Diese Kopie wird nur zur rein persönlichen Information überlassen. Jede Form der Vervielfältigung oder Verwertung bedarf der ausdrücklichen vorherigen Genehmigung des Urhebers © by the author SÜDWESTRUNDFUNK FS-INLAND R E P O R T MAINZ S E N D U N G: 17.05.2016 http://www.reportmainz.de Fehlbescheid vom Jobcenter: Wie Andrea Nahles Arbeitslose um ihre Rechte bringen will Autorin: Claudia Butter Oliver Heinsch Kamera: Helmut Fischer Stefan Kruse Kolja Niber Marco Peschmann Schnitt: Frank Schumacher Moderation Fritz Frey: „Wir müssen unseren Anspruch erneuern, Schutzmacht der kleinen Leute zu sein“, so der wahrscheinlich doch einzige Kanzlerkandidat der SPD, Sigmar Gabriel. Und das hat er nicht erst gesagt, als er letzte Woche von der Putzfrau Susi Neumann auf einer SPD-Gerechtigkeitskonferenz eingedost wurde. Wie kommt es, dass die SPD nicht wirklich als Schutzmacht der kleinen Leute wahrgenommen wird? Woran mag das liegen? 2 Vielleicht an der ganz konkreten Politik, beispielsweise von Andrea Nahles, der Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Sie reformiert gerade Hartz IV. Welche Auswirkungen hat das auf die sogenannten kleinen Leute? Claudia Butter und Oliver Heinsch waren bei denen unterwegs, für die die SPD Schutzmacht sein will. Bericht: Großer Andrang bei der Erwerbslosenberatung Tacheles in Wuppertal. Zu groß, um allen helfen zu können. Wieder mal. O-Ton, Berater von Tacheles: »Wir können diese 28 Personen heute gar nicht alle beraten. Das heißt, ich muss jetzt, mit den letzten acht mache ich dann eine Art Notberatung, dass da nichts anbrennt, dass da keine Fristen ablaufen.« Auch heute geht es vor allem um Bescheide der Jobcenter. Kein Wunder, denn rund ein Drittel der Bescheide ist nach wie vor falsch, sagt die Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Auch der von Franziska Weiss. Die alleinerziehende Mutter hat viel zu wenig Geld bekommen. Monat für Monat bis zu 300 Euro zu wenig, sagt sie. Das Jobcenter hat alles Mögliche von ihrem Bedarf abgezogen. Hier sagt man ihr: zu Unrecht. O-Ton, Franziska Weiss: »Wo ich das erste Mal hier war, da bin ich fast aus allen Wolken gefallen, wusste ich überhaupt nicht, habe ich gar keine Ahnung von gehabt. Zumal auch den Bescheid selber zu verstehen, ist ja schon so eine Kunst für sich.« Für einen Widerspruch ist es jetzt zu spät. Aber Franziska Weiss kann noch einen sogenannten Überprüfungsantrag stellen: Dann muss das Jobcenter einen Bescheid noch mal prüfen und nachzahlen. Bei ihr wären das 1.500 Euro, die ihr schmerzlich fehlten. 3 O-Ton, Franziska Weiss: »Man muss sich das Geld leihen. Man muss sparen, an Lebensmitteln, an sich selber vor allem, damit die Kinder das halt nicht so merken und darunter leiden müssen. Ja, ist hart gewesen und immer noch, es ist ja immer noch nicht besser.« Der Überprüfungsantrag ist die letzte Chance für Franziska Weiss und ihren Sohn Phil, doch noch an das Geld zu kommen. Schulden abzuzahlen. Noch gibt es diese Möglichkeit. Doch Arbeitsministerin Andrea Nahles hat jetzt einen neuen Gesetzentwurf vorgelegt. Eine Hartz-IV-Reform unter dem Motto: Bürokratieabbau. O-Ton, Berater von Tacheles: »Und wir schaffen mehr Kapazitäten in der Arbeitsvermittlung durch Bürokratieabbau.« Klingt gut, aber was verbirgt sich dahinter? Der Gesetzestext ist kompliziert. Von Überprüfungsanträgen steht gar nichts drin. Nur von der „Rücknahme eines Verwaltungsaktes“, „ständiger Rechtsprechung“ und „Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts“. Wir fragen zwei erfahrene Anwälte für Sozialrecht, Till Koch aus Höxter und Dirk Feiertag aus Leipzig, was der Gesetzentwurf für die Überprüfungsanträge tatsächlich bedeutet. O-Ton, Dirk Feiertag, Rechtsanwalt: »Das Gesetz ist ein Skandal! Dieses wichtige Instrument der Überprüfungsanträge wird hier so stark beschnitten, dass wir es in vielen Bereichen gar nicht mehr anwenden können. Die Hilfeempfänger werden auf ihr Geld, was ihnen rechtmäßig zusteht, verzichten müssen.« O-Ton, Till Koch, Fachanwalt für Sozialrecht: »Der Gesetzentwurf bedeutet, dass die Möglichkeit, Überprüfungsanträge zu stellen effektiv in ganz vielen Fällen überhaupt nicht mehr besteht, das Recht wird ausgehöhlt, das wird den Leuten weggenommen und dann bleibt gar nichts mehr.« 4 Auch Henny Kellner hatte mit falschen Bescheiden des Jobcenters zu kämpfen. Das Jobcenter hatte ihr zu wenig Miete gezahlt. Mehr als 500 Euro fehlten insgesamt. Ihr Anwalt stellte einen Überprüfungsantrag. Mit Erfolg. O-Ton, Henny Kellner: »Das war, das war ganz wichtig. Als Herr Feiertag mich darauf aufmerksam machte, dass mir mehr zusteht, und zwar deutlich mehr zusteht, war das eine ganz große Erleichterung. Auch weil ich dadurch in der Lage war, kleinere Beträge, die ich mir halt borgen musste, dann wieder zurückzuzahlen. Also man kommt ein bisschen aus der Belastung raus.« Sie kann nicht fassen, dass zukünftig viele Hartz-IV-Empfänger rückwirkend kein Geld mehr bekommen sollen. Und das, obwohl der Bescheid sich als falsch herausgestellt hatte. O-Ton, Henny Kellner: »Das ist einfach vollkommen ungerecht und man fühlt sich da auch ohnmächtig und ausgegrenzt. Und das ist… kann so nicht sein.« Bürokratieabbau auf Kosten der Hartz-IV-Empfänger? Keine Überprüfungsanträge mehr, weil sie den Jobcentern zu viel Arbeit machen? Wir wollen von Arbeitsministerin Andrea Nahles wissen, ob diese Neuregelung nicht ungerecht ist. Schriftlich lässt sie mitteilen: Die bisherige Verwaltungspraxis sei komplex, eine „klarstellende Anpassung“ nötig. Eine weitere Verschärfung bzw. Einschränkung für die Leistungsberechtigten sei damit nicht verbunden. Der Arbeitsmarktexperte, Professor Stefan Sell, sieht das völlig anders: Im Windschatten des Bürokratieabbaus betreibe ausgerechnet eine sozialdemokratische Arbeitsministerin weiteren Sozialabbau. O-Ton, Prof. Stefan Sell, Hochschule Koblenz: »Eine ganz kompliziert daherkommende Regelung in dem Gesetzentwurf führt zu einer rechtstaatlich unglaublichen Schweinerei. Man nimmt den Hartz-IV-Empfängern durch eine 5 falsche Entscheidung etwas weg, was ihnen zusteht, wohlgemerkt, an Regelleistungen zur Abdeckung des Existenzminimums. Und dann, wenn es herauskommt, dass das eine falsche Entscheidung war, dann gibt man dieses geraubte Diebesgut nicht zurück.« Bitter für Betroffene wie Franziska Weiss. Statt endlich etwas gegen die vielen falschen Bescheide zu tun, werden Rechte der Hartz-IVEmpfänger weiter beschnitten. O-Ton, Prof. Stefan Sell, Hochschule Koblenz: »Wir haben Opfer, nämlich Hartz-IVEmpfänger, denen zu Unrecht Leistungen vorenthalten wurden, und dann geht man hin und sagt: ‚Sorry, wir müssen aber die Jobcenter entlasten.‘ Das ist ein skandalöser Zynismus hoch zwei.« Abmoderation Fritz Frey: Passiert auch eher selten, dass ein gestandener Professor einen Gesetzesentwurf als Schweinerei bezeichnet.
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