Das Donnern der Waffenruhe

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Die Kartoffelrevolution
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Chinas Regierung will die Kartoffel als Grundnahrungsmittel einführen.
Nur: Sie schmeckt den Chinesen nicht Sachkunde SEITE 29–31
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| SONNABEND/SONNTAG, 21./22. FEBRUAR 2015
Griechenland
Das Donnern
der Waffenruhe
Was ist so schlimm an
einem Staatsbankrott?
Es streiten der Bundesbankchef, Hofreiter,
Wagenknecht SEITE 5, 17
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KRIEG Obwohl seit einer Woche die Waffen schweigen sollen, gehen
die Kämpfe im Osten der Ukraine weiter. Unterwegs in einem Land
im Kriegszustand. Und in Kiew, wo alles begann: der Maidan als
Bühne der Revolution SEITE 3, 8, 9, 10, 18–20
5. und 6. März 2015 I zakk I Düsseldorf
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Der stärkste Satz
Nach Dortmund fahren
ergibt keinen
Sinn
DAVID SCHRAVEN über seine
Comic-Recherche zum NSU auf SEITE 35
Weitere Beiträge: MICHA BRUMLIK und MOSHE
ZUCKERMANN über jüdische Reaktionen auf die
islamistischen Anschläge. Außerdem Kolumnen
von PETER UNFRIED und RAINER SCHÄFER
b  taz.berlin
Bewerbung Kann Berlin
Olympische Spiele?
Bislang deutet darauf
wenig hin SEITE 39, 41, 44, 45
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Aus Worten
werden Welten.
Am 18. Februar feuern prorussische Rebellen Raketen in Richtung der Stadt Debalzewe ab, die sie inzwischen eingenommen haben Foto: Pierre Crom/Getty Images
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02
Kompass
SONNABEND/SONNTAG, 21./22. FEBRUAR 2015  TAZ.AM WOCHENENDE
Aus
dem Inhalt
......................................................................
Politik
Staatspleite Wie Island den
Griechen als Inspiration
dienen kann Seite 5
Ausspähung SnowdenEnthüllung: Die NSA kann
auch SIM-Karten knacken
Seite 6
Prozess Der Fall Sebastian
Edathy wird ab kommender
Woche vor Gericht
verhandelt Seite 7
Reportage
Titel Eine Busfahrt von
München nach Kiew, mitten
hinein in den Ukrainekrieg
Seite 8, 9
Argumente
Titel Warum im Donbass
trotz Waffenruhe gekämpft
wird Seite 10
Kultur
Das IS
Karneval
Rassismus Achille Mbembes
„Kritik der schwarzen
Vernunft“ Seite 15
Gesellschaft
Streitfrage Was ist so
schlimm an einem
Staatsbankrott? Seite 17
Titel Die „Tagebücher des
Maidan“ Seite 18–20
Hausbesuch „Sie ist
formlos“, sagt Anna Konda
über Angela Merkel Seite 21
Knick Begegnung mit einem
Exstarjournalisten, der heute Möbel verkauft Seite 23
Gespräch „Natürlich haben
sie Gesichter“: Der USScharfschütze Garett
Reppenhagen über die
Menschen, die er im
Irakkrieg tötete Seite 24, 25
Sachkunde
Knolle Wie die chinesische
Regierung der Bevölkerung
die Kartoffel schmackhaft
machen will Seite 29–31
Medien
Nazis Vom Reiz, eine
investigative Recherche als
Comic zu erzählen Seite 35
Reise
Kairo Das Ägyptische
Museum bekommt
Konkurrenz Seite 36, 37
Leibesübungen
Bewerbung Arm, aber
sportlich: Wie Berlin die
Olympischen Spiele holen
will Seite 39
AUS DER TAZ SEITE 16
TAZ.LAB SEITE 27
LESERINNENBRIEFE SEITE 28
TV-PROGRAMM SEITE 34
DIE WAHRHEIT SEITE 40
LEKTIONEN
5 Dinge, die wir
diese Woche
gelernt haben
1. Die FDP gibt es noch
Unter pinkem Einfluss haben die
Freien Demokraten einen Wahlsieg gefeiert. Mit 7,4 Prozent wurde die Exregierungspartei in die
Hamburger Bürgerschaft gewählt. FDP-Chef Christian Lindner spricht postwendend von einer „Eisbrecher“-Wahl. Vielleicht
etwas voreilig? Nach einer Wahlniederlage kommt ja schließlich
auch kein Politiker auf die Idee,
von einem Ergebnis in einem
ziemlich unbedeutenden Stadtstaat einen Bundestrend abzuleiten.
örg Rupp hatte das Sonntagabendessen gekocht und
schaute Hamburg-Wahl, als
sein Landesvorsitzender anrief. Tittengate! Wegen eines
Tweets von ihm. „Mit Titten und
Beinen anstatt Inhalten“, so hatte
der grüne Gemeinderat von
Malsch bei Karlsruhe den Wahlerfolg von Katja Suding (FDP) bei
der Bürgerschaftswahl in Hamburg analysiert. Wenn er Morddrohungen bekommt für sein
Anti-Pegida-Engagement, interessiert das kein Schwein, aber
jetzt landet er auf dem Titel von
Bild. Neben dem riesigen Foto
von Sudings Beinen steht sein Zitat, sein Name und das Wort
„Skandal“.
Was „Inhalte“ sind, ist im Zusammenhang mit allen Parteien
oft schwer zu sagen. „Beine“ ist
jedenfalls ein Begriff für die untere Extremität von Mensch und
Säugetier. Und „Titten“ ist ein
umgangssprachlicher Ausdruck
für die weibliche Brust, der trotz
Gründung der Grünen im Volk
bis heute nachhaltig verankert
ist; geschlechterübergreifend.
Aber von einem grünen Mann als
J
Nein, das ist nicht in Mossul oder Rakka. Diese Kämpfer des „Islamischen Staats“ sind verkleidete
Karnevalisten beim Umzug in Aalst in Ostflandern, Belgien. Die Waffen sind Attrappen, die Bärte nur
angeklebt. Zum 87. Mal fand der Umzug in diesem Jahr statt, er ist offiziell Weltkulturerbe. In Braunschweig wurde der traditionelle „Schoduvel“, der größte Karnevalsumzug in Norddeutschland, hingegen abgesagt. Als Grund gab die Polizei an: eine islamistische Anschlagsdrohung.
Foto: Yves Hermann/reuters
2. Man kann der Rundfunkgebühr entkommen
Eigentlich müssen alle den
Rundfunkbeitrag (früher GEZ)
von monatlich 17,98 Euro pro
Haushalt bezahlen. Manche
kämpfen dagegen an. Jürgen
Wagner etwa, er wurde als „Waldmensch“ bekannt, wohnhaft in
Jurten und Erdlöchern, ohne
Geld. Er hat immer betont, dass
er in seiner Unterkunft nicht mal
Strom habe. Notfalls könne er die
Rundfunkgebühr aber mit Falläpfeln bezahlen. Muss er nicht.
Die Forderung wurde zurückgezogen.
3. Die katholische Kirche ist
transparent
Als Protz-Bischoff von Limburg
ist Tebartz-van Elst in die Kritik
geraten, die freistehende Badewanne in seiner zweistöckigen
Wohnung dürfte es zu einem der
bekanntesten Einrichtungsstü-
cke Deutschlands gebracht haben. Der Bischof ist suspendiert,
ein neuer noch nicht bestimmt,
die Wohnung mit ihren 283 Quadratmetern also unbewohnt. Sie
durfte nun am Freitag zum ersten Mal von Journalisten besichtigt werden. Ab April soll es weitere Führungen durch den Bischofssitz geben. Die Privatwohnung aber bleibt tabu. Offenheit
hat auch ihre Grenzen.
4. Die PNP brauchte das Geld
Die Passauer Neue Presse hat sich
über ihr Verbreitungsgebiet hinaus einen Bekanntheitsgrad erarbeitet. Durch das passende Politikerzitat zur richtigen Zeit belegt die PNP unter den Regionalzeitungen regelmäßig einen
Spitzenplatz im Zitateranking.
Jetzt macht sie selbst Schlagzeilen. Der Verein „Die Deutschen
Konservativen“ warb darin auf
einer halben Seite für eine Hetz-
schrift gegen den Islam. Ein Versehen? Die Verlegerfamilie
selbst habe die Veröffentlichung
abgesegnet, zitiert die Süddeutsche Zeitung aus einem Brief, der
von Verlagsmitarbeitern stammen soll. 15.000 Euro soll die Anzeige eingebracht haben.
5. Ironie muss man aushalten
„War das Ernst? Oder August?“,
diese Zeile hatte ein Zigarettenhersteller zum Bild einer eingedrückten
Zigarettenschachtel
gestellt. Eine Anspielung auf eine
tätliche
Auseinandersetzung
zwischen Musikproduzent Dieter Bohlen und Ernst August
Prinz von Hannover. Beide klagten dagegen. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte
urteilte nun: Die Werbung hat die
beiden „weder abwertend noch
negativ dargestellt“. Zumindest
nicht negativer, als sie selbst auftreten.
SEBASTIAN ERB
..................................................................................................................
DIE EINE FRAGE
Titten
DER FALL KATJA SUDING: DÜRFEN GRÜNE UMGANGSPRACHLICHE
WORTE FÜR DIE WEIBLICHE BRUST BENUTZEN?
Wahlanalyse? Nicht nur Grüne,
auch antisexistische Vorkämpfer wie Kubicki (FDP) und Strobl
(CDU) sind empört.
Rupp, 48, ist Mitglied des baden-württembergischen Parteirats. Er hat fünf Söhne mit zwei
Frauen (nacheinander). Tschernobyl und die Volkszählung haben ihn Mitte der 80er politisiert. Dann ist er auch noch linker Grüner. „Das ist in BadenWürttemberg schwer genug“,
sagt er. Wer regiert, ist immer Realo. Anders als sein Ministerpräsident Kretschmann zog er sich
mit zwanzig sogar aus dem organisierten Faschingsbusiness zurück, weil ihn das Saufen und der
Sexismus dort anwiderten. Und
jetzt das.
„Titten darf man als Grüner
nicht sagen“, sagt Rupp am Tele-
.......................................................
PETER UNFRIED IST
TAZ-CHEFREPORTER
.......................................................
fon. Ein Kurzschluss. Er möge
den Ausdruck „Titten“ selbst
nicht. Weshalb er Suding umgehend um Entschuldigung bat,
was sie akzeptierte. Allerdings:
„Von meiner Kritik an der FDPKampagne lasse ich nicht ab.“
Rupp war im Grunde der Allerletzte, der der FDP und ihrer
Spitzenkandidatin vorwarf, mit
„gutem“ Aussehen Wahlkampf
zu machen. „Der Verdacht, dem
Äußeren mehr als den Inhalten
verpflichtet zu sein.“ – Mit solchem Blabla wurden Seiten 3 gefüllt, also das Heiligtum des Qualitätsjournalismus. Die Welt fragte: „Mehr als Bein und Busen?“
Bildunterschrift: „Voller Körpereinsatz“. So ging das ständig. Die
angebliche Kritik an einem ARDKameraschwenk über Sudings
untere Extremitäten wurde (aus
Gründen der Informationspflicht) entsprechend bebildert.
Eine Gala-Fotostrecke wurde dito rauf- und runtergehechelt. Naserümpfend,
kulturpessimistisch. Wo sind wir da nur hingekommen?
Das Zitat
„Wir sind nicht im
Krieg mit dem Islam.
Wir sind im Krieg mit
Menschen, die den
Islam pervertiert
haben“
US-Präsident Barack
Obama auf einer Konferenz gegen gewaltsamen Extremismus
am Mittwoch im
Weißen Haus
Foto: reuters
Heimat Micha Brumlik über
die Verdienste jüdischer
Mitbürger Seite 12
Look at yourself. Den wichtigsten Beitrag zum FDP-Erfolg
leistete weder Sudings Körper
noch ihr Geist, noch Gala, sondern die scheinheilige, aufgegeilte und antipolitische Auseinandersetzung mit der Thematisierung ihres „guten“ Aussehens
durch sich, die FDP und die anderen Medien. Wir alle sind Gala.
Die Sache ist ein erneuter Beleg,
mit welcher Besessenheit sich
auch die angeblich kritische Medienöffentlichkeit an Oberflächengedöns festbeißt. Mit welcher Inbrunst es darum geht, potentielles individuelles Fehlverhalten zu geißeln, was Haltungen und Sprache angeht. Und
wie blass dagegen die Prozesse
sind, die gleichzeitig die Welt
wirklich – und zum Schlechteren
– verändern. Da sieht man mal,
wie sehr grüne Politik tatsächlich auf die Gesellschaft eingewirkt hat: Erst wenn der letzte
Titten-Sager abgeurteilt ist, kann
sich das geläuterte Land dem Klimawandel zuwenden. Also nie.
Im übrigen bin ich nicht der
Meinung, dass Katja Suding gut
aussieht.
Die Drei
SONNABEND/SONNTAG, 21./22. FEBRUAR 2015  TAZ.AM WOCHENENDE
03
UKRAINE Die Politikwissenschaftlerin Constanze Stelzenmüller hält das Friedensabkommen Minsk 2 für gescheitert
und sieht die europäische Friedensordnung in Gefahr. Ein Interview über Putin, Obama und rote Linien
„Was hier geschieht, ist schamlos“
Man kann natürlich der ukrainiMcCain aus Arizona, einer der Als mündige Bürgergesellschaft
schen Seite militärische und poschärfsten Kritiker in München, haben wir ein Recht, mitzureden.
taz: Frau Stelzenmüller, müssen
litische Fehler vorwerfen. Die
hat zu Hause starke Gegner in der Insofern finde ich es gut, dass der
wir Angst vor einem Krieg haPrivatbataillone der Oligarchen
Tea Party.
Weißbuchprozess mit einer öfben?
sollten dem Kommando von
Konkret: Wie schätzen Sie Oba- fentlichen Konferenz angefanConstanze Stelzenmüller: Es
Kiew unterstellt werden, dann
mas nächste Schritte ein?
gen hat.
gibt ja bereits einen Krieg in der
hätte es auch ein Ende mit proObama hat den Amerikanern Was heißt das?
Ukraine mit mindestens 5.000
blematischen Abzeichen. Alles
versprochen, dass sich Amerika Wir sehen gerade, wie wichtig
Toten, vielleicht deutlich mehr.
konzediert. Trotzdem: Wir haben
nicht mehr in endlose, nicht zu Abschreckung und Landes- beUnd es gibt einen klaren Aggreses hier mit nackter russischer
gewinnende Kriege verstrickt. ziehungsweise Bündnisverteidisor, Russland, der aber seine BeAggression zu tun. Putin verlässt
Denn damit haben die USA im gung ist. Aber wir lernen auch,
teiligung nur scheibchenweise
sich offensichtlich darauf, dass
Irak, in Afghanistan und anders- wie wichtig es für Europa ist, von
zugibt. Das ist alles an sich schon
wir das ertragen, weil die Ukraiwo sehr schlechte Erfahrungen einer stabilen und prosperierenempörend genug. Die Ukraine
ne nicht in der Nato und Russgemacht. Der Druck zu Hause den Nachbarschaft umgeben zu
grenzt an vier EU-Staaten: Polen,
land eine Atommacht ist.
wird zwar steigen, aber ich ver- sein. Wir treiben mit diesen Ländie Slowakei, Ungarn und RumäGelingt ihm das?
mute, dass man erst über weitere dern Handel; und von dort wernien. Natürlich muss den MenIch frage mich, ob wir seit der
Sanktionen nachdenken wird. den angesichts unserer niedrischen dort die Gewalt im NachBosnienkrise Mitte der 90er JahIch wünsche mir, dass Amerika gen Geburtenrate auch die Arbarland Sorgen machen und
re nicht so etwas wie normative
und Europa außerdem mehr tun, beitskräfte der nächsten Jahrauch Angst. Es ist weniger als
Abrüstung betrieben haben.
um der Ukraine auf dem Weg zehnte kommen. Russland wie25 Jahre her, dass sie zusammen
Wenn wir das menschliche Leid
nach Europa zu helfen. Aber ich derum scheint mir nicht so sehr
mit der Ukraine unter russischer
vor unserer Türschwelle nicht
kann mir auch vorstellen, dass es zu stark für uns, sondern zu
Herrschaft waren. Für diese Gezur Kenntnis nehmen – oder uns
zu amerikanischen Waffenliefe- schwach für sich selber zu sein;
fühle sollten gerade wir als früweigern, darin eine Normverletrungen kommt.
die Aggression nach außen soll
herer Frontstaat im Kalten Krieg
zung zu sehen –, müssen wir
Würden Sie sagen, dass die USA die innere Schwäche überdeviel Verständnis haben.
auch nicht reagieren und uns
sich zu sehr aus Europa zurück- cken. Das kann für uns alle noch
Also stimmt es, dass der „dritte
nicht schuldig fühlen, weil wir
gezogen haben?
sehr gefährlich werden. So ein
.........................................................................................................................................................................
Weltkrieg“ schon begonnen
das zulassen. Das entlastet.
Die USA haben sich nicht zurück- Weißbuchprozess kann helfen,
Constanze Stelzenmüller
hat?
War es ein Fehler von Merkel .......................................................................................................................................................
gezogen, und sie haben auch diese neuen Entwicklungen einIch bin da ganz bei der Bundesund anderen, militärische Un- ■ Die Juristin und Politikwissennicht das Interesse an uns verlo- zuordnen und Folgerungen darkanzlerin: Bitte alle die Nerven
terstützung so grundsätzlich schaftlerin arbeitet derzeit als Ro- ren, im Gegenteil. Aber sie sind aus zu ziehen. Vor allem müssen
behalten! Alle diese historischen
auszuschließen?
mit Problemen anderswo be- wir uns fragen: Wie sorgen wir
bert Bosch Senior Fellow bei der
Analogien – der dritte Weltkrieg,
Es wäre klug gewesen zu sagen: Denkfabrik Brookings Institution
schäftigt, und sie müssen mehr für die Sicherheit unseres Kontiein neuer Kalter Krieg – sind hysWir schließen nichts aus. Alle Op- in Washington, D.C. Ihre Fachgeals früher Prioritäten setzen. Das nents ohne die Rückversicheterischer Unsinn. Aber dass
tionen bleiben auf dem Tisch. biete sind die transatlantischen
heißt, dass wir Europäer mehr rung einer garantierten ameriRussland, eine Großmacht mit
Schließlich haben wir, aus huma- Beziehungen, sowohl die deuttun müssen für den Schutz der kanischen Präsenz?
Atomwaffen, glaubt, es kann in
nitären Gründen, schon zweimal sche Außen-, Sicherheits- und Ver- europäischen Friedensordnung. Wer ist in dem Zusammenhang
einem Nachbarland der EU Krieg
in Nicht-Nato-Staaten interve„wir“? Ist das Europa, ist es
teidigungspolitik als Ich finde das nur richtig.
führen, ist schon schlimm geniert: in Bosnien, im Kosovo. Die
Sie waren auf der Sicherheits- Deutschland, ist es ein Teil Euauch die der Eunug. Denn wir sollten diesen
völkerrechtliche
Begründung
konferenz und jetzt bei den Dis- ropas?
ropäischen
Konflikt auch nicht kleinreden.
war damals etwas konstruiert,
Union, die Na- kussionen über das neue Weiß- Natürlich müssen wir mit dem
Er ist eine Gefahr für die europäaber sie hat viele Leben gerettet.
to, internatio- buch der Bundeswehr in Berlin Denken auf der nationalen Ebeische Friedensordnung.
Präsident Obama hat bisher ein
zugegen. Wie bewerten Sie die ne anfangen, weil wir da die
nales Recht
Was also bedeutet die EinnahGutteil der Initiative Europa
Diskussion über die Sicher- stärkste Einheit von Autorität
und Menme der ostukrainischen Stadt
und Frau Merkel überlassen.
heitspolitik in Europa?
und Verantwortung haben. Aber
schenrechte.
Foto: idw
Debalzewe?
Wird sich seine Zurückhaltung
Die Stimmung in München war wir Europäer sind so tief miteinIch gebe nicht gern den Ohrenjetzt ändern?
so düster wie seit vielen Jahren ander verflochten und intesesselgeneral. Aber sie kann ein
Hinter den ruppigen Äußerunnicht mehr, Wladimir Putin hat griert, dass man auch unsere Siwichtiger militärischer Wendegen einiger US-Senatoren auf der
viel strategische Klarheit produ- cherheit am Ende nur europäpunkt werden, weil die ukrainiSicherheitskonferenz in Münziert – wie die Umfragen der letz- isch denken kann.
schen Streitkräfte damit einen
chen steht auch innenpolitischer
ten Monate zeigen. Das ist wich- Sehen Sie überhaupt eine eurologistischen Knotenpunkt auf
Druck, das darf man nicht vertig, weil es heute undenkbar ist, päische Grundhaltung?
dem Weg nach Westen an die von
gessen. Im Frühjahr fängt der
dass Eliten die Sicherheitspolitik Mir scheint, die entsteht gerade
Russland gestützten sogenannWahlkampf für die Präsidentwie früher im rauchigen Herren- in der Krise. Die Ausgangspunkte
ten Separatisten verlieren.
schaftswahl 2016 an. Senator
zimmer unter sich diskutieren. waren ja sehr unterschiedlich –
schon weil die historischen Erfahrungen mit Russland so unterschiedlich sind. Die Balten
und etwa die Franzosen liegen da
weit auseinander. Die meisten
neuen EU-Staaten fühlen sich
immer noch besonders verwundbar: wegen ihrer Lage, weil
sie bis zu 100 Prozent ihrer Energie aus Russland importieren.
Und auch, weil Moskau gute Beziehungen zu radikalen Parteien
in Europa pflegt. Aber seit dem
Euromaidan, der Annexion der
Krim, dem Abschuss von MH17
und nun den Kämpfen in Debalzewe ist ein europäischer Konsens entstanden, dass es nicht
hinnehmbar ist, was mit der Ukraine geschieht. Je brutaler das
Vorgehen der Russen, desto stärker wird dieser Konsens.
Bedeutet das in letzter Konsequenz, dass wir die Ukraine aufrüsten sollten?
Ich bin in dem Punkt selbst zerrissen. Einerseits hat der Westen,
hat Amerika mit dieser Art von
Konflikteinmischung schlechte
Erfahrungen gemacht. Andererseits: Wie können wir zuschauen,
wie ein souveräner Staat filetiert
wird, weil seine Menschen sich
als Europäer sehen? Ist es nicht
besser, mit den Amerikanern
über Defensivwaffen zu diskutieren, als sie alleine entscheiden
zu lassen? Die Folgen treffen jedenfalls uns früher als sie. Und
wenn wir uns doch dagegen entscheiden: Tun wir wirklich alles
andere in unserer Macht, um
„Ich frage mich, warum wir bei der humanitären Lage in der Ukraine nicht genauer hinschauen.“ Straßenszene in Ilowajsk, Ostukraine Foto: Stanislav Krupar/laif
Russland zu stoppen?
INTERVIEW INES POHL
Ist die ukrainische Armee damit am Ende?
Mindestens ist es symbolisch ein
schwerer Schlag: für die Streitkräfte und die Regierung, aber
auch für die Zivilbevölkerung
der Ukraine. Die nächsten Schritte Russlands werden uns zeigen,
ob Moskau auf einen Regimewechsel in der Ukraine abzielt.
Minsk 2 ist damit gescheitert?
Ich fürchte, ja.
Sind damit diese außergewöhnlichen Anstrengungen von Merkel und Hollande, eine diplomatische Lösung herbeizuführen, auch am Ende?
Eine Demokratie darf nie auf Diplomatie verzichten. Da hat Außenminister Steinmeier recht,
der das besonders energisch verficht. Das unterscheidet uns von
einer Diktatur.
Dann lassen Sie mich anders
fragen: Muss man irgendwo eine rote Linie ziehen und sagen,
so weit und nicht weiter?
Für die Regierung gibt es eine
klare rote Linie: wenn es um einen Angriff auf ein Nato-Mitglied geht. Und übrigens gibt es
nach dem Lissabonner Vertrag
auch eine Beistandsverpflichtung für EU-Mitglieder.
Die Ukraine ist aber kein NatoMitglied. Gibt es nur für NatoMitglieder rote Linien?
Ich frage mich, warum wir bei
der humanitären Lage in der
Ukraine nicht genauer hinschauen. Wie belastbar sind die offiziellen Zahlen von rund 5.000 Toten? In einer deutschen Sonntagszeitung wurden „deutsche
Sicherheitskreise“ vor Kurzem
mit der Einschätzung zitiert, es
seien zehnmal so viele. Ich vermute, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Werden die Verletzten genügend versorgt, wo,
und von wem? Wer hilft den angeblich über eine Million Vertriebenen? Was hier geschieht, ist
schamlos.
Inwiefern?
Wie können wir
zuschauen, wie ein
souveräner Staat
filetiert wird, weil
seine Menschen sich
als Europäer sehen?