26.07.2016, Sensationslust am Unfallort - Gaffer behindern

Manuskript
Beitrag: Sensationslust am Unfallort –
Gaffer behindern Helfer
Sendung vom 26. Juli 2016
von Julian Prahl
Anmoderation:
Auch in München waren sie schnell da, die Gaffer. Sie
versammeln sich, wenn sie Blaulicht sehen. Sie zücken das
Smartphone, wenn es kracht. Sie halten voll drauf, wenn
Menschen in Gefahr sind. Sie verbreiten Bilder vom Tatort oder
von der Unfallstelle über Twitter, Facebook und Co. Und je
schrecklicher das Video, desto mehr wird es beachtet und
„geliked". Auch Medien greifen nach den Bildern. Julian Prahl
zeigt die Folgen des Gaffens und des Gierens - für die Retter am
Unfallort und für die Familien der Opfer.
Text:
Zwei Söhne verliert Bayram Dömnez in einer Nacht. Vor sechs
Monaten kommen Hakan und Nuri bei einem Autounfall nahe
Iserlohn ums Leben. Hier Nachrichtenbilder. Ein Gaffer schießt
direkt nach dem Unfall ein ganz anderes Foto - mitsamt
Nummernschild - und stellt es kurz online. Die Nachricht
verbreitet sich blitzschnell in der Unfallnacht und erreicht so auch
den Vater. Unter Schock fährt der sofort los.
O-Ton Bayram Dömnez, Vater:
Wo ich an der Unfallstelle war, da hab ich mein Auto
abgestellt und über die Planken rüber geflitzt und da hab ich
aber festgestellt, dass das Auto von meinem Sohn ist. Und
mein großer Sohn, der lag da am Boden und da war ich total
unter Schock. Polizei hat mich dann angehalten, aber ich hab
das trotzdem festgestellt, dass das mein Sohn war, dann
wollte ich ihn anpacken, aber der war schon kalt. Und dann
hat die Polizei mich auf die Seitenplanke geschoben und
sagte, bitte beruhigen Sie sich. Aber in meinem Hinterkopf
war mein kleiner Sohn, weil über Facebook habe ich
erfahren, dass da einer gestorben ist, dann war ich am
Suchen, wo der kleine, der Hakan ist und habe mitgekriegt,
dass der auch gestorben ist, dass die Feuerwehr ihn aus
dem Auto rausholen wollte.
Schockierte Unfallzeugen, traumatisierte Eltern - für Polizei und
Retter vor Ort der schlimmste anzunehmende Härtefall, den
unbedingt vermeiden wollen.
O-Ton Kim Ben Freigang, Pressesprecher Polizei Dortmund:
Man muss ja sagen, dass normalerweise das Prozedere ein
anderes ist. Wir versuchen die Identität des Opfers zu klären,
wenn wir sie dann haben, schicken wir ein Team los, wo ein
Kollege begleitet von Profis, das heißt Notfallseelsorgern
oder sogar Psychologen, einem Imam oder einem Pfarrer zu
dieser Familie hinfahren und denen dann quasi diese
Nachricht überbringen, sie dann aber auch auffangen
können.
Heute weiß Bayram Dömnez: Er hätte die Nachrichten am
liebsten nicht bekommen, wäre in der Unfallnacht besser zu
Hause geblieben. Die schlimmen Bilder von seinen Söhnen wird
er nicht mehr los.
O-Ton Bayram Dömnez, Vater:
Wenn in der Nacht, sage ich mal, diese Facebook-Geschichte
nicht gewesen wäre, dann wäre ich höchstwahrscheinlich da
nicht hingefahren. Dann hätte ich vielleicht das morgens
erfahren. Diese Nacht, das ist immer vor meinen Augen. Oder
wenn man abends irgendwo hinfährt auf der Autobahn sobald ich, sage ich mal, Blaulicht sehe, dann muss ich
rechts anhalten. Es geht mir so schlecht, bis zum
Gehtnichtmehr, weil ich erinnere mich dann direkt an die
Nacht.
Auch Dominik Steffens musste erfahren, was Unfallbilder
auslösen. Vor drei Jahren hatte er einen schweren Autounfall.
Nachts knallt er auf der Autobahn ungebremst in einen
unbeleuchteten Lkw, ein zweiter rast von hinten in seinen Wagen.
Er bricht sich alle sieben Halswirbel, zwei Hauptschlagadern
reißen an, der Lendenwirbel gebrochen. Er überlebt nur knapp.
Später - noch im Krankenhaus - hört er von einem Unfall-Video im
Internet. Zwölf Minuten ist es lang und er erkennt alles wieder:
seine Turnschuhe, seine Tattoos, seine Einkäufe.
O-Ton Dominik Steffens, Unfall-Opfer:
Da brach eine Welt für mich zusammen, als ich das dann
noch gesehen hab, wie schwer die Situation auch war. Das
war so der Moment, wo ich mich dann in dem Auto hab
sitzen sehen und hab erstmal realisiert, wie schlimm dieser
Unfall überhaupt war. Man ist sofort wieder präsent in dieser
Situation. Das ist schwer zu beschreiben, ich hab es leider
mitmachen müssen. Das ist krass.
Ihm zur Seite stand ein sogenannter Opferschützer der Kölner
Polizei: Hartmut Berg. Seine Erfahrung: Gaffer-Videos oder Fotos
im Netz haben eine verheerende Wirkung auf die Geschädigten.
O-Ton Hartmut Berg, Opferschutz Verkehr, Polizei Köln:
Bilder sind dazu geeignet, Intrusion hervorzurufen. Bedeutet,
ein Auslöser, ein Trigger, ein Auslöser, der zurückwirft in das
Erleben dieser Extremsituation: Ohnmacht, Todesangst. Und
das wird erneut durchlebt und vertieft natürlich das Erleben
und stört massiv bei der Bewältigung.
Ausgerechnet ein professioneller Kameramann stellte das
Material von Dominiks Unfall für jeden einsehbar ins Internet.
Normalerweise werden solche Filme in passwortgeschützten
Bereichen Fernsehsendern zur Verfügung gestellt, die dann
persönliche Details unkenntlich machen. Das ist hier nicht
geschehen. Doch ob privat oder Profi, ist Dominik egal.
O-Ton Dominik Steffens, Unfall-Opfer:
Man möchte nicht beobachtet werden, man möchte nicht
gefilmt werden, in diesen Momenten. Und man wird es
einfach, ohne gefragt zu werden.
Platzverweise, Bußgelder, in Härtefallen auch Haftstrafen – schon
jetzt werden störende Schaulustige bestraft. Zusätzliche
Mitarbeiter sollen Gaffertum verfolgen. Doch eigentlich haben die
Beamten an Unfallstellen Wichtigeres zu tun. Die meisten Gaffer
kommen unbehelligt davon - und werden immer dreister.
O-Ton Kim Ben Freigang, Pressesprecher Polizei Dortmund:
Wir fangen mal an bei der Autobahn, das Problem, dass
Leute teilweise von der Gegenseite der Fahrbahn bis auf den
Stillstand teilweise herunterbremsen. Ich habe das schon
erlebt mit einem Reisebus, wo der Busfahrer auf die linke
Spur rüber gewechselt ist, damit Leute hinten in Ruhe filmen
und fotografieren können.
Vergangenes Jahr machte dieser Fall Schlagzeilen, ein Auto
rauscht in eine Eisdiele in Bremervörde, zwei Menschen sterben
dabei. Dann tauchen drei am Unfall unbeteiligte Männer auf und
drängen sich zwischen Feuerwehr und Polizisten, um Fotos zu
machen. Sie bepöbeln Polizisten und Retter, wollen in die
Eisdiele hinein.
Die Situation eskaliert: Einer der Gaffer nimmt einen Polizisten in
den Schwitzkasten. Das Strafverfahren gegen die Männer läuft
noch – unter anderem wegen Körperverletzung, Bedrohung,
Beleidigung, nicht wegen Gaffens.
Im Bundesrat haben Niedersachsen und andere Bundesländer
auch aufgrund dieses Vorfalles das sogenannte Gaffer-Gesetz
durchgebracht.
O-Ton Boris Pistorius, SPD, Innenminister Niedersachsen:
Das Gaffer-Gesetz hat zwei Funktionen. Erstens unter Strafe
zu stellen, was heute nicht strafbar ist, also damit zu
signalisieren, das Verhalten von Menschen, die Einsatzkräfte
behindern, verletzte Unfallopfer oder verstorbene Unfallopfer
fotografieren und filmen, dass das nicht geduldet wird, das
das ein Verhalten ist, was wir nicht tolerieren wollen. Und
zum zweiten soll es eben natürlich auch eine
gesellschaftliche Diskussion anstoßen.
Eine Behinderung durch das bloße Gaffen soll jetzt unter Strafe
gestellt werden. Bisher ist dies nur strafbar bei Gewalt oder
Androhung von Gewalt. Störungen durch Rücksichtslosigkeit oder
Neugier waren bisher nicht unter Strafe gestellt. Zudem soll es
einen Persönlichkeitsschutz für Verstorbene geben. Bisher galt
der nur für hilflose Personen. Ob das Gesetz tatsächlich kommt,
entscheidet nun der Bundestag.
Die Gewerkschaft der Polizei begrüßt die Signalwirkung eines
möglichen Gaffer-Gesetzes, doch die Praxis wird Probleme
bereiten.
O-Ton Sascha Braun, Gewerkschaft der Polizei:
Der Gedanke an sich ist richtig, weil Gaffen ist ein Problem
für meine Kolleginnen und Kollegen, für die Feuerwehr. Aber
auf der anderen Seite ist das, was zum Gaffen gehört, auch
jetzt strafbar gewesen und deshalb muss man sich die Frage
vorhalten: Kann das tatsächlich das Gaffen begrenzen? Wir
haben da unsere Zweifel.
Das Problem: Polizisten müssen dann in jedem Fall ermitteln. Bei
Menschenansammlungen werden gerichtsfeste Beweise
schwierig.
O-Ton Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer Deutscher
Richterbund:
Der Öffentlichkeit wird vermittelt, es ist alles gut, wir
beheben den Missstand. Das wird in der Praxis aber nicht
fruchten. Die Probleme werden letztlich bei der Justiz
abgeladen, die sich damit herumschlagen muss, die
erforderlichen Nachweise zu finden. Und das wird in vielen
Fällen nicht gelingen.
O-Ton Ulrich Schellenberg, Präsident Deutscher
Anwaltsverein:
Wir werden feststellen, dass es nicht zu Verurteilungen
kommen wird, weil Fragen offen bleiben, Beweise nicht
erhoben werden können in der Hektik einer solchen
Unglückssituation. Und wir werden nachher Freisprüche
haben, wir werden Einstellungen haben, es wird ein Gesetz
sein, das nachher in der Praxis nicht tauglich ist.
Ein neues Gesetz wird Betroffenen wie Bayram Dömnez also
wenig helfen. Am Tod seiner Söhne haben sich Schaulustige
ergötzt.
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