und Liberalität („Gayropa“). Die Popularität Putins erklärte Siegert unter anderem mit der Abgrenzung Putins von den 90er Jahren unter Jelzin, in denen sich das Land öffnete und, wenn auch in Maßen, demokratisierte, die aber in weiten Teilen der russischen Bevölkerung heute als eine „Zeit des Chaos“, des wirtschaftlichen Niedergangs und politischen Zerfalls empfunden wird. Putin sorgte in seiner ersten Amtszeit tatsächlich für eine gewisse politische Stabilität, die Wirtschaft und damit der Wohlstand weiter Bevölkerungskreise wuchsen. Es bildete sich eine Art ungeschriebener Gesellschaftsvertrag heraus: Der Staat sorgt für Sicherheit und Wohlstand und lässt die Menschen so leben, wie sie wollen. Dafür hält sich die Bevölkerung aus der Politik raus. Zur Außenpolitik Russlands und der EU betonte Klaus von Beyme die entscheidende Bedeutung der Krim für Russland, was der Westen falsch eingeschätzt habe. Er könne die Ziele Russlands nachvollziehen, billige aber den Weg nicht, sagte er und spitzte zu: Es gäbe keine Unverletzlichkeit des Territoriums der Ukraine. Wie für Schottland und Katalonien gelte auch hier das Recht auf Abspaltung via demokratische Verfahren, das stelle völkerrechtlich kein Problem dar. Nur die Mittel, mit denen die Abspaltung der Krim herbeigeführt wurde, seien fragwürdig. Hier widersprach Siegert: Die Unverletzlichkeit der ukrainischen Grenzen sei ein völkerrechtliches Prinzip, von den USA, Russland und Großbritannien im Budapester Vertrag von 1994 gemeinsam garantiert. Im Gegenzug habe die Ukraine ihre Atomwaffen - damals nach den USA und Russland und noch vor China das drittgrößte Arsenal der Welt. Die Angst v.a. der baltischen Staaten und Polens, dass Russland demnächst auch ihre Integrität nicht respektieren könne, hält Klaus von Beyme für übertrieben. Das einzige Land, das Angst haben müsse, sei Russland, da es von der NATO zunehmend eingekreist werde. Siegert widersprach: Nicht die NATO habe sich offensiv nach Osten erweitert, sondern diese Länder hätten sich um einen Beitritt bemüht, um Schutz vor Russland zu bekommen, das immerhin für rund mehr als 40 Jahre über sie geherrscht habe. Außerdem hätten Frankreich und Deutschland - entgegen dem Druck der USA - auf dem Bukarester NATO-Gipfel 2008 der Ukraine und Georgien den Membership Action Plan, also die konkrete Aussicht auf eine Mitgliedschaft, versagt. Auch bei der Frage, ob der Westen Fehler im Ukrainekonflikt gemacht habe, waren sich die Diskutanten uneins. Beyme wies dem Westen eine Schuld an der diplomatischen Vergrößerung der Konflikte zu. Schon der für ihn nachvollziehbare Versuch Putins, den Einflussbereich Russlands in einem Eurasien-Block zu festigen, sei obstruiert worden. Das sei ein Verstoß gegen die Herstellung eines neuen Kräftegleichgewichts. Siegert hielt dagegen, dass in der Schlussakte von Helsinki nicht Blöcke festgelegt, sondern jedem Staat frei gestellt worden sei, Bündnisse selbst zu wählen. Bei allen Fehlern der EU, etwa bei dem Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, sei der Konflikt vor allem auf Putins innenpolitisches Dilemma zurückzuführen. Einig waren sich beide Referenten in ihrer Ablehnung einer militärischen Einmischung bzw. Waffenlieferungen, weil sie eine Gewalteskalation befeuern würde. Der Konflikt müsse auf dem Weg von Verhandlungen gelöst werden. Die Sanktionen sind laut Siegert zwar nur bedingt wirksam, aber sie führen dem Kreml die Kosten des Krieges in der Ukraine vor Augen und zeigen, dass die EU Stärke und Einigkeit zeigen kann, dass sie es ernst meine, womit man im Kreml nicht gerechnet habe. Fraglich sei aber, ob die Sanktionen, die die gesamte Bevölkerung treffen, so viel Unmut erzeugten, dass sie zu politischen Veränderung führen könnten. Umgekehrt sah von Beyme die Gefahr der Herausbildung einer „wir gegen den Rest der Welt“- Mentalität in Russland. Aber auch er stand den Sanktionen des Westens, als sie beschlossen wurden, positiv gegenüber. Allerdings äußerte er die Meinung, dass sie so bald wie möglich gelockert werden sollen. In den anschließenden Fragen aus dem Publikum und der lebhaften Diskussion zeigte sich das ganze Spektrum von ukrainischen bis zu Kreml-Positionen. Eine Frage war, ob die Wirtschaftskrise Russlands durch die sinkenden Ölpreise oder die Sanktionen ausgelöst wurde. Jens Siegert antwortete, dass Ölpreise, Sanktionen und strukturelle wirtschaftliche Probleme als Auslöser ineinander griffen. Aber eindeutig führten die Sanktionen zu einer Verschärfung der Situation. Eine weitere Frage war, ob das außenpolitische Vorgehen Russlands mit einer Nicht-Aufarbeitung seiner Okkupationsgeschichte anderer Völker bzw. Länder zusammenhänge. Dazu sagte Siegert, dass Geschichtspolitik nicht in der gleichen Form wie in Deutschland betrieben werde, sondern seit Mitte der 2000er Jahre vermehrt als eine Geschichte von moralisch gerechtfertigten Siegen dargestellt wird. Damit wolle man einen positiven Bezug für die Bildung der angestrebten großen Nation herstellen. Von Beyme stimmte Siegert hinsichtlich der Kritik an Slawophilie und Konservatismus zu, betont aber, dass das Teil einer Identitätsfindung und Werden als Nationalstaat sei. Der Abend wurde souverän moderiert von Carla Sappok, stellvertretende SWRLandessendedirektorin Rheinland-Pfalz. Die Veranstaltung fand in Kooperation mit dem Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung und dem DAI Heidelberg statt. Weiterführende Infos: Russland-Blog von Jens Siegert: http://russland.boellblog.org/ Klaus von Beyme, 2013: Politische Theorien in Russland. 1789 – 1945: Der "russische Sonderweg" wird im Vergleich zu westeuropäischen Russland, Ukraine und die EU: Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung, Dossier und Mitschnitte vom 2. März 2015
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