Manuskript Beitrag: Unfälle durch abschüssige Bahnsteige – Achtung Lebensgefahr! Sendung vom 24. Mai 2016 von H.C. Schultze und Gregor Witt Anmoderation: Das Gute gleich vorweg: Das Kind hat überlebt und wurde auch nur leicht verletzt. Natürlich war da keine Geisterhand im Spiel, sondern reine Physik. Viele Bahnsteige haben ein so starkes Gefälle, dass sich Kinderwagen oder auch Rollstühle von ganz allein in Bewegung setzen können. Was wir ihnen eben gezeigt haben, das passierte in Australien. Und bei uns in Deutschland? Kann da ähnliches passieren? Beim umstrittenen Prestigebahnhof Stuttgart 21 jedenfalls ist eine besonders große Neigung eingeplant. Und groß scheint auch die Neigung der Bahn zu sein, Gefahren zu verharmlosen. Text: Kann so was auch in Deutschland passieren? Wir fragen Bahnreisende. O-Ton Bahnreisende: Oh, oh Gott! O-Ton Bahnreisender: Schon heftig! O-Ton Bahnreisende: Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass das immer so gemacht ist, dass da nix wegrollen kann. O-Ton Bahnreisende: Ich denke schon, dass unsere Bahnhöfe so gesichert sind, sein müssten eigentlich, dass sowas nicht passieren darf, ne. Und es passiert doch: Mai 2014 im Bahnhof Osnabrück. Die spastisch gelähmte 17-jährige Anna Colmer ist zusammen mit ihrem Lehrer auf dem Weg nach Hause. Ihr Betreuer ist kurz abgelenkt, da passiert es. Ein Zug kann gerade noch halten. O-Ton Anna Colmer: Ich hab überall geblutet, hier und hier oben. Und dann hab ich dem lieben Gott erst mal Danke gesagt – hätte auch ein Zug über mich drüberfahren können, dann wäre ich nicht mehr da. O-Ton Rüdiger Knopp, Lehrer: In dem Moment hab ich überhaupt nicht realisiert, dass es hier eine Ebene gibt, die schief runtergeht oder so. Das war mir gar nicht bewusst. Anna Colmer hatte großes Glück. Sie wurde nur leicht verletzt. Nur wer genau hinschaut, sieht: Der Bahnsteig ist geneigt. Das lässt sich zeigen mit einfachen Mitteln: Wir stapeln 18 20-CentMünzen, das macht dreieinhalb Zentimeter Höhenunterschied auf einen Meter. War dieses Gefälle die Unfallursache? Wir fragen die Polizei. O-Ton Ralf Löning, Pressesprecher Bundespolizeiinspektion Bad Bentheim: Ohne Neigung hätte sich dieser Unfall vermutlich nicht so entwickeln können, in dieser Geschwindigkeit, dass keiner mehr die Chance hatte, der jungen Frau zur Hilfe zu kommen. Stuttgart. Hier entsteht ein riesiger unterirdischer Bahnhof. Kritiker schätzen dessen Kosten auf rund zehn Milliarden Euro. Da sollte ein hoher Sicherheitsstandard selbstverständlich sein. Das Problem: In Stuttgart werden Bahnsteige mit sehr großem Gefälle gebaut - einmalig für einen Großstadtbahnhof in Deutschland, vermutlich sogar weltweit. Nach internationalen Sicherheitsstandards sollen Bahnhöfe maximal ein Meter auf 400 Meter Bahnsteiglänge geneigt sein. Stattdessen werden in Stuttgart Bahnsteige mit gut sechs Metern Höhenunterschied gebaut - sechs Mal so viel wie der internationale Standard vorsieht. Kritiker warnen, damit steige das Risiko, dass Kinderwagen und Rollstühle ins Gleis rollen und Menschen überfahren werden. Kann die Bahn bei sechs Meter Bahnsteiggefälle Sicherheit gewährleisten? Wir fragen Professor Markus Hecht, der sich intensiv mit Stuttgart 21 befasst hat. O-Ton Prof. Markus Hecht, Leiter Fachgebiet Schienenfahrzeuge, Technische Universität Berlin: Also, ich kann mir nicht vorstellen, dass der Bahnhof so sicher gemacht werden kann wie ein ebener Bahnhof. Es gibt dafür keine technischen Lösungen aus meiner Sicht, um die Unfallgefahr zu reduzieren, vor allem für Behinderte und eben auch Personen mit Kindern, Kinderwagen, Rollkoffer, Leute mit Gepäck. Das ist also ganz bedenklich. Solche Bedenken hält die Bahn für unbegründet. Andere Bahnhöfe seien auch geneigt und trotzdem sicher. Das behauptet sie auch in diesem Werbefilm zu Stuttgart 21: O-Ton Werbefilm Deutsche Bahn: Dass Bahnsteige an Stationen mit größerem Längsgefälle sicher betrieben werden können, zeigen auch andere Orte in Stuttgart. Schon seit 1978 hier gibt es die S-Bahn-Station Feuersee mit einer Längsneigung, die größer ist als die, die der neue Bahnhof haben wird. Die S-Bahn-Station Feuersee. Stuttgart 21-Gegner machen den Praxistest. Mit Kinderwagen, mit Rollstühlen. Ist es das, was die Bahn als sicher bezeichnet? Nachfrage bei der Deutschen Bahn. Kein Interview. Schriftlich erklärt sie, eine Neigung zur Bahnsteigmitte werde Stuttgart 21 sicher machen. Sie teilt mit, nach dem Regelwerk der Deutschen Bahn, Zitat: „ ... wird somit die gleiche Sicherheit erreicht wie bei einem ebenen Bahnsteig.“ Christoph Engelhardt, Mitglied bei den „Ingenieuren gegen Stuttgart 21“, hat das am Bahnhof Ingolstadt Nord überprüft. An einem Bahnhof, mit ähnlicher Querneigung wie für Stuttgart 21 geplant. Im Kinderwagen Steine so schwer wie ein Kind. Nur leicht Richtung Gleis gedreht, rollt er von selbst Richtung Gleisbett. Kurz vor dem Sturz wird der Versuch aus Sicherheitsgründen abgebrochen. O-Ton Christoph Engelhardt, WikiReal: Die Querneigung bringt in vielen Fällen nichts. Hier in Ingolstadt rollt der Kinderwagen in einem Siebtel aller möglichen Fälle los. Ja, offensichtlich hat sich die Bahn verrechnet mit diesen Sicherheitsmaßnahmen. Diese Untersuchungen müssen lückenhaft sein, sonst gäbe es nicht die reale Möglichkeit, dass ein Kinderwagen ins Gleis rollt. Ein schwerer Verdacht. Nochmals fragen wir die Bahn. Keine Antwort. Zu Unfällen an Bahnsteigen erklärt der Staatskonzern, er habe in zehn Jahren, Zitat: „... insgesamt acht Zwischenfälle mit leeren Kinderwägen, einem Rollstuhl und einem Bierfass erfasst. (...) In nur einem Fall kam ein Reisender leicht zu Schaden.“ Ein Rollstuhl und ein Bierfass. Merkwürdig: Dem Verkehrsausschuss des Bundestages sind allein schon vier Rollstuhl-Unfälle bekannt: 8.11. 2005 Potsdam Griebnitzsee 21.8. 2011 Düsseldorf-Wehrhahn 6.5.2014 Hannover Hbf 23.5.2014 Osnabrück Hbf Wie viele Unfälle es wegen geneigter Bahnsteige in Deutschland wirklich gibt, würde auch die Bundestagsabgeordnete Sabine Leidig gern wissen. Die Bahn schweige dazu, mit Rückendeckung der Regierenden. O-Ton Sabine Leidig DIE LINKE, MdB: Die Bundesregierung, wie auch der Verkehrsausschuss als Ganzes, also das ist ja noch mal die parlamentarische Ebene, die sind wie die Affen: Also, nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Es ist irgendwie ein systematisches Wegschauen zu beobachten. Und ich finde, dass es sehr unverantwortlich ist. Und so kann die Bahn in Stuttgart weiterbauen. Der Bundesverkehrsminister sieht keine Sicherheitsprobleme, erklärt er gegenüber Frontal 21. Und seine Aufsichtsbehörde, das Eisenbahnbundesamt, will erst prüfen, wenn der Bahnhof fertig ist. Das erklärte der Präsident der Behörde vor Kurzem im Verkehrsausschuss des Bundestages. Im Protokoll heißt es: „Wir werden im Rahmen der Inbetriebnahme ... prüfen, ob alle Maßnahmen zusammen ... zu der erforderlichen Sicherheit führen.“ Viel zu spät, sagen Kritiker. Sie befürchten, dass die Aufsichtsbehörde den schrägen Bahnsteig einfach durchwinkt mit fatalen Folgen für die Bahnreisenden. O-Ton Prof. Markus Hecht, Leiter Fachgebiet Schienenfahrzeuge, Technische Universität Berlin: Das ist allgemein in Deutschland die Sicherheitsphilosophie. Ich handle immer erst, wenn der Unfall passiert ist. Also, wenn wenige Unfälle in langer Zeit passieren, wird man auch noch nicht handeln, es muss mehrere in kurzer Zeit geben. So schlimm das ist. Anna Colmer ist für die Bahn ein Einzelfall. Konsequenzen – bis heute Fehlanzeige. Der jungen Frau steckt der Schreck noch immer in den Knochen. Bahnsteige machen ihr bis heute Angst. O-Ton Anna Colmer: Du denkst ja auch nicht, dass das abschüssig ist. Du denkst, das ist ein ganz normaler Bahnsteig wie der in Nürnberg oder in Berlin oder was weiß ich. Da denkst du doch nicht mit. Komische Bahnsteigbauer, die sowas bauen. Also, das gibt’s nicht. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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