Manuskript Beitrag: Aufstocken mit Hartz IV – Gehalt reicht nicht zum Leben Sendung vom 5. Juli 2016 von Christian Esser, Manka Heise und Birte Meier Anmoderation: Die sogenannte Sozialbindung steht im Artikel 14 des Grundgesetzes. Doch viele Unternehmen fühlen sich ans Soziale offenbar nicht allzu sehr gebunden. Sie bezahlen ihren Beschäftigten jedenfalls so wenig, dass die von ihrer Arbeit allein nicht leben können und Almosen vom Staat beantragen müssen. Von diesen Hartz IV-Aufstockern gibt es angesichts der boomenden Wirtschaft erbärmlich viele. Frontal 21 zeigt zusammen mit der Wirtschaftswoche die neuesten Zahlen und Fakten. Text: Kathrin Rösler berät Aufstocker: Menschen, deren Lohn zum Leben nicht reicht, deshalb zusätzlich Hartz IV beziehen. Früher gehörte sie auch dazu. O-Ton Kathrin Rösler, Erwerbsloseninitiative Leipzig: Schön war es nicht. Man hat sich den ganzen Tag abgestrampelt und es ist fast nix rumgekommen dabei. Und, na ja, der Sohn hatte auch Wünsche. Ich selber hatte mir meine schon längst abgewöhnt, aber für den Sohn wollte man dann doch noch ein bisschen was haben. Damals, bei Einführung der Hartz-Reformen, hatte das ganz anders geklungen: O-Ton Peter Hartz, ehemaliger Arbeitsdirektor VW, am 9.08.2002: Guten Tag, meine Damen und Herren, heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen in Deutschland. 14 Jahre später gibt es zwar mehr Jobs, aber sehr viele Beschäftigte können davon nicht leben: 1,2 Millionen müssen aufstocken. Das geht aus einer Antwort des Arbeitsministeriums auf eine kleine Anfrage der Linkken hervor. Hauptstadt der Aufstocker ist Berlin: 60.000, gefolgt von Hamburg mit knapp 19.000 und die Region Hannover mit knapp 12.000. Aber es gibt auch kleinere Städte mit hohen Aufstockerzahlen: Offenbach mit rund 2.400 oder Frankfurt/Oder mit rund 1.100 – dort sind es rund 5 Prozent aller Erwerbstätigen. Die Aufstocker arbeiten hauptsächlich im Einzelhandel - knapp 72.000; in der Gebäudebetreuung rund 69.000 und in der Gastronomie gut 65.000. Branchen, die Gewinne schreiben. O-Ton Jutta Krellmann, DIE LINKE, MdB: Wir subventionieren mit unseren Steuermitteln Unternehmen, die nicht bereit sind, ihre Leute vernünftig zu bezahlen. Und das ist ein Punkt, den finde ich auch absolut nicht in Ordnung. Das Erstaunliche: nur neun Prozent der Aufstocker sind Selbständige. Geringfügig Beschäftigte – also zum Beispiel MiniJobber – stellen 43 Prozent. Den größten Anteil aber machen regulär sozialversicherungspflichtig Beschäftigte aus: knapp 48 Prozent. Das sind 591.000 Menschen. Von denen arbeiten viele auch noch Vollzeit: 200.000. O-Ton Prof. Stefan Sell, Arbeitsmarkt-Experte, Hochschule Koblenz: Hier sehen wir ein grandioses Versagen des deutschen Sozialstaates, das kann nicht sein und darf nicht sein, dass man bei Vollzeit-Erwerbstätigkeit in die Bedürftigkeit getrieben wird. O-Ton Jutta Krellmann, DIE LINKE, MdB: Deutschland ist eines der reichsten Länder in Europa, aber auch in der ganzen Welt. Und wenn wir es nicht schaffen, dann auch Menschen so zu entlohnen, dass sie nach Hause gehen können und sagen können: Okay, ich habe gearbeitet und dafür habe ich Geld gekriegt, und deswegen kann ich auch vernünftig leben, und wenn das nicht passiert, dann finde ich, ist das einer Gesellschaft nicht gerecht. Gerechtigkeit – dafür hätte eigentlich der Mindestlohn sorgen sollen. O-Ton Andrea Nahles, SPD, Bundesarbeitsministerin, am 3.07.2014: Fleißig, billig, schutzlos – das ist doch bisher die Realität für Millionen Arbeitnehmer in Deutschland. Und damit ist jetzt Schluss. Oder auch nicht. Tatsächlich hat der Mindestlohn für Aufstocker nur wenig geändert. O-Ton Prof. Stefan Sell, Arbeitsmarkt-Experte, Hochschule Koblenz: Der Mindestlohn reicht definitiv, wenn überhaupt, nur für einen alleinstehenden Erwerbstätigen, um gerade oberhalb der Hartz IV-Schwelle zu sein. Und in vielen Gegenden Deutschlands, denken Sie an die Großstädte, reicht auch der Mindestlohn für einen Alleinstehenden im Prinzip nicht aus. Und so kosteten die Aufstocker den Steuerzahler - 10,5 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Viel Geld – und trotzdem ist die Verbitterung groß: O-Ton Kathrin Rösler, Erwerbsloseninitiative Leipzig: Das macht auch wütend, klar, und frustriert. Es gibt so viele, die geben auf, die hängen dann nur noch durch und die schaffen es dann nicht so, sich selbst so ein bisschen an den Haaren wieder herauszuziehen. So bleibt für viele dauerhaft zum Leben zu wenig – arm trotz Arbeit. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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