Schockiert und entsetzt - Universität Bielefeld

Ressort: politik
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Erscheinungsdatum: 17.12.2014 20:42 Uhr
Loeschdatum: 22.12.2014
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Westfalen-Blatt Nr. 294
20:42 Uhr
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E05
Donnerstag, 18. Dezember 2014
Schockiert und entsetzt
Ministerpräsident ordnet drei Tage Staatstrauer in Pakistan an – Schulbesuch ist in Talibangebieten lebensgefährlich
Es ist einer der blutigsten Terroranschläge in Pakistan seit Jahren: Talibankämpfer stürmen
eine Schule und ermorden mehr als 125 Kinder und Jugendliche. Weil Schulen immer wieder
von Islamisten angegriffen werden, geht nicht einmal die Hälfte der Fünf- bis 16-Jährigen zur
Schule. Die Angst ist berechtigt, wie ein beispielloses Massaker in Peshawar zeigt.
Peshawar
(dpa). Erstklässler
flüchten weinend ins Freie, Mütter
suchen tränenüberströmt nach ihren Kindern. Schwer bewaffnete
Soldaten umzingeln den Tatort –
eine Schule, von der hunderte
Schwerverletzte
abtransportiert
werden. Es sind bestürzende Szenen an diesem Dienstagmorgen in
Pakistans nordwestlicher Millionenstadt Peshawar, wo islamistische Talibankämpfer sich über
Stunden mit 500 Geiseln verschanzen. Die vorläufige Bilanz nach der
Erstürmung durch Militär und
Polizei: Mindestens 140 Tote, darunter mindestens 125 Kinder und
Jugendliche.
Es ist einer der schwersten
Anschläge seit Jahren in dem
Atomstaat mit seinen schätzungsweise knapp 190 Millionen Einwohnern. Zu der Bluttat an den
Minderjährigen bekennen sich die
Islamisten von Tehrik-i-Taliban
(TTP), ein loser Verbund radikaler
Gruppen. Ihr Motiv: Rache.
Denn die Schule mit etwa 1000
Kindern und Jugendlichen – darunter auch Mädchen – wird vom
Militär betrieben, ihrem verhassten Gegner. Seit Monaten liefern
sich die Taliban, deren Stärke
Experten auf mehrere zehntausend schätzen, erbitterte Gefechte
mit Regierungssoldaten.
Die Armee hat in ihren Stammesgebieten im Nordwesten vor
Monaten eine groß angelegte Offensive gestartet. Ministerpräsident Nawaz Sharif zeigt sich schockiert und beklagt eine »nationale
Tragödie«. Der Regierungschef eilt
an den Tatort und ordnet eine
dreitägige Staatstrauer an.
Einschüchtern lassen will er sich
nicht: Der Einsatz gegen die Extremisten werde unbeirrt fortgesetzt,
versichert er. Die im Juni angelaufene Offensive hat ein langes Zögern beendet. Kritiker werfen dem
Militär vor, jahrelang nur halbherzig gegen Extremisten vorgegangen zu sein: Gruppen, die Ziele im
Land angriffen, würden zwar bekämpft. Aber militante Organisationen, die von Pakistan aus in
Die Zahl der Toten wird noch steigen: Helfer tragen den Sarg mit der Leiche eines Schülers aus dem Krankenhaus in Peshawar.
Afghanistan oder Indien operierten, würden aus strategischen
Gründen geschont.
Der Militärgeheimdienst ISI hat
nach Einschätzung vieler Experten
den Taliban in Afghanistan sogar
Sie haben überlebt: Die verängstigten Kinder der Armeeschule in
Peshawar werden nach Hause zu ihren Eltern gebracht.
gesprengt, so dass die Schüler oft
einst zur Macht verholfen. In den
länger unter freiem Himmel untervergangenen Monaten haben die
richtet werden müssen. Die wieTaliban verstärkt Schulen mit
derkehrenden Attacken sind ein
Bomben und Terrorkommandos
Grund dafür, dass nicht einmal die
angegriffen. Sie gelten als »weiHälfte der Kinder im Alter zwiche«, leicht zu attackierende Ziele,
schen fünf und 16 Jahren in
weil sie zumeist gar nicht oder nur
Pakistan zur Schule geht.
spärlich gesichert sind.
Besonders die Eltern in Dörfern,
Besonders gefährdet sind reine
wo die Taliban stark
Mädchenschulen, die
vertreten sind, haben
den strenggläubigen
»Die Herzen der
einfach zu viel Angst.
Dschihadisten
ein
Welt gehören
Nach Angaben der loDorn im Auge sind.
kalen
MenschenGenerell sind den Taden Eltern und
rechtskommission ist
liban staatliche und
Familien
Pakistan der Staat
private Schulen verder Opfer.«
mit dem geringsten
hasst, weil sie aus
Anteil von Kindern,
ihrer Sicht »westliBan Ki M o o n ,
cher Dekadenz« VorUN-Generalsekretär die eine Schule besuchen – nach Nigeria,
schub leisten und unwo die islamistische
islamische
Lehren
Terrorgruppe Boko Haram ebenverbreiten.
falls mit Tod und Gewalt gegen
Im Norden und Nordosten des
westliche Bildung wütet.
Landes wurden nach offizieller
Auch UN-Generalsekretär Ban
Zählung seit 2009 mehr als 1000
Ki Moon hat den Terroranschlag
Schulen von Extremisten angegrifscharf verurteilt. Die Attacke sei
fen. In vielen Fällen werden die
»furchterregend« und »abscheuGebäude nachts einfach in die Luft
lich«, sagte Ban gestern bei einer
Sitzung des UN-Sicherheitsrats in
New York. »Die Herzen der Welt
gehören den Eltern und Familien
der Opfer.«
Kein Anlass könne so einen
Fotos: imago, dpa
Anschlag rechtfertigen, sagte Ban
weiter. »Schulen müssen sichere
Orte zum Lernen sein. In die
Schule zu gehen, darf niemals eine
Entscheidung sein, die von Mut
abhängt.«
Soldaten der pakistanischen Armee haben sich in Position gebracht, um
die Schule zu stürmen. Dabei haben sie sechs Taliban erschossen.
Malala trauert um Kinder
»Anschlag gegen Militär«
Friedensnobelpreis-Trägerin nennt Attentat »grauenhaft und feige«
Pakistan-Experte der Uni Bielefeld sieht Taliban unter Druck
schichte war 2012 selbst Opfer der
London (dpa). Die pakistanische
Taliban geworden, die ihr bei
Friedensnobelpreis-Trägerin und
einem Terroranschlag ins Gesicht
Kämpferin für Kinderrechte, Malgeschossen hatten. Sie setzt sich
ala Yousafzai, hat das Massaker
für Kinderrechte und vor allem für
der Taliban an pakistanischen
bessere Bildungschancen für MädSchülern als »grauenhaft und feichen ein und lebt heute in Großge« verurteilt. »Dieser sinnlose
britannien.
und kaltblütige Terrorakt in PeshaBundespräsident
Joachim
war, der sich vor unseren Augen
Gauck hat das Taliban-Attentat als
abspielt, bricht mir das Herz«,
»feigen Akt des Tererklärte die 17-Jährirorismus« verurteilt.
ge gestern in London.
In einem BeileidsteleDie Reaktion von Regramm an den pakisgierung und Armee
tanischen Präsidenin Pakistan seien bisten Mamnoon Huslang
vorbildlich,
sain schrieb Gauck
schrieb Malala weigestern: »Mit großer
ter. »Ich trauere mit
Bestürzung habe ich
Millionen
anderen
von dem unfassbar
überall auf der Welt
grausamen Anschlag
um diese Kinder,
auf die Schule in Pemeine Brüder und
shawar
erfahren,
Schwestern – aber
dem so viele Menwir werden niemals
schen, vor allem Kinbesiegt werden.«
Die jüngste Nobel- Kinderrechte-Aktivistin der, zum Opfer gefallen sind.« Die Staapreisträgerin der GeMalala Yousafzai
tengemeinschaft müsse in ihren
Bemühungen gegen den internationalen Terrorismus weiterhin zusammenstehen.
Bundesaußenminister
FrankWalter Steinmeier (SPD) hat den
Terroranschlag als »verbrecherischen Angriff« verurteilt. »Die
Geiselnahme und Ermordung von
Kindern übertrifft in ihrer grausamen Feigheit alles, was das seit
Jahren von Terror und Gewalt
heimgesuchte Pakistan bisher
kannte«, sagte Steinmeier gestern
nach Angaben des Auswärtigen
Amtes. »Wir trauern mit dem
pakistanischen Volk um die Opfer
dieses blutigen Terroranschlags.«
Der US-Botschafter in Pakistan,
Richard Olson, bezeichnete die Tat
als »sinnlose und menschenunwürdige Attacke« auf unschuldige
Schüler und Lehrer. Es sei deshalb
entscheidend, dass die USA in
Sicherheitsfragen weiter mit dem
südasiatischen Land zusammenarbeiteten.
Von Andreas S c h n a d w i n k e l
Bielefeld (WB). Boris Wilke, Pakistan-Experte an der Universität
Bielefeld, hält den Anschlag in
Peshawar für eine Vergeltungsaktion der Taliban. »Das Attentat
richtet sich gegen das Militär, weil
die Armee die Schule betreibt«,
sagt Wilke, der am Institut für
interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) tätig ist.
»Die Taliban stehen seit Monaten unter starkem Druck von
Militär und Regierung. In dieser
Situation versuchen viele einzelne
militante Gruppen, durch spektakuläre Anschläge Führungsansprüche geltend zu machen«, sagt
Boris Wilke.
Vier Frauen und Männer forschen in Pakistan für das Bielefelder IKG. Die Hochschule arbeitet
seit mehr als zwei Jahren mit der
Punjab-Universität im pakistanischen Lahore zusammen. Die einheimischen Wissenschaftler analy-
sieren lokale Konflikte und arbeials würden Militär, Politik und
ten in Karachi, Lahore, Gilgit und
Zivilgesellschaft mit einer Stimme
im Swat-Tal. Für das Projekt hat
sprechen. Die Armee ist das
das Bundesministerium für wirtstärkste Machtzentrum im Land,
schaftliche Zusammenarbeit und
aber auch die Regierung ist durch
Entwicklung (BMZ) 1,5 Millionen
die Wahlen stabil legitimiert«,
Euro zur Verfügung gestellt. Die
schätzt der Forscher die aktuelle
Forschungsergebnisse werden im
Situation ein.
Frühjahr vorgestellt.
Unter den terroristischen Ge»Zu beobachten ist eine bessere
walttätern gebe es KonkurrenzAbstimmung von midenken. Dieser Wettlitärischer und ziviler
streit sei in erster
Führung im Kampf
Linie lokal und nicht
gegen die Taliban.
global. Dass die TerDie Reaktionen auf
rormiliz »Islamischer
das Attentat sind anStaat« (IS) Taliban für
ders als früher. Heute
den Kampf in Syrien
begeben sich Armeeund Irak anzuwerben
chef und Premiermiversucht, sei ein spenister an den Tatort«,
zielles Phänomen.
sagt Wilke. Früher
»Ich beharre dahabe in Pakistan
rauf, dass die südasinach solch schweren
atische islamistische
Anschlägen eine geSzene von der im
spenstische Ruhe geNahen Osten getrennt
herrscht. »Im Mo- Boris Wilke, Pakistan-Ex- betrachtet
werden
ment sieht es so aus, perte der Uni Bielefeld muss«, betont Wilke.