Das Manuskript zum Beitrag

Manuskript
Beitrag: Kinderkliniken kaputtgespart –
Auf Kosten der Kleinsten
Sendung vom 31. Mai 2016
von Martina Morawietz und Astrid Randerath
Anmoderation:
Kleine Patienten in Not. Viele Kinderkliniken müssen sparen oder
sogar schließen. Und wer hilft den Kindern dann? Morgen ist
Kindertag. Da werden wieder alle sagen, Kinder sind die
Hauptsache, Kinder sind uns ganz viel wert. Das Problem: Für
viele Krankenhäuser, die wirtschaftlich denken müssen, sind
Kinder ein Verlustgeschäft. Sie kosten mehr Zeit und mehr
Personal, aber es gibt nicht mehr Geld für sie. Immer mehr
Kinderstationen werden deshalb kaputtgespart.
Text:
Sieben Wochen zu früh kamen sie auf die Welt, die Zwillinge Ella
und Luise. Ihre Mutter ist heilfroh, dass die Frühchen in der
Kinderklinik Siegen weiter versorgt werden. 2012 stand die Klinik
vor dem Aus. Das Geld fehlte. Die ganze Region wäre dann ohne
Kinderkrankenhaus gewesen.
O-Ton Sabine Sondermann, Mutter:
Wenn ich es miterlebe, wie schnell es gehen muss und wie
schnell gehandelt werden muss, und wenn ich mir vorstelle,
dafür müsste ich erst mal 100 Kilometer fahren, weil planbar
ist das ja sowieso alles nicht. Ja, das würde mich mit sehr
viel Angst erfüllen.
Im Umkreis von 100 Kilometern ist die Siegener Klinik das einzige
Kinderkrankenhaus. Rund 55.000 Kinder und Jugendliche
werden hier pro Jahr behandelt. Nur durch Millionen-Zuschüsse
konnte es gerettet werden. Doch Chefarzt Dr. Stefan Beyerlein
kämpft weiter mit Geldsorgen.
Vor wenigen Stunden hat er die sechsjährige Zeynep notoperiert.
Ihr Ellbogen ist gebrochen. Über Nacht behält er sie zur
Beobachtung in der Klinik.
O-Ton Dr. Stefan Beyerlein, Chefarzt Kinderchirurgie, DRKKinderklinik Siegen:
Natürlich ist es so, wenn ich einen 35-jährigen Mann mit
einem Bruch vom Radius habe, der bekommt eine
Versorgung, der kann danach nach Hause gehen. Und wenn
er was hat, dann geht er halt wieder ins Krankenhaus. Und
bei Kindern ist das natürlich so, da ist das vom Gewebe
schon anders, die Versorgungen sind anders. Und wie
gesagt, gerade die kleinen Kinder, die müssen eben durch
geschultes Personal überwacht werden, weil die eben nicht
sagen können: Oh, es kribbelt, es kribbelt nicht.
Oft genug bleibt er dann auf den Kosten für die stationäre
Aufnahme der Kinder sitzen. Denn bezahlt wird meist nur das,
was auch bei Erwachsenen erstattet wird. So sieht es das
Fallpauschalen-System vor. Bei Kindern reicht das nicht, denn die
Behandlung von Kindern kostet mehr - mehr Zuwendung, mehr
Personal, mehr Zeit. Das weiß auch die Controllerin des
Krankenhauses:
O-Ton Marita Imhof, Controllerin, DRK- Kinderklinik Siegen:
Wenn man einen Fall hat, wo man eigentlich weiß, das
braucht länger, da braucht mehr Zeit, um da überhaupt zu
einer Entscheidung, zu einer Diagnose zu kommen. So, und
das Fallpauschalen-System schreibt einem dann vor, nein,
der Fall muss entlassen werden. Dann kommt man schon in
Konflikte, wo man sagt, wenn es mein Kind wäre, dann
möchte ich eigentlich auch, dass es länger bleiben könnte.
Mehr medizinische Geräte für jedes Alter und auch mehr
Personal in der stationären Kinder-und Jugendmedizin - all das
verursacht hohe Kosten. Doch die deckt das FallpauschalenSystem nicht ausreichend ab, kritisiert der Deutsche Ethikrat.
O-Ton Michael Wunder, ehemals Deutscher Ethikrat:
In der stationären Kinder- und Jugendmedizin ist eine
erhöhte Rate von Notfällen und übrigens auch eine erhöhte
Rate von seltenen Erkrankungen zu behandeln und beides
hat natürlich auch Kostenkonsequenzen. Sie müssen für
Notfälle bestimmte Dinge einfach vorhalten, auch
bestimmtes Personal. Das sind alles Kostenfaktoren, die sich
im jetzigen Entgeltsystem nicht wirklich richtig abbilden.
Die Folge: Immer mehr Kinderkrankenhäuser und Abteilungen
mussten schließen. 1991 gab es noch 440, 2014 waren es nur
noch 356.
Jochen Scheel vertritt die Kinderkliniken in einem Fachverband.
Er fürchtet, das Sterben der Kinderklinken wird weitergehen.
O-Ton Jochen Scheel, Geschäftsführer Gesellschaft der
Kinderkrankenhäuser und Kinderabteilungen in Deutschland
(GKinD):
Sie müssen sich vorstellen, wenn Sie als Eltern einen Notfall
zuhause haben mit ihrem Kind und suchen dringend eine
Versorgung, dann muss die nächste Versorgungsmöglichkeit
möglichst nah sein. Wir sagen, maximal 30 Kilometer
entfernt, was heute in vielen Regionen schon nicht mehr
einzuhalten ist. Das ist natürlich ein großes Risiko, wenn
irgendeine lebensbedrohliche Erkrankung vorliegt, kann das
ein Riesenproblem werden.
Jan Pascal hatte Anfang des Jahres tagelang Kopfschmerzen. Im
Kreiskrankenhaus in Perleberg, Brandenburg, gibt es noch eine
Kinderstation. Das rettete dem 16-Jährigen das Leben.
O-Ton Jan Pascal Wolgast, Patient:
Ich habe gedacht, das ist bestimmt nur so eine Erkältung, so
eine Wintererkältung. Kann ja mal passieren. Ja, aber dann
von Tag zu Tag wurde es halt immer schlimmer und dann
habe ich mir schon so gedacht, da könnte wirklich was
Schlimmes dahinter sein.
Die Schmerzen werden immer stärker. Nachts muss er in die
Notaufnahme der Kinderstation. Nach umfangreichen
Untersuchungen stellen die Mediziner im Kernspin fest, Jan
Pascal hat eine fortgeschrittene Hirnhautzündung.
O-Ton Dr. Rüdiger Wiebelitz, Chefarzt Kinder- und
Jugendmedizin, Kreiskrankenhaus Prignitz:
Die Erkrankung, die er hat, führt unbehandelt in 70 Prozent
der Fälle zum Tode. Sodass wenn wir hier nicht wären, ein
niedrigschwelliges Angebot gar nicht dagewesen wäre und
der Junge wahrscheinlich noch ein paar Tage unbeobachtet
ambulant weitergelaufen wäre, bis er völlig
zusammengebrochen wäre.
Das Kreiskrankenhaus in Perleberg kann sich die Kinderstation
nur leisten, weil andere Abteilungen wie Kardiologie und Chirurgie
die Kinderklinik quer subventionieren.
O-Ton Karsten Krüger, Geschäftsführer Kreiskrankenhaus
Prignitz:
Die Kinderklinik macht uns da schon jeden Tag Sorgen, weil
die Kosteneinnahmestruktur nicht der entspricht, wie in
vielen anderen Abteilungen. Das heißt, dass wir bei 900
Patienten Einnahmen haben, die die Personalkosten bei
Weitem nicht decken.
Gerade Kinderkliniken in dünn besiedelten Regionen rechnen
sich oft nicht - sind aber nötig, um die Grundversorgung zu
gewährleisten.
Wir fragen nach bei Gesundheitsminister Gröhe. Sollte für Kinder-
und Jugendmedizin mehr Geld zur Verfügung gestellt werden?
Sollten die Fallpauschalen, die sogenannten DRGs, nicht
großzügiger angepasst werden? Schriftlich teilt uns das
Ministerium mit,
Zitat:
„Seit Einführung des DRG-Systems konnte (…) die
sachgerechte Vergütung der Versorgung von Kindern
kontinuierlich verbessert werden.“
Sachgerechte Vergütung? Die Behandlung von Kindern ist teurer
als die von Erwachsenen. Werden die Fallpauschalen nicht
deutlich angepasst, wird das Folgen haben, befürchtet der
Deutsche Ethikrat.
O-Ton Michael Wunder, ehemals Deutscher Ethikrat:
Ich glaube schon, dass unsere Gesellschaft zwar gerne sagt,
sie ist kinderlieb und Kinder sind willkommen, wenn es aber
Spitz auf Knopf geht - und hier geht es Spitz auf Knopf in der
Kindermedizin, dann gibt es doch keine große Lobby für
diesen Bereich.
Keine Lobby für die Kinder, keine Lobby für die Kinderkliniken ändert sich nichts, geht das auf Kosten der jüngsten Patienten.
Abmoderation:
Die Bundesregierung will sich verstärkt für die Kinder- und
Jugendmedizin engagieren – wurde im Koalitionsvertrag
versprochen. Offenbar bloß ein Lippenbekenntnis.
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