Terror gegen Kinder - Die Onleihe

Opposition im Bundestag: Ein Jahr KLOPPO
Kleine Opposition gegen Große Koalition: So schlagen sich Linke und Grüne ➤ Seite 5
AUSGABE BERLIN | NR. 10592 | 51. WOCHE | 36. JAHRGANG
HEUTE IN DER TAZ
MITTWOCH, 17. DEZEMBER 2014 | WWW.TAZ.DE
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Terror gegen Kinder
PAKISTAN Taliban stürmen Schule und töten mehr als 130 Menschen, die meisten davon Kinder ➤ SEITE 2
KINO Vielschichtig:
„Die Wolken von Sils
Maria“ mit Juliette
Binoche ➤ SEITE 15
DRESDEN „Ich sehe
hier keine Nazis“:
Gespräche mit PegidaDemonstranten ➤ SEITE 3
MOSKAU Der Rubel
fällt ➤ SEITE 8, 12
BERLIN Flughafen:
Wer wird Mehdorn
nachfolgen? ➤ SEITE 22
Fotos oben: Pallas Film; Wolfgang Borrs
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
„Lieber Kollege, gibt es bei dir
was Neues?“ Das will der frühere SPD-Innenpolitiker Sebastian Edathy den früheren SPDInnenpolitiker Michael Hartmann gefragt haben. In einer
von vielen SMS zwischen Edathy (Kinderporno-Verdacht)
und Hartmann (Crystal-MethKonsument), die Edathy jetzt
nach und nach veröffentlicht,
bevor er am Donnerstag eine
Pressekonferenz gibt, bevor er
dann im Untersuchungsausschuss auftritt, in dem auch der
frühere SPD-Innenpolitiker
Hartmann geladen ist. verboten
gibt zu: Es gibt Momente, da
sehnt sich verboten sogar nach
Ein Versuch, Schutz und Trost zu geben: Kinder aus Peschawar am Krankenbett eines schwer verletzten Mitschülers Foto: Mohammad Sajjad/ap
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KOMMENTAR VON SVEN HANSEN ZUM TALIBAN-ANSCHLAG AUF EINE PAKISTANISCHE SCHULE
Otto Schily.
Perverses Aufrechnen von Opfern
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ie menschenverachtend müssen Rebellen sein, die gezielt und massenhaft Kinder angreifen und töten? Die pakistanischen Taliban rechtfertigen den Angriff auf eine
Schule in Peschawar und die Tötung von mehr als
hundert Kindern mit Angriffen der Armee auf die
Taliban-Verstecke im Grenzgebiet zu Afghanistan
in den letzten Monaten. Dabei – wie bei den wiederholten Angriffen mit US-Drohnen – seien Kinder getötet worden, so ein Talibansprecher. Dies
sei jetzt die Rache dafür.
DieseperverseArgumentationwurdeoffenbar
nachgeschoben. Zunächst hatte der Talibansprecher erklärt, die Kämpfer seien angewiesen worden, Kindern nichts anzutun und „nur“ ältere Jugendliche und Militärpersonal in dieser von der
Armee betriebenen öffentlichen Schule zu töten.
Opfer gegeneinander aufzurechnen ist so
menschenverachtend,wiegezieltKinderzutöten.
Dabei müssten die Rebellen auch ein Interesse daran haben, zivile Opfer zu vermeiden. Wollen sie
nicht als Terroristen angesehen werden, darf ihnen das Schicksal der Bevölkerung nicht egal sein.
W
Dies gilt natürlich auch für die Gegenseite, in
dem Fall die pakistanische Armee und das US-Militär mit seinen Drohnen. Denn es ist auch menschenverachtend, sich nur über die Kinderopfer
der Taliban zu empören und sich für Kinderopfer
der US-Drohnen nicht zu interessieren. Trotzdem
sind die Fälle nicht direkt vergleichbar.
Dass US-Drohnen gezielt auf vollbesetzte Schulen schießen, haben bisher nicht einmal Feinde
der USA behauptet. Die von Drohnen getöteten
Kinder sind sogenannte Kollateralschäden: Opfer
von Falschinformationen, mangelnder Sorgfalt
oder schlicht riskanter Kriegsführung, die den
Tod von Kindern billigend in Kauf nimmt. Für diese Opfer interessiert sich im Westen kaum jemand. Die Betroffenen zu unterstützen ist so
wichtig, wie künftig solche Opfer zu vermeiden.
Es bleibt zu hoffen, dass die Tötung von mehr
als einhundert Schulkindern wenigstens den
Menschen in Pakistan verdeutlicht, dass die Taliban und ihre Methoden keine Sympathien verdienen. Dies könnte den Rückhalt der Taliban reduzieren und damit vielleicht auch solche Angriffe.
Für die
Verschwulung der
Gesellschaft.
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„Besorgte Eltern“ demonstrieren in Deutschland, weil ihre Kinder in der
Schule über sexuelle Vielfalt aufgeklärt werden sollen.
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02
MITTWOCH, 17. DEZEMBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
NACHRUF
BUNDESBANK
NSU-Prozess dauert länger
Der polizeibekannte Geiselnehmer
Man Haron Monis Foto: ap
Der Attentäter
von Sydney
an Haron Monis, der
am frühen Dienstag
erschossene Geiselnehmer von Sydney,
stammt aus dem Iran und erhielt
schon im Jahr 1996 Asyl in Australien. Der damalige Schiit hatte
glaubhaft dargestellt, dass er und
seine Familie im Iran verfolgt
wurden.
Heute behauptet Irans Polizeichef Ahmadi Moghaddam, Teherans Polizei habe die Australier
mehrfach vor Monis gewarnt.
„Dieser Mann war ein Betrüger
und hat sich bei seinem Asylantrag als politischer Dissident ausgegeben.“
Australiens konservativer Premierminister Abbott bezeichnete den bei seinem Tod 50-jährigen Monis als „schwer gestörte
Person“ und fragte, auch an die
eigenen Behörden gerichtet:
„Wie kann es sein, dass jemand
mit solch langer und kontroverser Vergangenheit nicht auf der
richtigen
Überwachungsliste
stand? Und wie kann jemand wie
er sich völlig frei in der Gesellschaft bewegen?“
Galt Monis früher als liberal,
radikalisierte er sich in Australien. Er engagierte sich zunächst
gegen Australiens Krieg in Afghanistan und Irak, den er als gegen den Islam gerichtet empfand. Dabei schrieb er beleidigende Briefe an die Angehörigen
dort getöteter australischer Soldaten. Dafür wurde er zu 300
Stunden gemeinnütziger Arbeit
verurteilt. Sein damaliger Anwalt beschreibt ihn als „stark widersprüchlich und inkonsistent“.
Öffentliche Auftritte nutzte
Monis zu Selbstinszenierungen.
So zeigen ihn Videoaufnahmen,
wie er in Ketten demonstriert. Er
trat inzwischen zum sunnitischen Islam über, erklärte sich
zum Scheich und betätigte sich
als Heiler.
Im April 2013 wurde seine damalige Frau auf offener Straße
erstochen und angezündet. Monis wurde wegen Beihilfe angeklagt. Zugleich zeigten ihn Frauen, die sich ihm wegen seiner angeblich magischen Kräfte anvertraut hatten, wegen 40 sexueller
Übergriffe an. Monis war nur
noch auf Kaution frei. Er fühlte
sich von Australien ungerecht
behandelt und soll im Internet
Sympathien für die Terrormiliz
Islamischer Staat geäußert haben. Seine Web- und Facebookseiten wurden inzwischen
gelöscht.
SVEN HANSEN
Ausland SEITE 10
Gesellschaft + Kultur SEITE 14
DER TAG
NACHRICHTEN
AUFARBEITUNG NAZITERROR
M
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MÜNCHEN/DÜSSELDORF | Das
Oberlandesgericht (OLG) München stellt sich auf eine längere
Dauer des NSU-Prozesses ein.
Das Gericht veröffentlichte am
Dienstag eine Liste mit Verhandlungsterminen, die bis zum 12. Januar 2016 reicht – bisher war es
Mitte 2015. In dem Prozess geht
es unter anderem um zehn Morde, die die Bundesanwaltschaft
der rechtsextremen Terrorzelle
„Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) vorwirft. Der Prozess mit der Hauptangeklagten
Beate Zschäpe begann am 6. Mai
2013 und läuft damit seit gut eineinhalb Jahren.
Unterdessen hat im nordrhein-westfälischen Landtag ein
Untersuchungsausschuss mit
der Aufarbeitung der NSU-Terrorserie begonnen. Der Ausschuss will die Arbeit von Polizei
und Verfassungsschutz in NRW
überprüfen und kam am Dienstag zu seiner ersten Sitzung zusammen. Die Vorsitzende ist
Nadja Lüders (SPD), ihr Stellvertreter Peter Biesenbach (CDU).
Für die Ausschussarbeit sind im
kommenden Jahr 2,5 Millionen
Euro eingeplant. Ein Sitzungssaal des Landtags soll eigens umgebaut werden, um abhörsicher
zu sein. (dpa)
Inflationsrate
unter null möglich
FRANKFURT/MAIN | Die Bundesbank schließt angesichts des Verfalls der Ölpreise negative Inflationsraten in Deutschland nicht
mehr aus. „Die Inflationsrate
könnte in den nächsten Monaten
sogar unter null sinken“, sagte
Bundesbank-Präsident
Jens
Weidmann. Die bereits deutlich
auf 1,1 Prozent für das kommende Jahr gesenkte Prognose der
Bundesbank dürfte damit nochmals unterschritten werden –
denn der Ölpreis sei seit Mitte
November um 25 Prozent gefallen. (dpa)
„Sie schossen sofort“
TERROR Eine pakistanische Talibangruppe überfällt eine Schule und
ermordet mindestens 130 Menschen, darunter sehr viele Kinder
AUS DELHI MICHAEL RADUNSKI
Es ist einer der grausamsten Terroranschläge in der jüngeren Geschichte. Islamistische Talibankämpfer haben am Dienstag eine vom Militär betriebene Schule in der nordwestpakistanischen Stadt Peschawar überfallen und mindestens 130 Menschen getötet. Unter den Opfern
sind etwa 100 Kinder, die meisten sollen zwischen 12 und 16 Jahren alt sein, sagte Pervez Khattak,
Chef der Provinzregierung in
Peschawar. Die Opferzahl könnte
noch steigen. Mehr als 120 Kinder und Lehrer wurden teils
schwer verletzt. Etliche befinden
sich in kritischem Zustand.
Es war später Dienstagvormittag, als offenbar sechs bewaffnete Männer den Angriff auf die
Schule begannen. Sie sollen pakistanische Armeeuniformen
getragen haben. 500 Schüler und
Lehrer waren zu diesem Zeitpunkt in den Gebäuden der
Schule, in der Aula fanden gerade
Prüfungen statt. „Sie haben sofort angefangen, mit automatischen Waffen zu schießen“, sagte
ein Schüler, dem die Flucht gelang. „Als wir plötzlich Schüsse
hörten, rannten wir in unser
Klassenzimmer, um uns zu verstecken. Doch sie haben uns gefunden“, erzählte ein anderer
Junge. Er überlebte, zehn seiner
Freunde wurden erschossen. Ein
Lehrer sagte der Zeitung Express
Tribune: „Die Angreifer sind von
Zimmer zu Zimmer gegangen
und haben die Kinder erschossen.“ In der Schule brach Chaos
aus, einige Schüler und Lehrer
konnten fliehen. „Als wir nach
draußen rannten, sahen wir die
Leichen unserer Schulkameraden auf den Fluren liegen. Sie
bluteten, manche hatten drei,
vier Schusswunden“, sagte ein
Augenzeuge der Zeitung Dawn.
Kurze Zeit später umstellten
Armeeeinheiten den Tatort. Es
kam zu schweren Feuergefechten, alle sechs Angreifer wurden
erschossen, Explosionen waren
zu hören. Als die Soldaten von
Raum zu Raum vorrückten, fanden sie zahlreiche Sprengsätze,
welche die Angreifer in den Klassenzimmern versteckt hatten.
Die Terrorgruppe Tehrik-i-Taliban Pakistan (Taliban-Bewegung in Pakistan, TTP) hat die
WAS FEHLT …
Merkwürdige und absurde Meldungen aus dem Alltag: taz.de
setzt mit der Rubrik „Was fehlt“
eine alte Tradition der tageszeitung fort – auf taz.de/wasfehlt
Absurd
Albern
Voll daneben

www.taz.de
USA
Jeff Bush will
Präsident werden
TALLAHASSEE | Jeb Bush, Bruder
des ehemaligen US-Präsidenten
George W. Bush und Exgouverneur von Florida, will bei den
nächsten Wahlen als Präsidentschaftskandidat antreten. Der 61
Jahre alte Republikaner kündigte
seine Kandidatur für die Wahlen
am Dienstag an. Er werde der
Möglichkeit, als Präsident zu
kandidieren, „aktiv nachgehen“.
Unter den Konservativen werden
ihm große Chancen eingeräumt,
das Weiße Haus zu erobern.
Amtsinhaber Barack Obama darf
nicht erneut antreten. (dpa)
Der Terror ist Folge von
Schwäche und Zerstrittenheit
TALIBAN Die pakistanischen Militanten müssen im
Kampf gegen das Militär Niederlagen einstecken
Verantwortung für den Angriff BANGKOK taz | Jahrelang hat die
übernommen. Ein Sprecher sag- pakistanische Armee damit gete, die Angreifer „hatten den Be- zögert, gegen militante Gruppen
fehl, auf ältere Schüler zu schie- in der abgelegenen Provinz
ßen, nicht auf Kinder“. Mit dem Nordwasiristan im Nordwesten
Überfall wollten sich die Taliban des Landes vorzugehen. Das
für eine Armeeoffensive in Nord- halbautonome Stammesgebiet
waziristan rächen. An der Grenze an der Grenze zu Afghanistan gilt
zu Afghanistan führt die pakista- als Hochburg der Tehrik-i-Talinische Armee seit Sommer einen ban Pakistan (Taliban-Bewegung
Feldzug gegen die Taliban.
in Pakistan, TTP), die das Land
Die Taliban hatten gezielt Ort seit Jahren mit Terroranschlägen
und Zeit ihres Angriffs gewählt. überzieht.
„Wir haben die Schule angegrifAus Nordwasiristan heraus
fen, weil die Armee unsere Fami- operieren auch militante Gruplien angreift. Wir wollen, dass sie pen, die im Verband mit den afunseren Schmerz fühlen“, sagte ghanischen Taliban in Afghanisder TTP- Sprecher. Die Schule in tan kämpfen. Zu diesen Gruppen
Peschawar gehört zu einem lan- unterhält der pakistanische Sidesweiten Netzwerk von Bil- cherheitsapparat Kontakte. Die
dungseinrichtungen, die vom US-Regierung versucht seit JahMilitär betrieben werden. Auch ren, Pakistans Generäle zu einem
das Datum hat eine besondere Einmarsch in die Region zu beBedeutung: Am 16. Dezember wegen. Lange ohne Erfolg.
1971 kapitulierte die pakistaniDie pakistanischen Taliban
sche Armee im Bangladesch- haben immer vor Racheakten gekrieg mit Indien. Pakistans Mi- warnt, falls die Armee in Nordnisterpräsident Nawas Scharif wasiristan einmarschieren sollverurteilte den Angriff und te. Als Pakistans Armee Mitte Jusprach von einer nationalen Tra- ni ihre Operation Sarb-i-Asb eingödie. „Das sind meine Kinder.
leitete und in Nordwasiristan
Es ist mein Verlust“, sagte
einmarschierte, ging die
Scharif. Der RegierungsZahl der Anschläge im
chef fuhr nach PeschaLand jedoch umgehend
THEMA
war, um die Befreiungsspürbar zurück. Die
DES TAGES
aktion zu überwachen.
Zahl der Todesopfer
Er warnte: „Dieser Krieg
durch Terrorakte verrinwird weitergehen, bis das
gerte sich im Vergleich
Land vom Terrorismus befreit
zum Vorjahr um die Hälfte.
ist.“ Er ordnete eine dreitägige
Die pakistanischen Taliban
Staatstrauer an.
teilen sich mit den Taliban in Af-
Freiwillige bringen einen angeschossenen Schüler in Sicherheit. „Wir wollen, dass sie unseren Schmerz fühlen“, so ein Taliban-Sprecher Foto: ap
ghanistan nur den Namen. Die
TTP entstand, als sich Ende 2007
rund ein Dutzend militante
Gruppen unter der Führung von
Baitullah Mehsud zusammenschloss. In der Folgezeit gelangen
der Truppe unerwartet große
militärische Erfolge. Die Militanten brachten rund ein Drittel der
Stammesgebiete unter ihre Kontrolle.
Die pakistanischen
Taliban sind in
mindestens vier
Fraktionen zerfallen
Im November 2013 übernahm
der frühere Anführer der Taliban-Fraktion im Swat-Tal, Maulana Faslullah, die Führung der pakistanischen Taliban. Zuvor hatte
die CIA den vorherigen TTP-Chef
Hakimullah Mehsud durch einen Drohnenangriff getötet.
Seitdem sind Berichten zufolge
die Spannungen innerhalb des
Militantennetzwerks offen zutage getreten. Die pakistanischen
Taliban sind dadurch in mindestens vier Fraktionen zerfallen.
Pakistans Armee gibt an, sie
habe seit Beginn ihrer Offensive
im Juni mehr als 1.100 Militante
getötet. Die pakistanischen Taliban könnten als solche tatsächlich am Ende sein: Die Gruppe
hat ihr Rückzugsgebiet und ihre
Ausbildungslager für Kämpfer
und Selbstmordattentäter verloren. Die Gruppe Pandschabi-Taliban, die Beziehungen zu dem
TTP-Netzwerk unterhielt, kündigte im September an, fortan
nur noch in Afghanistan zu
kämpfen.
Die Erfolge des Islamischen
Staates (IS) im Irak und in Syrien
haben den Zerfall der pakistanischen Taliban beschleunigt. Vor
einigen Wochen sind in Peschawar – dem Schauplatz des Schulmassakers – Flugblätter aufgetaucht, die den IS priesen. Sechs
wichtige TTP-Anführer erklärten
dem IS-Anführer Abu Bakar alBaghdadi ihre Gefolgschaft.
Ob diese Entwicklungen ein
Ende des Terrors in Pakistan einläuten, ist fraglich. Das Massaker
an den Schulkindern zeugt zwar
auch von der Schwäche der
Dschihadisten. Ob sich Pakistans
Sicherheitsapparat nun dazu
durchringen wird, seine Verbindungen zu anderen, angeblich
„nützlichen“ militanten Gruppen in der Region zu kappen, ist
unwahrscheinlich. Der Anschlag
vom Dienstag könnte so auch der
Beginn einer neuen, noch rücksichtsloseren Terrorwelle geweSASCHA ZASTIRAL
sen sein.
REPORTAGE
www.taz.de
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Pegida
MITTWOCH, 17. DEZEMBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
„Wir sind das Volk“, skandiert die Menge, die am Montagabend
durch Dresden zieht und ein Gefühl „wie 1989“ beschwört
Dresden, 15. Dezember: Pegida-Anhänger fechten einen Glaubenskrieg ganz eigener Art aus Foto: Hannibal Hanschke/reuters
„Ich geh ooch ma zum Döner“
Hier gebe es Professoren, Polizisten, Hausfrauen – alles, sagt eine Teilnehmerin. „Alles“ gibt es bei Pegida –
nur keine Nazis. Jedenfalls niemanden, der sie sehen will. Unser Reporter hat sich unter die Menge gemischt
AUS DRESDEN DENIZ YÜCEL
Dresden am Montagabend. An
die 15.000 Menschen haben sich
zum Schweigemarsch der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“
(Pegida) versammelt. Deutschlandfahnen wehen im milden
Abendwind, dazu ein paar Sachsenfahnen, einige tragen Transparente wie „Keine Scharia in Europa“. Die Menge skandiert „Wir
sind das Volk“ und „Lügenpresse,
Lügenpresse“ – ein Wort, das
man von rechtsextremen Aufmärschen kennt, wo es sich auf
„auf die Fresse“ reimt. Bei Pegida
geht es gemäßigter zu, „Lügenpresse“ wird nur wiederholt – es
klingt auch so hasserfüllt.
Wer als Journalist über Pegida
berichten will, hat es nicht leicht.
Kaum einer der Demonstranten
will reden, ich sehe Kollegen, die
fast verzweifelt versuchen, Gesprächspartner zu finden. Ich gehöre heute nicht zu ihnen. Ich
werde die Demo mitlaufen. Ich
werde den Rednern applaudieren und einige Male sogar in den
„Wir sind das Volk“-Chor einstimmen. In meiner Jacke klemmt eine kleine Deutschland-Fahne, in
der Tasche habe ich eine Legende: Ich komme aus Berlin und
bin hier, weil ich mir selber ein
Bild machen wollte. Weil man
den Medien ja nicht glauben
kann.
Die Ersten, die ich anspreche,
sind zwei Frauen Ende dreißig.
Sie haben sich beide in Deutschland-Fahnen gehüllt, unter ihren
Schals blinken dunkelrote Lichter, die an die Teufelshörnchen
erinnern, die AC/DC-Fans gern
tragen. Die eine hat ihre wasserstoffblonden Haare zu einem
Zopf gebunden, die andere hat
reichlich Parfum aufgetragen,
eher Rossmann als Chanel, sparen muss man da nicht.
Sie finden es gut, dass ich
mich nicht auf die Medien ver-
lassen möchte. Die würden ja alle
zu Nazis abstempeln. Zu Unrecht? „Guck dich doch mal um,
wir sind ganz normale Leute“,
sagt die Wasserstoffblonde mit
breitem sächsischen Akzent.
„Wir sind für unsere Kultur und
unsere Sitten, wir wollen, dass
sich die Ausländer integrieren“,
ergänzt ihre Freundin. Ich antworte, dass ich aus Berlin komme. Das genügt schon, um sie erschaudern zu lassen. „Du Ärmster“, sagt eine. „Wir demonstrieren dafür, dass es in Dresden gar
nicht erst so weit kommt wie in
Neukölln. Bei 50 Prozent Ausländern ist es zu spät.“ Ich frage
noch mal nach den Nazis. „Hier
sind vielleicht 20, 25 Nazis, mehr
nicht“, meint Rossmann N° 5.
Und woran erkennt man die?
„Die rufen ‚Ausländer raus!‘ Aber
die Orga-Leute achten darauf,
dass das keiner macht. Und ich
seh das ja auch nicht so, ich geh
ooch ma zum Döner.“
klatschen. Schließlich spricht eine Frau aus Chemnitz. „Wir wollen friedlich und im Dialog bleiben“, sagt sie, und zum ersten Mal
ist so etwas wie Unmut zu spüren. Aber sie kriegt die Kurve:
„Ganz Deutschland schaut auf
euch, ihr hier in Dresden seid die
Hoffnung für Hunderttausende.“ Das kommt wieder gut an.
Bei der Stelle mit dem Dialog
hatte ein Mittzwanziger gerufen:
„Das geht mit denen nicht!“ Dabei hatte die Rednerin gar nicht
erwähnt, wer „die“ sind. Doch
hier genügen offenbar Andeutungen. Der Mann hat eine Bierflasche in der Hand und eine Alkoholfahne. Er steht mit Freun-
den zusammen: Kapuzenjacken,
kahl geschorene Schädel, Tätowierungen. Sind sie Nazis? „Hier
sind keine Nazis“, antwortet er.
„Ich bin Maler, hier gibt es Professoren, Polizisten, Hausfrauen
– alles.“ Offenbar gilt Nazi hier
als eigener Beruf. Ein anderer aus
der Gruppe ergreift das Wort:
„Ich bin nicht gegen alle Ausländer. Wir kommen aus einem Dorf
„Im Vergleich zum
BRD-System war die
DDR harmlos“
PEGIDA-ANHÄNGER IN DRESDEN
„Pfui“-Rufe für Gauck & Co
Dann beginnt die Kundgebung.
Zuerst spricht Lutz Bachmann,
der Wortführer von Pegida. Er
geht die Politiker durch, die in
der vergangenen Woche Pegida
kritisiert haben, von Bundespräsident Joachim Gauck über Justizminister Heiko Maas bis zur
Dresdner Oberbürgermeisterin
Helma Orosz. Eine Art kommentierte Presseschau, wobei die
Menge schon bei der bloßen
Nennung der Namen „Pfui“ ruft.
Merkel habe von Abstiegsängsten geredet, sagt Bachmann und
lacht. „Abstiegsängste werden in
Zukunft ganz andere bekommen!“, ruft er. „Jawoll!“ schallt es
zurück.
Dann tritt Kathrin Oertel vom
Pegida-Führungsteam ans Mikrofon. Sie wiederholt die Devise, nicht mit der Presse zu sprechen: „Kein Wort zu den Hetzern,
die sich unter uns verborgen haben.“ Die Zuhörer johlen und
03
hier bei Dresden, da gibt es einen
Dönermann, ein Türke. Der arbeitet hart und ist anständig. Der
ist in Ordnung.“
Inzwischen hat sich der Demonstrationszug in Bewegung
gesetzt. Es geht durch dunkle Nebenstraßen, gelegentlich sieht
man aus der Ferne die Gegendemonstranten, mehrere Tausend
sollen es sein. Untergehakt läuft
ein Pärchen um die 50. Er mit
schickem Seidenschal, sie in elegantem Mantel. Sie könnten auf
dem Weg in die Semperoper sein,
sind aber aus Erfurt zur PegidaDemonstration“ angereist. „Es
gibt keine Partei mehr, die Politik
für das Volk macht, außer vielleicht die AfD“, sagt die Frau und
ist zufrieden, dass heute auch der
stellvertretende AfD-Vorsitzende Alexander Gauland mitläuft.
„Es ist alles wie 1989“, sagt ihr
Mann. „Das Volk ist wieder auf
der Straße, während die Herrschenden und ihre Propagandaorgane verzweifelt versuchen,
uns zu diffamieren. Aber ich sehe hier keine Nazis.“
Gesinnungstest
Es herrscht Misstrauen gegen die Medien Foto: Sean Gallup/Getty Images
Ein paar Meter läuft ein anderes
Pärchen: Sie trägt eine schwarze
Bomberjacke und Piercing an
den Augenbrauen, er ist Mitte
dreißig in grauer Armeejacke,
Glatze und Vollbart. Typ NaziTürsteher, könnte man vermuten. „Klar, bin ich Nazi, wir sind
alle Nazis“, sagt er grinsend, seine
Freundin lacht. Meint er das
ernst? „Ach, hör mir uff, du
brauchst bloß sagen, du bist
deutscher Patriot, und schon
kommen die mit der Nazikeule.“
Wer sind denn die? „Na, die Medien, die Volksverräter, die sich
Volksvertreter nennen.“ – „Die
echten Nazis sind die Salafisten
mit ihrer Scharia“, ergänzt seine
Freundin. „Und die linken
Deutschlandhasser.“
Der Demonstrationszug ist inzwischen zum Halten gekom-
men. Was da los ist, will ich von
einem Mittvierziger in brauner
Lederjacke wissen. „Vielleicht
wieder eine Sitzblockade von
Linken. Oder Journalisten, die
mit ihren Autos den Weg zugeparkt haben.“ Einen guten Ruf
haben Journalisten hier wirklich
nicht. „Die wollen uns für dumm
verkaufen“, sagt er. „Aber das
geht heutzutage nicht mehr so
einfach. Es gibt das Internet –
und es gibt ein paar mutige Leute, die die Wahrheit aufschreiben. Udo Ulfkotte oder Thilo Sarrazin. Ich habe überprüft, was
der geschrieben hat, da stimmt
alles. Alles Fakten“, sagt er und
blickt mich an, als sei der Name
Sarrazin ein Gesinnungstest. „Ja,
der hatte viele Zahlen“, antworte
ich und bestehe den Test. „Du
siehst: Wir sind ganz normale
Leute. Wie 1989. Auch damals hat
alles eigentlich in Dresden angefangen, nicht in Leipzig, wie das
später verdreht wurde.“ Ich merke: In dieser Welt wimmelt es nur
so von „Verdrehungen“. Das gilt
für viele Themen. Zum Beispiel
Putin (findet man gut) oder den
Euro (findet man nicht gut).
Aber ist das heutige politische
System nicht ein ganz anderes
als das der DDR? „Ich wurde damals sogar verhaftet. Aber jetzt
denke ich: Im Vergleich zum
BRD-System war die DDR harmlos. Die Herrschenden heute sind
viel schlauer. Und sie hassen
Deutschland. Die DDR war nicht
so antinational. Und wir wuchsen dort sehr behütet auf.“
Die Menge vertreibt sich die
Zeit mit dem Singen der Nationalhymne. Dass die Route diesmal kürzer ist und von der Abschlusskundgebung nur wegen
technischer Probleme noch
nichts zu hören ist, dringt nicht
bis zu uns durch. Hier glaubt
man an eine Störung durch Gegendemonstranten. „Beim letzten Mal waren das höchstens
2.000, keine 10.000, wie die Medien geschrieben haben“, sagt eine Frau. Mit ihren rot gefärbten
Haaren und der engen Jacke würde sie unter den Gegendemonstranten nicht auffallen. „Wenn wir
wollen würden, könnten wir die
überrollen“, sagt sie. „Für mich
sind das bezahlte, arme Schweine, die kriegen 10 Euro die Stunde.“ Woher sie das weiß? „Steht
offiziell im Internet.“
„Und die Leute hier? Sind die
alle in Ordnung?“, frage ich und
füge hinzu: „Mit Nazis will ich
nichts zu tun haben, die haben
genug Unheil über unser Land
gebracht.“ Jetzt übernimmt wieder der freundliche Mann in der
Lederjacke das Wort: „Wenn man
da ins Detail geht, wird man sehen, dass da auch nicht alles so
war, wie es immer heißt. Ich sag
mal: Wir Deutschen waren immer die Gearschten, beim Ersten
Weltkrieg, beim Zweiten und
heute wieder.“ Inzwischen hat
Bachmann mit der Abschlussrede begonnen, unser Gespräch
wird immer wieder durch
Sprechchöre unterbrochen. Aber
wenn nicht Hitler schuld war am
Krieg, wer dann? „Die Sieger
schreiben die Geschichte“, sagt
die Frau. „Immer nur die Sieger.“
Dann ergänzt der Mann: „Es gab
eine bestimmte Interessengruppe. Die war damals mächtig und
ist es heute auch. Du musst nur
ein bisschen nachforschen, dann
wirst du es selber herausfinden.
Ich sag nur: Jeder kennt sie.“
Jetzt ist Bachmann fertig und
ruft wie immer zum Schluss die
Teilnehmer dazu auf, ihre Telefone zu zücken. Tausende Handys
leuchten in den Dresdner Abendhimmel. Nazihandys sind wohl
nicht dabei.