26.04.2016, Die Entdeckung des Thermofensters

Manuskript
Beitrag: Die Entdeckung des Thermofensters –
Motorschutz vor Verbraucherschutz
Sendung vom 26. April 2016
von Anke Becker-Wenzel, Michael Haselrieder und Michael Hölting
Anmoderation:
Grenzwerte schützen uns. Sie helfen, unsere Gesundheit zu
bewahren. Grenzwerte haben also durchaus einen Sinn.
Dieselautos halten die Grenzwerte für giftige Abgase meistens
aber nur da ein, wo es für uns sinnlos ist. Drinnen, im Labor.
Draußen auf der Straße und in den Städten, da wo es für uns
gefährlich wird, überschreiten sie die Grenzwerte gleich
mehrfach. Frontal 21 hat schon vor Monaten gezeigt, was jetzt
auch der Bundesverkehrsminister feststellte. Und trotzdem lässt
er die meisten Dreckschleudern einfach weiterfahren. Anke
Becker-Wenzel und Michael Haselrieder über die politische
Abschalteinrichtung bei Grenzwerten und gesundem
Menschenverstand.
Text:
O-Ton Alexander Dobrindt, CSU, Bundesverkehrsminister:
Audi, Mercedes, Opel, Porsche sowie Volkswagen. (…) Alfa
Romeo, es gibt Chevrolet, es gibt Dacia, es gibt Fiat, es gibt
Hyundai, Jaguar, Jeep, Land-Rover, Nissan, Suzuki.
Bundesverkehrsminister Dobrindt und die lange Liste der
Umweltsünder: Nicht nur VW - fast die gesamte Autobranche hat
bei den Dieselabgasen getrickst. Die Konsequenz: 630.000 Autos
allein der deutschen Hersteller müssen nachgerüstet werden.
Damit bestätigt die Bundesregierung Ergebnisse einer
Stichprobe, die Frontal 21 in Auftrag gegeben hatte. Schon im
vergangenen Herbst kam bei diesen Messungen heraus: Im
Labor waren die Autos sauber, draußen auf der Straße aber
überschritten sie den erlaubten Grenzwert um ein Vielfaches.
Obwohl auch die Dobrindt-Kommission deutlich erhöhte
Stickoxid-Werte bei fast allen Herstellern festgestellt hat, wiegelt
der oberste Auto-Lobbyist erst mal ab.
O-Ton Matthias Wissmann, Präsident Verband der
Automobilindustrie, am 22.04.2016:
Deswegen gibt es jetzt eine einvernehmliche Rückrufaktion
bei einer Reihe von Herstellern. Aber meine Bitte ist, machen
Sie daraus kein Pauschalurteil.
Die Autolobby kann beruhigt sein. Denn die Untersuchungskommission war ausgesprochen großzügig. Laut Bericht
beanstandeten die Prüfer selbst die Fahrzeuge nicht, die auf der
Straße das Drei- bis Vierfache des erlaubten StickoxidGrenzwertes erreichten. So dürfen Millionen Dreckschleudern
weiter fahren. Kritik von der Deutschen Umwelthilfe:
O-Ton Jürgen Resch, Deutsche Umwelthilfe:
Diese Prüfkriterien sind völlig willkürlich. Sie entsprechen
nicht den Kriterien, die die Zulassungsverordnung
vorschreibt. Die sagt einfach, dass dauerhafte
Abschalteinrichtungen verboten sind. Danach hätte sich
Minister Dobrindt orientieren müssen und danach wären
auch praktisch alle Fahrzeuge durchgefallen.
Die meisten Hersteller erklären die Abweichungen damit, dass
der Motor geschützt werden müsse. Denn in der entscheidenden
EU-Verordnung ist die Verwendung einer Abschalteinrichtung
unzulässig - außer:
„…um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu
schützen.“
Was als Ausnahme gedacht war, hat sich fast die gesamte
Branche zur Regel gemacht. Bei bestimmten Außentemperaturen
schaltet die Abgasreinigung ab, so wird die Umwelt belastet,
Gesundheit der Bürger gefährdet. Um das zu kaschieren,
verwenden Hersteller und Politik einen harmlos klingenden
Begriff.
O-Ton Alexander Dobrindt, CSU, Bundesverkehrsminister:
Thermofenster, Thermofenster, Thermofenster.
Dieses „Thermofenster“ legte jeder Autohersteller nach Belieben
selber fest. Mal wurde bei zehn Grad Außentemperatur
abgeschaltet, mal sogar bei 17 Grad. Und die Politik will die
Hersteller offenbar so weitermachen lassen. Nachfrage beim
zuständigen Ministerium:
O-Ton Frontal 21:
Ich hätte gerne mal eine genaue Definition des
Thermofensters? Wo beginnt das?
O-Ton Vera Moosmayer, Sprecherin
Bundesverkehrsministerium:
Es gibt für uns keine Definition, sondern es ist bei den
verschiedenen Fahrzeugen unterschiedlich gehandhabt. Das
ist einfach ein Sachstand, den wir nicht definieren, sondern
den die Unternehmen festlegen, ab wann solche
Reduktionsmaßnahmen eingesetzt werden.
Ein Freifahrtschein für Trickser – zumindest solange
Gesetzeslücken nicht geschlossen werden.
O-Ton Prof. Kai Borgeest, Zentrum für Kfz-Elektronik und
Verbrennungsmotoren, Hochschule Aschaffenburg:
Die derzeitige Erklärung des Thermofensters, dass der
Hersteller es nach Belieben festlegt, um die
Entwicklungsarbeit zu minimieren, ist nicht haltbar. Der
Gesetzgeber ist hier gefordert, einheitliche Bedingungen
über einen weiten Betriebsbereich des Fahrzeugs zu
definieren.
Der Bundesverkehrsminister und die Autoindustrie werden sich
rechtfertigen müssen - im Bundestag, vor einem geplanten
Untersuchungsausschuss zum Abgasskandal.
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