M3 - Barbara Fenner

„Debbie,
heute habe ich die ganze, umfassende Bestialität dessen gesehen, was eines der schrecklichen
Konzentrationslager der Nazis war. Ich habe den grässlichen Anblick selbst gesehen, mit eigenen
Augen. Debbie, ich hoffe, dass du niemals siehst, was ich bis ans Ende meiner Tage vor mir sehen
werde.[...]
Aber wie soll ich den tatsächlichen, unglaublichen Anblick beschreiben? Ich sah tote Menschen im
Innern dieser Baracke liegen. Ich sah sie auf den Feldern und am Erdboden liegen. Sie waren nackt.
Wie waren sie gestorben? Sie waren verhungert und zu Tode gequält worden. Es waren Skelette mit
Haut. Diese hässlichen Gesichter waren entsetzlich, aber ich bin umhergegangen und habe mich
beinahe geweigert zu glauben, dass ich nicht träumte.[ ...]
Wohl 50 oder 60 dieser Kreaturen, die einmal menschliche Wesen gewesen waren, habe ich persönlich
gesehen. Die Nazis hatten einige der Baracken in Brand gesteckt, und ich habe die verkohlten Leichen
gesehen.
Als ich alles gesehen hatte, was mein Geist, Magen und Herz ertragen konnten, bin ich weggegangen.
Andere Angehörige unserer Einheit, die das Gelände erkundeten, fanden lange Gräben als Gräber vor,
die mit Leichen gefüllt waren, die man nicht einmal mit Staub bedeckt hatte.[ ...]
Diese Menschen waren mit den Nazis nicht einverstanden gewesen. Es waren lauter politischen
Gefangenen - Juden, Kommunisten, Liberale, praktizierende Katholiken - alle, die von der politischen
Philosophie der Nazis irgendwie abwichen.
Ich habe gesehen, wie diese ausgemergelten, entstellten verhungerten Leichen von deutschen Zivilisten
vor den Gewehrmündungen unserer Soldaten fortgetragen wurden, damit sie begraben werden konnten.
Diese deutschen Schweinehunde sahen aus wie der Inhaber des Feinkostladens an der Ecke. Aber in
ihrem Innern sind sie zutiefst bösartig, und ihre Hände sind blutig von den Eingeweiden der
Menschheit.
Lass dir von keinem dieser Scheißkerle je einreden, dass die Erschießungen von Lidice, dass die
Ermordung von 2.000.000 Juden in Polen, dass die Menschenöfen, dass die Konzentrationslager, von
denen du liest, Lügen seien. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich habe das Unglaubliche
gesehen. Ich habe gesehen, bis zu welchen Abgründen von Schlechtigkeit sogenannte menschliche
Wesen - die Nazis - sinken können. Debbie, es ist unglaublich. Aber glaube mir. Ich habe es gesehen.
[...]
Das Herz ist mir schwer, und ich bin traurig. Bis an mein Lebensende wird die Möglichkeit eines neuen
Hitler und seiner Bande von Unmenschen mir als Schreckensbild vor Augen stehen. Es darf ihnen
keinesfalls gestattet werden, je wieder hoch zu kommen. Auch müssen wir die Möglichkeit erkennen,
dass solche Individuen die Kontrolle über unser eigenes Land gewinnen. Die Faschisten unserer
Nation“ ... „sind der selben Unmenschlichkeit fähig. Die Nazis sind nicht die einzigen, deren
Bewusstsein deformiert ist. Niemals werde ich Antisemiten und Faschisten tolerieren. Sie sind
gefährlich und potentielle Folterer.
Der Krieg hat für mich einen neuen -Sinn bekommen - die Ausrottung des Nazismus muss erreicht und
die Wiederkehr eines solchen Regimes verhindert werden.[...]
Bald wird ganz Deutschland besetzt, das Nazi-Regime besiegt sein. Es ist aber der anschließende
Frieden, der gewonnen werden muss. Ein weiteres Nazi-Regime oder ein Pendant muss verhindert
werden. Und darüber werde ich sehr ernsthaft nachdenken - ich muss die Lösung finden. Und wenn ich
es schaffe, will ich mein Möglichstes tun, damit es gelingt. Und du musst mir helfen, nachzudenken
und zu handeln.
Gute Nacht Debbie. Das Herz ist mir schwer. Aber das Wissen, dass wir im Begriff sind, diese Schande
von der Erde zu tilgen - und zwar schnell - , erfüllt mich mit Freude. Auf den Straßen dieser Stadt sehe
ich freie Polen, Russen, Juden Katholiken, Mongolen, Schwarze, Franzosen und andere. Ich bin stolz
darauf, bei ihrer Befreiung mitgewirkt zu haben.
Mach dir keine Sorgen um meine Haltung oder meine Gefühle. Bei all dem Schrecklichen, das ich
gesehen habe, bin ich doch ‘froh’, es erlebt zu haben. Ich fürchte nicht länger, dass wir Deutschen ein
Unrecht antun könnten. Sie sind der Unmenschlichkeit und des Mordes schuldig [ ... .] Gute Nacht,
meine süße Debbie. Frau, du bist mein Schatz.
Dein zu dir gehörender Allie.“
Bitte schicke diesen Brief auch an Sandy. Ich könnte es einfach nicht ertragen, die selbe Beschreibung
noch einmal zu formulieren. Das verstehst du wohl. Du kannst diesen Brief gern auch meinen und
deinen Leuten vorlesen.
aus: Jörg Wollenberg (Hg.), „A Letter to Debbie“. Die Befreiung des Dachauer KZ-Außenlagers
Landsberg-Kaufering. Eine Ausstellung von Yardena Doning Youner/ Jörg