Opposition im Bundestag: Ein Jahr KLOPPO Kleine Opposition gegen Große Koalition: So schlagen sich Linke und Grüne ➤ Seite 5 AUSGABE BERLIN | NR. 10592 | 51. WOCHE | 36. JAHRGANG HEUTE IN DER TAZ MITTWOCH, 17. DEZEMBER 2014 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Terror gegen Kinder PAKISTAN Taliban stürmen Schule und töten mehr als 130 Menschen, die meisten davon Kinder ➤ SEITE 2 KINO Vielschichtig: „Die Wolken von Sils Maria“ mit Juliette Binoche ➤ SEITE 15 DRESDEN „Ich sehe hier keine Nazis“: Gespräche mit PegidaDemonstranten ➤ SEITE 3 MOSKAU Der Rubel fällt ➤ SEITE 8, 12 BERLIN Flughafen: Wer wird Mehdorn nachfolgen? ➤ SEITE 22 Fotos oben: Pallas Film; Wolfgang Borrs VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! „Lieber Kollege, gibt es bei dir was Neues?“ Das will der frühere SPD-Innenpolitiker Sebastian Edathy den früheren SPDInnenpolitiker Michael Hartmann gefragt haben. In einer von vielen SMS zwischen Edathy (Kinderporno-Verdacht) und Hartmann (Crystal-MethKonsument), die Edathy jetzt nach und nach veröffentlicht, bevor er am Donnerstag eine Pressekonferenz gibt, bevor er dann im Untersuchungsausschuss auftritt, in dem auch der frühere SPD-Innenpolitiker Hartmann geladen ist. verboten gibt zu: Es gibt Momente, da sehnt sich verboten sogar nach Ein Versuch, Schutz und Trost zu geben: Kinder aus Peschawar am Krankenbett eines schwer verletzten Mitschülers Foto: Mohammad Sajjad/ap ANZEIGE KOMMENTAR VON SVEN HANSEN ZUM TALIBAN-ANSCHLAG AUF EINE PAKISTANISCHE SCHULE Otto Schily. Perverses Aufrechnen von Opfern TAZ MUSS SEIN Die tageszeitung wird ermöglicht durch 14.459 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 30651 4 190254 801600 ie menschenverachtend müssen Rebellen sein, die gezielt und massenhaft Kinder angreifen und töten? Die pakistanischen Taliban rechtfertigen den Angriff auf eine Schule in Peschawar und die Tötung von mehr als hundert Kindern mit Angriffen der Armee auf die Taliban-Verstecke im Grenzgebiet zu Afghanistan in den letzten Monaten. Dabei – wie bei den wiederholten Angriffen mit US-Drohnen – seien Kinder getötet worden, so ein Talibansprecher. Dies sei jetzt die Rache dafür. DieseperverseArgumentationwurdeoffenbar nachgeschoben. Zunächst hatte der Talibansprecher erklärt, die Kämpfer seien angewiesen worden, Kindern nichts anzutun und „nur“ ältere Jugendliche und Militärpersonal in dieser von der Armee betriebenen öffentlichen Schule zu töten. Opfer gegeneinander aufzurechnen ist so menschenverachtend,wiegezieltKinderzutöten. Dabei müssten die Rebellen auch ein Interesse daran haben, zivile Opfer zu vermeiden. Wollen sie nicht als Terroristen angesehen werden, darf ihnen das Schicksal der Bevölkerung nicht egal sein. W Dies gilt natürlich auch für die Gegenseite, in dem Fall die pakistanische Armee und das US-Militär mit seinen Drohnen. Denn es ist auch menschenverachtend, sich nur über die Kinderopfer der Taliban zu empören und sich für Kinderopfer der US-Drohnen nicht zu interessieren. Trotzdem sind die Fälle nicht direkt vergleichbar. Dass US-Drohnen gezielt auf vollbesetzte Schulen schießen, haben bisher nicht einmal Feinde der USA behauptet. Die von Drohnen getöteten Kinder sind sogenannte Kollateralschäden: Opfer von Falschinformationen, mangelnder Sorgfalt oder schlicht riskanter Kriegsführung, die den Tod von Kindern billigend in Kauf nimmt. Für diese Opfer interessiert sich im Westen kaum jemand. Die Betroffenen zu unterstützen ist so wichtig, wie künftig solche Opfer zu vermeiden. Es bleibt zu hoffen, dass die Tötung von mehr als einhundert Schulkindern wenigstens den Menschen in Pakistan verdeutlicht, dass die Taliban und ihre Methoden keine Sympathien verdienen. Dies könnte den Rückhalt der Taliban reduzieren und damit vielleicht auch solche Angriffe. Für die Verschwulung der Gesellschaft. Cool ey! Saucool. „Besorgte Eltern“ demonstrieren in Deutschland, weil ihre Kinder in der Schule über sexuelle Vielfalt aufgeklärt werden sollen. Verschenkt lieber ein Missy-Abo! www.missy-magazine.de/abo 02 MITTWOCH, 17. DEZEMBER 2014 TAZ.DIE TAGESZEITUNG NACHRUF BUNDESBANK NSU-Prozess dauert länger Der polizeibekannte Geiselnehmer Man Haron Monis Foto: ap Der Attentäter von Sydney an Haron Monis, der am frühen Dienstag erschossene Geiselnehmer von Sydney, stammt aus dem Iran und erhielt schon im Jahr 1996 Asyl in Australien. Der damalige Schiit hatte glaubhaft dargestellt, dass er und seine Familie im Iran verfolgt wurden. Heute behauptet Irans Polizeichef Ahmadi Moghaddam, Teherans Polizei habe die Australier mehrfach vor Monis gewarnt. „Dieser Mann war ein Betrüger und hat sich bei seinem Asylantrag als politischer Dissident ausgegeben.“ Australiens konservativer Premierminister Abbott bezeichnete den bei seinem Tod 50-jährigen Monis als „schwer gestörte Person“ und fragte, auch an die eigenen Behörden gerichtet: „Wie kann es sein, dass jemand mit solch langer und kontroverser Vergangenheit nicht auf der richtigen Überwachungsliste stand? Und wie kann jemand wie er sich völlig frei in der Gesellschaft bewegen?“ Galt Monis früher als liberal, radikalisierte er sich in Australien. Er engagierte sich zunächst gegen Australiens Krieg in Afghanistan und Irak, den er als gegen den Islam gerichtet empfand. Dabei schrieb er beleidigende Briefe an die Angehörigen dort getöteter australischer Soldaten. Dafür wurde er zu 300 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Sein damaliger Anwalt beschreibt ihn als „stark widersprüchlich und inkonsistent“. Öffentliche Auftritte nutzte Monis zu Selbstinszenierungen. So zeigen ihn Videoaufnahmen, wie er in Ketten demonstriert. Er trat inzwischen zum sunnitischen Islam über, erklärte sich zum Scheich und betätigte sich als Heiler. Im April 2013 wurde seine damalige Frau auf offener Straße erstochen und angezündet. Monis wurde wegen Beihilfe angeklagt. Zugleich zeigten ihn Frauen, die sich ihm wegen seiner angeblich magischen Kräfte anvertraut hatten, wegen 40 sexueller Übergriffe an. Monis war nur noch auf Kaution frei. Er fühlte sich von Australien ungerecht behandelt und soll im Internet Sympathien für die Terrormiliz Islamischer Staat geäußert haben. Seine Web- und Facebookseiten wurden inzwischen gelöscht. SVEN HANSEN Ausland SEITE 10 Gesellschaft + Kultur SEITE 14 DER TAG NACHRICHTEN AUFARBEITUNG NAZITERROR M www.taz.de [email protected] MÜNCHEN/DÜSSELDORF | Das Oberlandesgericht (OLG) München stellt sich auf eine längere Dauer des NSU-Prozesses ein. Das Gericht veröffentlichte am Dienstag eine Liste mit Verhandlungsterminen, die bis zum 12. Januar 2016 reicht – bisher war es Mitte 2015. In dem Prozess geht es unter anderem um zehn Morde, die die Bundesanwaltschaft der rechtsextremen Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) vorwirft. Der Prozess mit der Hauptangeklagten Beate Zschäpe begann am 6. Mai 2013 und läuft damit seit gut eineinhalb Jahren. Unterdessen hat im nordrhein-westfälischen Landtag ein Untersuchungsausschuss mit der Aufarbeitung der NSU-Terrorserie begonnen. Der Ausschuss will die Arbeit von Polizei und Verfassungsschutz in NRW überprüfen und kam am Dienstag zu seiner ersten Sitzung zusammen. Die Vorsitzende ist Nadja Lüders (SPD), ihr Stellvertreter Peter Biesenbach (CDU). Für die Ausschussarbeit sind im kommenden Jahr 2,5 Millionen Euro eingeplant. Ein Sitzungssaal des Landtags soll eigens umgebaut werden, um abhörsicher zu sein. (dpa) Inflationsrate unter null möglich FRANKFURT/MAIN | Die Bundesbank schließt angesichts des Verfalls der Ölpreise negative Inflationsraten in Deutschland nicht mehr aus. „Die Inflationsrate könnte in den nächsten Monaten sogar unter null sinken“, sagte Bundesbank-Präsident Jens Weidmann. Die bereits deutlich auf 1,1 Prozent für das kommende Jahr gesenkte Prognose der Bundesbank dürfte damit nochmals unterschritten werden – denn der Ölpreis sei seit Mitte November um 25 Prozent gefallen. (dpa) „Sie schossen sofort“ TERROR Eine pakistanische Talibangruppe überfällt eine Schule und ermordet mindestens 130 Menschen, darunter sehr viele Kinder AUS DELHI MICHAEL RADUNSKI Es ist einer der grausamsten Terroranschläge in der jüngeren Geschichte. Islamistische Talibankämpfer haben am Dienstag eine vom Militär betriebene Schule in der nordwestpakistanischen Stadt Peschawar überfallen und mindestens 130 Menschen getötet. Unter den Opfern sind etwa 100 Kinder, die meisten sollen zwischen 12 und 16 Jahren alt sein, sagte Pervez Khattak, Chef der Provinzregierung in Peschawar. Die Opferzahl könnte noch steigen. Mehr als 120 Kinder und Lehrer wurden teils schwer verletzt. Etliche befinden sich in kritischem Zustand. Es war später Dienstagvormittag, als offenbar sechs bewaffnete Männer den Angriff auf die Schule begannen. Sie sollen pakistanische Armeeuniformen getragen haben. 500 Schüler und Lehrer waren zu diesem Zeitpunkt in den Gebäuden der Schule, in der Aula fanden gerade Prüfungen statt. „Sie haben sofort angefangen, mit automatischen Waffen zu schießen“, sagte ein Schüler, dem die Flucht gelang. „Als wir plötzlich Schüsse hörten, rannten wir in unser Klassenzimmer, um uns zu verstecken. Doch sie haben uns gefunden“, erzählte ein anderer Junge. Er überlebte, zehn seiner Freunde wurden erschossen. Ein Lehrer sagte der Zeitung Express Tribune: „Die Angreifer sind von Zimmer zu Zimmer gegangen und haben die Kinder erschossen.“ In der Schule brach Chaos aus, einige Schüler und Lehrer konnten fliehen. „Als wir nach draußen rannten, sahen wir die Leichen unserer Schulkameraden auf den Fluren liegen. Sie bluteten, manche hatten drei, vier Schusswunden“, sagte ein Augenzeuge der Zeitung Dawn. Kurze Zeit später umstellten Armeeeinheiten den Tatort. Es kam zu schweren Feuergefechten, alle sechs Angreifer wurden erschossen, Explosionen waren zu hören. Als die Soldaten von Raum zu Raum vorrückten, fanden sie zahlreiche Sprengsätze, welche die Angreifer in den Klassenzimmern versteckt hatten. Die Terrorgruppe Tehrik-i-Taliban Pakistan (Taliban-Bewegung in Pakistan, TTP) hat die WAS FEHLT … Merkwürdige und absurde Meldungen aus dem Alltag: taz.de setzt mit der Rubrik „Was fehlt“ eine alte Tradition der tageszeitung fort – auf taz.de/wasfehlt Absurd Albern Voll daneben www.taz.de USA Jeff Bush will Präsident werden TALLAHASSEE | Jeb Bush, Bruder des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush und Exgouverneur von Florida, will bei den nächsten Wahlen als Präsidentschaftskandidat antreten. Der 61 Jahre alte Republikaner kündigte seine Kandidatur für die Wahlen am Dienstag an. Er werde der Möglichkeit, als Präsident zu kandidieren, „aktiv nachgehen“. Unter den Konservativen werden ihm große Chancen eingeräumt, das Weiße Haus zu erobern. Amtsinhaber Barack Obama darf nicht erneut antreten. (dpa) Der Terror ist Folge von Schwäche und Zerstrittenheit TALIBAN Die pakistanischen Militanten müssen im Kampf gegen das Militär Niederlagen einstecken Verantwortung für den Angriff BANGKOK taz | Jahrelang hat die übernommen. Ein Sprecher sag- pakistanische Armee damit gete, die Angreifer „hatten den Be- zögert, gegen militante Gruppen fehl, auf ältere Schüler zu schie- in der abgelegenen Provinz ßen, nicht auf Kinder“. Mit dem Nordwasiristan im Nordwesten Überfall wollten sich die Taliban des Landes vorzugehen. Das für eine Armeeoffensive in Nord- halbautonome Stammesgebiet waziristan rächen. An der Grenze an der Grenze zu Afghanistan gilt zu Afghanistan führt die pakista- als Hochburg der Tehrik-i-Talinische Armee seit Sommer einen ban Pakistan (Taliban-Bewegung Feldzug gegen die Taliban. in Pakistan, TTP), die das Land Die Taliban hatten gezielt Ort seit Jahren mit Terroranschlägen und Zeit ihres Angriffs gewählt. überzieht. „Wir haben die Schule angegrifAus Nordwasiristan heraus fen, weil die Armee unsere Fami- operieren auch militante Gruplien angreift. Wir wollen, dass sie pen, die im Verband mit den afunseren Schmerz fühlen“, sagte ghanischen Taliban in Afghanisder TTP- Sprecher. Die Schule in tan kämpfen. Zu diesen Gruppen Peschawar gehört zu einem lan- unterhält der pakistanische Sidesweiten Netzwerk von Bil- cherheitsapparat Kontakte. Die dungseinrichtungen, die vom US-Regierung versucht seit JahMilitär betrieben werden. Auch ren, Pakistans Generäle zu einem das Datum hat eine besondere Einmarsch in die Region zu beBedeutung: Am 16. Dezember wegen. Lange ohne Erfolg. 1971 kapitulierte die pakistaniDie pakistanischen Taliban sche Armee im Bangladesch- haben immer vor Racheakten gekrieg mit Indien. Pakistans Mi- warnt, falls die Armee in Nordnisterpräsident Nawas Scharif wasiristan einmarschieren sollverurteilte den Angriff und te. Als Pakistans Armee Mitte Jusprach von einer nationalen Tra- ni ihre Operation Sarb-i-Asb eingödie. „Das sind meine Kinder. leitete und in Nordwasiristan Es ist mein Verlust“, sagte einmarschierte, ging die Scharif. Der RegierungsZahl der Anschläge im chef fuhr nach PeschaLand jedoch umgehend THEMA war, um die Befreiungsspürbar zurück. Die DES TAGES aktion zu überwachen. Zahl der Todesopfer Er warnte: „Dieser Krieg durch Terrorakte verrinwird weitergehen, bis das gerte sich im Vergleich Land vom Terrorismus befreit zum Vorjahr um die Hälfte. ist.“ Er ordnete eine dreitägige Die pakistanischen Taliban Staatstrauer an. teilen sich mit den Taliban in Af- Freiwillige bringen einen angeschossenen Schüler in Sicherheit. „Wir wollen, dass sie unseren Schmerz fühlen“, so ein Taliban-Sprecher Foto: ap ghanistan nur den Namen. Die TTP entstand, als sich Ende 2007 rund ein Dutzend militante Gruppen unter der Führung von Baitullah Mehsud zusammenschloss. In der Folgezeit gelangen der Truppe unerwartet große militärische Erfolge. Die Militanten brachten rund ein Drittel der Stammesgebiete unter ihre Kontrolle. Die pakistanischen Taliban sind in mindestens vier Fraktionen zerfallen Im November 2013 übernahm der frühere Anführer der Taliban-Fraktion im Swat-Tal, Maulana Faslullah, die Führung der pakistanischen Taliban. Zuvor hatte die CIA den vorherigen TTP-Chef Hakimullah Mehsud durch einen Drohnenangriff getötet. Seitdem sind Berichten zufolge die Spannungen innerhalb des Militantennetzwerks offen zutage getreten. Die pakistanischen Taliban sind dadurch in mindestens vier Fraktionen zerfallen. Pakistans Armee gibt an, sie habe seit Beginn ihrer Offensive im Juni mehr als 1.100 Militante getötet. Die pakistanischen Taliban könnten als solche tatsächlich am Ende sein: Die Gruppe hat ihr Rückzugsgebiet und ihre Ausbildungslager für Kämpfer und Selbstmordattentäter verloren. Die Gruppe Pandschabi-Taliban, die Beziehungen zu dem TTP-Netzwerk unterhielt, kündigte im September an, fortan nur noch in Afghanistan zu kämpfen. Die Erfolge des Islamischen Staates (IS) im Irak und in Syrien haben den Zerfall der pakistanischen Taliban beschleunigt. Vor einigen Wochen sind in Peschawar – dem Schauplatz des Schulmassakers – Flugblätter aufgetaucht, die den IS priesen. Sechs wichtige TTP-Anführer erklärten dem IS-Anführer Abu Bakar alBaghdadi ihre Gefolgschaft. Ob diese Entwicklungen ein Ende des Terrors in Pakistan einläuten, ist fraglich. Das Massaker an den Schulkindern zeugt zwar auch von der Schwäche der Dschihadisten. Ob sich Pakistans Sicherheitsapparat nun dazu durchringen wird, seine Verbindungen zu anderen, angeblich „nützlichen“ militanten Gruppen in der Region zu kappen, ist unwahrscheinlich. Der Anschlag vom Dienstag könnte so auch der Beginn einer neuen, noch rücksichtsloseren Terrorwelle geweSASCHA ZASTIRAL sen sein. REPORTAGE www.taz.de [email protected] Pegida MITTWOCH, 17. DEZEMBER 2014 TAZ.DIE TAGESZEITUNG „Wir sind das Volk“, skandiert die Menge, die am Montagabend durch Dresden zieht und ein Gefühl „wie 1989“ beschwört Dresden, 15. Dezember: Pegida-Anhänger fechten einen Glaubenskrieg ganz eigener Art aus Foto: Hannibal Hanschke/reuters „Ich geh ooch ma zum Döner“ Hier gebe es Professoren, Polizisten, Hausfrauen – alles, sagt eine Teilnehmerin. „Alles“ gibt es bei Pegida – nur keine Nazis. Jedenfalls niemanden, der sie sehen will. Unser Reporter hat sich unter die Menge gemischt AUS DRESDEN DENIZ YÜCEL Dresden am Montagabend. An die 15.000 Menschen haben sich zum Schweigemarsch der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) versammelt. Deutschlandfahnen wehen im milden Abendwind, dazu ein paar Sachsenfahnen, einige tragen Transparente wie „Keine Scharia in Europa“. Die Menge skandiert „Wir sind das Volk“ und „Lügenpresse, Lügenpresse“ – ein Wort, das man von rechtsextremen Aufmärschen kennt, wo es sich auf „auf die Fresse“ reimt. Bei Pegida geht es gemäßigter zu, „Lügenpresse“ wird nur wiederholt – es klingt auch so hasserfüllt. Wer als Journalist über Pegida berichten will, hat es nicht leicht. Kaum einer der Demonstranten will reden, ich sehe Kollegen, die fast verzweifelt versuchen, Gesprächspartner zu finden. Ich gehöre heute nicht zu ihnen. Ich werde die Demo mitlaufen. Ich werde den Rednern applaudieren und einige Male sogar in den „Wir sind das Volk“-Chor einstimmen. In meiner Jacke klemmt eine kleine Deutschland-Fahne, in der Tasche habe ich eine Legende: Ich komme aus Berlin und bin hier, weil ich mir selber ein Bild machen wollte. Weil man den Medien ja nicht glauben kann. Die Ersten, die ich anspreche, sind zwei Frauen Ende dreißig. Sie haben sich beide in Deutschland-Fahnen gehüllt, unter ihren Schals blinken dunkelrote Lichter, die an die Teufelshörnchen erinnern, die AC/DC-Fans gern tragen. Die eine hat ihre wasserstoffblonden Haare zu einem Zopf gebunden, die andere hat reichlich Parfum aufgetragen, eher Rossmann als Chanel, sparen muss man da nicht. Sie finden es gut, dass ich mich nicht auf die Medien ver- lassen möchte. Die würden ja alle zu Nazis abstempeln. Zu Unrecht? „Guck dich doch mal um, wir sind ganz normale Leute“, sagt die Wasserstoffblonde mit breitem sächsischen Akzent. „Wir sind für unsere Kultur und unsere Sitten, wir wollen, dass sich die Ausländer integrieren“, ergänzt ihre Freundin. Ich antworte, dass ich aus Berlin komme. Das genügt schon, um sie erschaudern zu lassen. „Du Ärmster“, sagt eine. „Wir demonstrieren dafür, dass es in Dresden gar nicht erst so weit kommt wie in Neukölln. Bei 50 Prozent Ausländern ist es zu spät.“ Ich frage noch mal nach den Nazis. „Hier sind vielleicht 20, 25 Nazis, mehr nicht“, meint Rossmann N° 5. Und woran erkennt man die? „Die rufen ‚Ausländer raus!‘ Aber die Orga-Leute achten darauf, dass das keiner macht. Und ich seh das ja auch nicht so, ich geh ooch ma zum Döner.“ klatschen. Schließlich spricht eine Frau aus Chemnitz. „Wir wollen friedlich und im Dialog bleiben“, sagt sie, und zum ersten Mal ist so etwas wie Unmut zu spüren. Aber sie kriegt die Kurve: „Ganz Deutschland schaut auf euch, ihr hier in Dresden seid die Hoffnung für Hunderttausende.“ Das kommt wieder gut an. Bei der Stelle mit dem Dialog hatte ein Mittzwanziger gerufen: „Das geht mit denen nicht!“ Dabei hatte die Rednerin gar nicht erwähnt, wer „die“ sind. Doch hier genügen offenbar Andeutungen. Der Mann hat eine Bierflasche in der Hand und eine Alkoholfahne. Er steht mit Freun- den zusammen: Kapuzenjacken, kahl geschorene Schädel, Tätowierungen. Sind sie Nazis? „Hier sind keine Nazis“, antwortet er. „Ich bin Maler, hier gibt es Professoren, Polizisten, Hausfrauen – alles.“ Offenbar gilt Nazi hier als eigener Beruf. Ein anderer aus der Gruppe ergreift das Wort: „Ich bin nicht gegen alle Ausländer. Wir kommen aus einem Dorf „Im Vergleich zum BRD-System war die DDR harmlos“ PEGIDA-ANHÄNGER IN DRESDEN „Pfui“-Rufe für Gauck & Co Dann beginnt die Kundgebung. Zuerst spricht Lutz Bachmann, der Wortführer von Pegida. Er geht die Politiker durch, die in der vergangenen Woche Pegida kritisiert haben, von Bundespräsident Joachim Gauck über Justizminister Heiko Maas bis zur Dresdner Oberbürgermeisterin Helma Orosz. Eine Art kommentierte Presseschau, wobei die Menge schon bei der bloßen Nennung der Namen „Pfui“ ruft. Merkel habe von Abstiegsängsten geredet, sagt Bachmann und lacht. „Abstiegsängste werden in Zukunft ganz andere bekommen!“, ruft er. „Jawoll!“ schallt es zurück. Dann tritt Kathrin Oertel vom Pegida-Führungsteam ans Mikrofon. Sie wiederholt die Devise, nicht mit der Presse zu sprechen: „Kein Wort zu den Hetzern, die sich unter uns verborgen haben.“ Die Zuhörer johlen und 03 hier bei Dresden, da gibt es einen Dönermann, ein Türke. Der arbeitet hart und ist anständig. Der ist in Ordnung.“ Inzwischen hat sich der Demonstrationszug in Bewegung gesetzt. Es geht durch dunkle Nebenstraßen, gelegentlich sieht man aus der Ferne die Gegendemonstranten, mehrere Tausend sollen es sein. Untergehakt läuft ein Pärchen um die 50. Er mit schickem Seidenschal, sie in elegantem Mantel. Sie könnten auf dem Weg in die Semperoper sein, sind aber aus Erfurt zur PegidaDemonstration“ angereist. „Es gibt keine Partei mehr, die Politik für das Volk macht, außer vielleicht die AfD“, sagt die Frau und ist zufrieden, dass heute auch der stellvertretende AfD-Vorsitzende Alexander Gauland mitläuft. „Es ist alles wie 1989“, sagt ihr Mann. „Das Volk ist wieder auf der Straße, während die Herrschenden und ihre Propagandaorgane verzweifelt versuchen, uns zu diffamieren. Aber ich sehe hier keine Nazis.“ Gesinnungstest Es herrscht Misstrauen gegen die Medien Foto: Sean Gallup/Getty Images Ein paar Meter läuft ein anderes Pärchen: Sie trägt eine schwarze Bomberjacke und Piercing an den Augenbrauen, er ist Mitte dreißig in grauer Armeejacke, Glatze und Vollbart. Typ NaziTürsteher, könnte man vermuten. „Klar, bin ich Nazi, wir sind alle Nazis“, sagt er grinsend, seine Freundin lacht. Meint er das ernst? „Ach, hör mir uff, du brauchst bloß sagen, du bist deutscher Patriot, und schon kommen die mit der Nazikeule.“ Wer sind denn die? „Na, die Medien, die Volksverräter, die sich Volksvertreter nennen.“ – „Die echten Nazis sind die Salafisten mit ihrer Scharia“, ergänzt seine Freundin. „Und die linken Deutschlandhasser.“ Der Demonstrationszug ist inzwischen zum Halten gekom- men. Was da los ist, will ich von einem Mittvierziger in brauner Lederjacke wissen. „Vielleicht wieder eine Sitzblockade von Linken. Oder Journalisten, die mit ihren Autos den Weg zugeparkt haben.“ Einen guten Ruf haben Journalisten hier wirklich nicht. „Die wollen uns für dumm verkaufen“, sagt er. „Aber das geht heutzutage nicht mehr so einfach. Es gibt das Internet – und es gibt ein paar mutige Leute, die die Wahrheit aufschreiben. Udo Ulfkotte oder Thilo Sarrazin. Ich habe überprüft, was der geschrieben hat, da stimmt alles. Alles Fakten“, sagt er und blickt mich an, als sei der Name Sarrazin ein Gesinnungstest. „Ja, der hatte viele Zahlen“, antworte ich und bestehe den Test. „Du siehst: Wir sind ganz normale Leute. Wie 1989. Auch damals hat alles eigentlich in Dresden angefangen, nicht in Leipzig, wie das später verdreht wurde.“ Ich merke: In dieser Welt wimmelt es nur so von „Verdrehungen“. Das gilt für viele Themen. Zum Beispiel Putin (findet man gut) oder den Euro (findet man nicht gut). Aber ist das heutige politische System nicht ein ganz anderes als das der DDR? „Ich wurde damals sogar verhaftet. Aber jetzt denke ich: Im Vergleich zum BRD-System war die DDR harmlos. Die Herrschenden heute sind viel schlauer. Und sie hassen Deutschland. Die DDR war nicht so antinational. Und wir wuchsen dort sehr behütet auf.“ Die Menge vertreibt sich die Zeit mit dem Singen der Nationalhymne. Dass die Route diesmal kürzer ist und von der Abschlusskundgebung nur wegen technischer Probleme noch nichts zu hören ist, dringt nicht bis zu uns durch. Hier glaubt man an eine Störung durch Gegendemonstranten. „Beim letzten Mal waren das höchstens 2.000, keine 10.000, wie die Medien geschrieben haben“, sagt eine Frau. Mit ihren rot gefärbten Haaren und der engen Jacke würde sie unter den Gegendemonstranten nicht auffallen. „Wenn wir wollen würden, könnten wir die überrollen“, sagt sie. „Für mich sind das bezahlte, arme Schweine, die kriegen 10 Euro die Stunde.“ Woher sie das weiß? „Steht offiziell im Internet.“ „Und die Leute hier? Sind die alle in Ordnung?“, frage ich und füge hinzu: „Mit Nazis will ich nichts zu tun haben, die haben genug Unheil über unser Land gebracht.“ Jetzt übernimmt wieder der freundliche Mann in der Lederjacke das Wort: „Wenn man da ins Detail geht, wird man sehen, dass da auch nicht alles so war, wie es immer heißt. Ich sag mal: Wir Deutschen waren immer die Gearschten, beim Ersten Weltkrieg, beim Zweiten und heute wieder.“ Inzwischen hat Bachmann mit der Abschlussrede begonnen, unser Gespräch wird immer wieder durch Sprechchöre unterbrochen. Aber wenn nicht Hitler schuld war am Krieg, wer dann? „Die Sieger schreiben die Geschichte“, sagt die Frau. „Immer nur die Sieger.“ Dann ergänzt der Mann: „Es gab eine bestimmte Interessengruppe. Die war damals mächtig und ist es heute auch. Du musst nur ein bisschen nachforschen, dann wirst du es selber herausfinden. Ich sag nur: Jeder kennt sie.“ Jetzt ist Bachmann fertig und ruft wie immer zum Schluss die Teilnehmer dazu auf, ihre Telefone zu zücken. Tausende Handys leuchten in den Dresdner Abendhimmel. Nazihandys sind wohl nicht dabei.
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