Ach, wäre vögeln doch endlich schön Die Autorin Ulrike Heider erklärt, warum die Befreiung der Lust 1968 scheiterte. Und sich heute der sexuelle Neokonservatismus wieder ausbreitet Gespräch SEITE 24, 25 AUSGABE BERLIN | NR. 10595 | 51. WOCHE | 36. JAHRGANG | € 3,50 AUSLAND | € 3,20 DEUTSCHLAND | SONNABEND/SONNTAG, 20./21. DEZEMBER 2014 Der stärkste Satz „Ich hab viel Golf gespielt und Kreuzworträtsel gelöst. Irgendwann wurde es mir langweilig“ Oh Amazon Giorgio Moroder, der große alte Mann des Disco, auf die Frage, was er die letzten 20 Jahre gemacht hat SEITE 12 MONOPOL Vier junge Schriftsteller Nicht doch Foto: reuters über den Onlinehändler, der mit seinen Paketen gerade im Begriff ist, den Weihnachtsmann zu ersetzen Gesellschaft SEITE 17–20 Die Zigarre, Kubas wichtigster Exportartikel, ist am Ende. Nicht einmal Raúl Castro steckt sich noch eine in den Mund. Und auch Barack Obama wollte die Havanna nicht anzünden, die ihm überreicht wurde, kurz nachdem er das Ende der Eiszeit zwischen der Karibikinsel und den USA verkündet hatte. Aficionados, bekanntermaßen breit in der politischen Klasse vertreten, greifen heute lieber zu dominikanischer Ware. Die Qualität der dicken Kolben, die am besten dann sein soll, wenn sie auf Frauenschenkeln gerollt wurden, stimmt nicht mehr. Ob die Amerikaner helfen wollen, den ramponierten Ruf zu retten? Wir achten auf das Angebot für ein Freihandelsabkommen. b taz.berlin Asyl Bei der Unter- bringung der Flüchtlinge regiert das Chaos. Wer profitiert davon? SEITE 41, 44, 45 ANZEIGE So klappt’s mit dem X-Virus Saucool. Cool ey! Statt Professor oder Professorin plötzlich Professx? Da hilft nur noch: anstecken lassen. Verschenkt ein Missy-Abo! www.missy-magazine.de/abo Fotos: malerapaso, desifoto/Getty [Montage]; Lia Darjes (oben) 60651 4 190254 803208 TAZ MUSS SEIN Die tageszeitung wird ermöglicht durch 14.461 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 tazShop: 030 | 25 90 21 38 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Redaktion: 030 | 259 02-0 | [email protected] | [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin fax 030 | 251 06 94, [email protected] taz im Internet: www.taz.de | twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 02 Kompass SONNABEND/SONNTAG, 20./21. DEZEMBER 2014 TAZ.AM WOCHENENDE Aus dem Inhalt ...................................................................... Politik Urteil BGH stärkt Rechte schwuler Paare Seite 4 Wissenschaft Was das Ende des Kooperationsverbots bedeutet Seite 5 Russland Das Leben in Zeiten des abstürzenden Rubels Seite 6 Reportage Wiedergeburt Zehn Jahre nach dem Tsunami: Wie die zerstörte indonesische Provinz Aceh zurück ins Leben fand Seite 8, 9 Argumente Amerikas Welche Folgen hat die historische Annäherung zwischen den USA und Kuba? Seite 10 Kultur Sachbuch Was ein USPsychiater über Hermann Göring herausfand Seite 15 Blumen am Martin Place Gesellschaft LEKTIONEN Titel Weihnachten ist Amazon-Zeit. Wie stehen angehende Schriftsteller zum Mega-Buchhändler? Seite 17–20 5 Dinge, die wir diese Woche gelernt haben Sexualität „Vögeln ist schön“ heißt das Buch von Ulrike Heider. Ein Gespräch über die sexuelle Revolution und die Pornografisierung der Gesellschaft Seite 22, 23 Lebenshilfe Was schenken wir Vati? Vier Antworten auf die schwierigste Frage zum Fest Seite 24 Spießer Punks vs. Kleingärtner. Ein Frontbericht Seite 25 1. Beim Erben ist die Zweiklassengesellschaft in Ordnung Wer Bargeld oder Immobilien erbt, muss einen Teil an den Staat abgeben. Die Erben eines Unternehmens hingegen sind unter Umständen von der Erbschaftssteuer befreit. Dann nämlich, wenn die Firma sieben Jahre nicht verkauft wird und keine Arbeitsplätze verloren gehen. Dabei kann es grundsätzlich bleiben, hat am Mittwoch das Bundesverfassungsgericht geurteilt. Gleichwohl mahnte es Änderungsbedarf an. So sei etwa stär- ker darauf zu achten, dass nur „produktives Vermögen“ geschützt werde, also etwa eine Fabrik und nicht die Wertpapiere im Firmensafe. Es geht ja schließlich um Arbeitsplätze. 2. Kinos haben Angst vor Nordkorea Der US-Film „The Interview“ handelt von zwei TV-Journalisten, die von der CIA den Auftrag erhalten, den nordkoreanischen Machthaber Kim Jong Un zu töten. Der fiktive Plot hat nun ganz reale Folgen: Die Produktionsfirma Sony Pictures wurde gehackt, Gigabytes an Daten wurden kopiert und online veröffentlicht: interne E-Mails, Drehbücher, ungezeigte Filme. US-Ermittler halten das Regime in Pjöngjang für den Drahtzieher des Cyberangriffs. Weil die Hacker auch mit Terroranschlägen drohten, weigerten sich Kinos in den USA, die Nach dem Ende der Geiselnahme wird der Tatort am Mittwoch zur Gedenkstätte. 17 Menschen hatte der gebürtige Iraner Man Haron Monis in seine Gewalt gebracht, bei der Befreiung starben er, eine Anwältin und der Manager des besetzten Cafés. Tausende bringen Blumen, um ihre Anteilnahme zu zeigen. Australien ist tief verunsichert. Unter dem Hashtag #illridewithyou bieten die Einwohner von Sydney Muslimen an, sie in öffentlichen Verkehrsmitteln zu begleiten und zu beschützen. Foto: Nikki Short/dpa Slapstick-Komödie auf die Leinwand zu bringen. Deshalb hat Sony den Film nun ganz zurückgezogen. Nicht mal auf DVD soll er herauskommen. 3. Auch Norweger sind interessant Wer im Osloer Regierungsviertel mit dem Handy telefoniert, wird bespitzelt. Mit Hilfe einer deutschen Firma haben Reporter der Zeitung Aftenposten in der norwegischen Hauptstadt so genannte Imsi-Catcher aufgespürt, mit denen mobile Telefonate aufgezeichnet werden. Die Chefin des Inlandsgeheimdienstes vermutet „ausländische Mächte“ hinter der Überwachung. 4. Die Niederlande verbannen den Löwen Der Löwe ist das Wappentier der Niederlande. Um ein lebendiges Exemplar zu sehen, bleibt den Niederländern bald ein Ort verwehrt: der Zirkus. Dort tritt ab kommendem Herbst ein Wildtierverbot in Kraft, wie jetzt beschlossen wurde. Deutsche Tierschützer bekräftigten ihre Forderung nach einem Auftrittsverbot für Löwe, Tiger und Elefant. Nicht ohne Gegenlobby: „Tiere gehören zum Circus“ nennt sich ein Bündnis. Zirkus mit C, weil man den immer schon so schrieb. So wie dort immer schon der Bär gesteppt hat. 5. Wer viel verdient, kann viel bezahlen Jahrelang fuhr BVB-Fußballer und Autowerbefigur Marco Reus ohne gültigen Führerschein. Weil das jetzt aufgeflogen ist, muss er 540.000 Euro Strafe zahlen. Die ist so saftig, weil sie 90 Tagessätzen entspricht. Und Reus verdient gut: 180.000 Euro netto im Monat. SEBASTIAN ERB Das Zitat „Die Gülen-Bewegung teilte bis vor einigen Jahre faschistisch aus. Was jetzt passiert, ist auch faschistisch“ Der türkische Investigativjournalist AHMET SIK nach den Razzien in der Türkei Foto: Archiv Interview Giorgio Moroder ist der Vater der SynthesizerDisco-Musik. Jetzt meldet er sich mit einem Solo-Album zurück Seite 12 Sachkunde Gesundheit Kann uns Dr. Google helfen? Wie immer mehr Menschen sich selbst therapieren Seite 29–31 Medien Kirchen Verkündigung per YouTube Seite 35 Reise Südsee Mit dem Frachtschiff durch FranzösischPolynesien Seite 36, 37 Leibesübungen Triathlon Der IronmanHawaii-Gewinner über Sinn und Erfolg Seite 39 AUS DER TAZ SEITE 27 LESERBRIEFE SEITE 28 TV-PROGRAMM SEITE 34 DIE WAHRHEIT SEITE 40 enn ein Mann zu seiner Frau sagt, die Wohnung sei völlig verdreckt, dann kann das die nüchterne Feststellung einer Tatsache sein. Aber in neun von zehn Fällen ist gemeint: „Fang endlich an zu putzen!“ Und der Subtext wird auch verstanden, weshalb sich solche Sätze wunderbar für einen Ehekrach eignen. Das Doppelbödige und Unausgesprochene ist oft das eigentlich Interessante an zwischenmenschlicher Kommunikation. Alle können derartige Signale lesen: Erwachsene Kinder und ihre Eltern, Berufstätige und deren Vorgesetzte, Politiker und deren Anhänger. Die Einzigen, die davon offenbar noch nie gehört haben, sind die Leute, die nicht verstehen, was an Pegida eigentlich schlimm sein soll. „Pegida hetzt doch gar nicht gegen Muslime!“, schreibt mir ein Leser. Parolen, die sich gegen religiösen Fanatismus, gegen Islamismus oder gegen Religionskriege auf deutschem Boden richteten, könne er alle unter- W .................................................................................................................. MACHT Das, was sie wirklich meinen MANCHE WOLLEN NICHT VERSTEHEN, WAS AN PEGIDA WIRKLICH SCHLIMM IST. DABEI IST ES GANZ EINFACH: PEGIDA IST AUSLÄNDERFEINDLICH UND RASSISTISCH schreiben. Ja, das kann ich auch. Mühelos. Wer nicht? Jede Forderung braucht einen Adressaten, der die Forderung bisher ignoriert hat, sonst ist es keine. Wer gegen eine Invasion von Marsmenschen demonstriert, dürfte ziemlich allein auf der Straße stehen. Es muss also jemanden geben, dem die Anhänger von Pegida unterstellen, Islamismus und relgiösen Fanatismus ganz prima zu finden – oder zumindest nicht entschlossen genug dagegen zu kämpfen. Wer soll das sein? Regierung, Medien, Parlament? Man weiß es nicht. Denn die Teilnehmer der Demonstrationen haben ja offenbar kein Bedürfnis, ihre Position zu erläutern, sondern verweigern das Gespräch. Sie erklären Schweigen zum Konzept. ....................................................... BETTINA GAUS IST POLITISCHE KORRESPONDENTIN DER TAZ ....................................................... „Wenn Sie als Presse nicht immer nur mit Totschlagworten auf die Menschen, die es satthaben, einschlagen würden, dann würden Sie auch wissen, was die Haltung Ihrer Leser ist“, teilt mir eine Leserin mit. Das Totschlag- wort, das sie meint, ist vermutlich Rassismus. Aber wie soll man die Pegida denn sonst nennen? Der Name der Bewegung bedeutet: „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Wenn das sinnvoller sein soll als ein nimmermüder Kampf gegen die Invasion von Marsmenschen, dann muss diese Islamisierung drohen. Irgendwo im Abendland. Was habe ich verpasst? Soll in Deutschland jetzt die Scharia eingeführt werden? Kommt in Dresden demnächst der Burkazwang? Wird in München das Bier verboten? Nein, das glaubt niemand. Auch nicht die Organisatoren der Pegida und ihre Verbündeten von der AfD. Sie verlassen sich ganz einfach darauf, dass der Subtext dessen, was sie sagen – also das, was sie wirklich meinen –, schon verstanden werden wird. Und damit haben sie recht. Es ist eindeutig. Und deshalb nenne ich die Pegida ausländerfeindlich und rassistisch. Politiker und Journalisten müssen die Doppelbödigkeit von Texten eigentlich besonders gut erkennen und analysieren können, das gehört zu ihrem Beruf. Wenn Führungskräfte der Unionsparteien jetzt immer häufiger Verständnis für die Pegida-Demonstranten zeigen und Innenminister Thomas de Maizière behauptet, viele Teilnehmer brächten einfach „ihre Sorgen zum Ausdruck vor den Herausforderungen unserer Zeit“, dann ist das vermutlich verlogen und populistisch. Schlimmer wäre nur, wenn auch de Maizière glaubte, die drohende Islamisierung des Abendlandes sei eine Herausforderung unserer Zeit. Einen solchen Realitätsverlust möchte man beim Bundesinnenminister nicht befürchten müssen. Die Drei SONNABEND/SONNTAG, 20./21. DEZEMBER 2014 TAZ.AM WOCHENENDE 03 AFFÄRE Der Fall Edathy ist für die SPD zu einem Riesenproblem geworden. Denn ausgerechnet Michael Hartmann, der die Parteispitze reinwaschen soll, gibt ein miserables Bild ab. Hat er Edathy vor Ermittlungen gewarnt? Einer geht noch AUS BERLIN TOBIAS SCHULZE UND STEFAN REINECKE enn eines feststeht am Ende dieser Woche, nach Vorwürfen und Widersprüchen, nach einer 13-Stunden-Sitzung des Untersuchungsausschusses, dann das: Sebastian Edathy hat im Herbst 2013 gesoffen wie ein Loch. Sigmar Gabriels Rede auf dem Leipziger SPD-Parteitag verpasste er, weil er vor der Halle seinen Kater auslüftete. Die Wiederwahl von Angela Merkel im Bundestag hätte er beinahe verpennt. Edathy hatte ein Alkoholproblem, zumindest darauf können sich alle Beteiligten einigen. Nun ist es eigentlich uninteressant, wie sich der damalige Bundestagsabgeordnete davon ablenkte, dass ein Verfahren wegen Kinderpornografie auf ihn zurollte. Aber wenn Aussage gegen Aussage steht, entscheiden die Details, und so ist Edathys Alkoholkonsum plötzlich keine Privatsache mehr. Es geht um viel inzwischen. Der Fall Edathy, der mit Ermittlungen wegen Kinderpornografie begann und der die Karriere eines einst geschätzten Parlamentariers abrupt beendete – er ist zu einem Riesenproblem für die SPD geworden. Seine Rückkehr nach Berlin hatte Edathy perfekt inszeniert. Für Donnerstagnachmittag war er als Zeuge in den Untersuchungsausschuss geladen. Unmittelbar davor gab er im Regierungsviertel eine Pressekonferenz. Der Andrang war größer als bei Terminen mit Angela Merkel. Schon einige Tage zuvor hatte Edathy über den Stern seine neue Version der Ereignisse präsentiert, untermauert mit vielen SMS: Der SPD-Fraktionskollege Michael Hartmann habe ihn über drohende Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten. Dessen angeblicher Informant: Jörg Ziercke, damaliger Präsident des Bundeskriminalamts (BKA). W sode ist schließlich nicht alles: Sein abhörsicheres Handy, über das er die SMS geschrieben haben soll, hat Hartmann angeblich verloren; zwischen zwei Terminen in seinem Wahlkreis müsse es ihm Ende März aus der Tasche gefallen sein. Kurznachrichten auf seinem zweiten Handy habe er längst gelöscht, er leere regelmäßig seinen Speicher. Und einen Satz verwendet Hartmann an diesem Abend immer wieder, als Universalantwort: „Das ist mir nicht erinnerlich.“ Und dann auch noch die Sache mit dem Innenausschuss: Vier Mal hatte das Bundestagsgremium im Frühjahr über die Causa Edathy beraten, schon damals stand der Verdacht im Raum, dass es eine Vorwarnung gab. Hartmann war damals Mitglied des Ausschusses. Dass er mit seinem Kollegen über die Angelegenheit gesprochen hatte, angeblich ohne ihn zu warnen, er- wähnte er aber nicht. „Wieso nicht?“, fragt Armin Schuster (CDU). Hartmann antwortet erstaunt: Ihn habe ja keiner gefragt. Natürlich könnte Hartmann die Wahrheit sagen. Er wäre nicht der Erste, der auf dem Zeugenstuhl nervös wird. Nach Mitternacht lässt die Konzentration nach. Und Details zu Gesprächen, die zwölf Monate zurückliegen, können im Gedächtnis schon mal verblassen. Natürlich könnte auch Edathy lügen. Vor einem halben Jahr klang seine Version der Geschehnisse noch ganz anders. Im nordafrikanischen Exil hätte er genug Zeit gehabt, sich eine Räuberpistole auszudenken. Und seine Auftritte in Berlin, ohne echte Reue, machen ihn zumindest nicht zu einem liebenswerten Zeugen. Trotzdem: Seine Erinnerungslücken sind sehr viel kleiner als die von Hartmann. „Warum heizen Sie bitte einen Trinkabend an, wenn Sie sich angeblich um Edathys Alkoholproblem sorgen?“ FRANK TEMPEL, LINKSPARTEI Zeuge ohne Handy Nicht sein Therapeut Donnerstag, später Abend, Auftritt Hartmann vor dem Untersuchungsausschuss. Der SPD-Innenpolitiker steht unter Druck und dementiert Edathys Behauptung. „Der Vorwurf der Strafvereitelung ist gänzlich unbegründet“, liest er vor. Edathy gewarnt? Unsinn. Er habe seinem Kollegen nur beigestanden. Der habe aufgrund von Medienberichten Ermittlungen befürchtet und war völlig am Ende, selbstmordgefährdet und häufig betrunken. „Ach ja?“, fragt Frank Tempel, ehemals Kriminalbeamter und jetzt für die Linkspartei im Ausschuss. Dann hält er dem Zeugen einen SMS-Dialog vor. Ob Edathy „was vernünftiges zu trinken“ im Haus habe, fragte Hartmann demnach vor einem Treffen im Januar. „Wein?“, antwortete Edathy. „Was immer du hast.“ „Warum heizen Sie bitte einen Trinkabend an, wenn Sie sich angeblich um Edathys Alkoholproblem sorgen?“, hakt Tempel nach. Hartmann schweigt. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. Dann: „Weil ich nicht sein Therapeut bin.“ Plausibel geht anders, abgesehen von den SPD-Leuten sind sich darüber alle im Saal einig, als die Sitzung frühmorgens um 1.41 Uhr endet. Die Alkohol-Epi- Und so könnte eine unglaubliche Geschichte über den Rechtsstaat ein weiteres, noch viel unglaublicheres Kapitel erhalten. Schon was vor dieser Woche bekannt war, ist schließlich nicht ohne. Da taucht ein halbwegs prominenter Sozialdemokrat auf einer Liste möglicher Kinderporno-Konsumenten auf. Jörg Ziercke, bis November 2014 BKA-Chef und zudem SPD-Mitglied, informiert einen Staatssekretär im Innenministerium darüber, der wiederum Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und dieser die SPD-Spitze. Es ist die Zeit der Regierungsbildung und Friedrich meint es gut mit den Sozialdemokraten: Er will verhindern, dass Edathy ein Amt in der Regierung erhält – und dann auffliegt. Gut gemeint und trotzdem verboten, juristisch heißt das Geheimnisverrat. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen den Exminister, stellte das Verfahren aber wegen geringer Schuld ein. Erst Nebenfigur der Affäre, dann im Zentrum: der SPD-Abgeordnete Michael Hartmann vor dem Untersuchungsausschuss Foto: Hans-Christian Plambeck/laif Nun also das nächste Kapitel, mit einem neuen Akteur: Michael Hartmann, der Zeuge ohne Erinnerung und ohne Handy, der selbst erst im Sommer wegen Drogenmissbrauchs gestrauchelt war. Bis vor ein paar Tagen war er nur eine Nebenfigur der Affäre, jetzt steht er im Zentrum. Wenn Edathys Version stimmt, hat er diesen in Zierckes Auftrag über das BKA-Material informiert. Die beiden wollten demnach einen zweiten Fall wie den von Jörg Tauss vermeiden, ebenfalls ein ehemaliger SPD-Abgeordneter, 2009 wegen Kinderpornografie vor Gericht. Stimmt diese Version, hätten sie Edathy möglicherweise geholfen, Beweismaterial beiseitezuschaffen. Nicht nur Hartmann, sondern auch Ziercke bestreitet das. Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden prüft Ermittlungen wegen Strafvereitelung. Hier läge dann der neue Kern der Causa Edathy: Ein mutmaßlicher Konsument von Kinderpornografie wäre beinahe davongekommen, weil er im Bundestag sitzt und das gleiche Parteibuch besitzt wie Deutschlands oberster Polizist. Der Ärger in der SPD wirkt dagegen nur noch wie ein Nebengeräusch. Die letzte Bundestagswoche des Jahres hatten sich die Sozialdemokraten anders vorgestellt: noch ein paar Abstimmungen, dann ab in den Weihnachtsurlaub. Aus dem ruhigen Jahreswechsel ist nichts geworden. Vor allem für Thomas Oppermann ist die Sache lästig. Der Fraktionschef kam bisher ungeschoren durch die Affäre, obwohl er seine erste öffentliche Erklärung zu dem Fall korrigieren musste. Er hatte behauptet, dass ihm BKA-Chef Ziercke den Verdacht gegen Edathy bestätigt habe, und musste das nach Zierckes Widerspruch revidieren. Für Oppermann ist die Affäre nicht ausgestanden. Vermutlich schon im Januar muss er vor dem Ausschuss aussagen – kurz nach einem Parteifreund: Auch Jörg Ziercke wollen die Abgeordneten befragen, so schnell wie möglich, in der ersten Sitzungswoche des neuen Jahres. Im Februar muss dann Sebastian Edathy vor Gericht. Wenn sein Verfahren nicht gegen eine Geldbuße eingestellt wird.
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