SWR2 Forum Buch

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Forum Buch
Vom 13.03.2016 (17:05 – 18:00 Uhr)
Redaktion und Moderation: Gerwig Epkes
Mit neuen Büchern von: Siegfried Lenz, Marie Malcovati, Guntram Vesper, NisMomme Stockmann, und Peter Stamm
Siegried Lenz: " Der Überläufer"
Hoffmann und Campe
19,99 Euro
Rezensent: Eberhard Falcke
Marie Malcovati: "Nach allem was ich beinahe für dich getan hätte"
Edition Nautilus
16 Euro
Gesprächspartnerin: Kirsten Voigt
Guntram Vesper: "Frohburg"
Verlag Schöffling&Co
34 Euro
Gesprächspartner: Helmut Böttiger
Nis-Momme Stockmann: "Der Fuchs"
Rowohlt Verlag
24.95 Euro
Rezensent: Carsten Otte
Peter Stamm: "Weit über das Land"
S.Fischer Verlag
19,99 Euro
Gesprächspartnerin: Verena Auffermann
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:
SWR2 Forum Buch können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio
unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören:
http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/literatur.xml
Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen
Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet
besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen
Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.
Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
Siegried Lenz: " Der Überläufer"
Von Eberhard Falcke
Nachlässe sind mitunter schwatzhaft und nicht immer teilen sie Entscheidendes mit.
Daß aber Siegfried Lenz, dieser große Erzähler exemplarischer deutscher
Geschichten, schon früh einen veritablen Kriegs- und Frontroman geschrieben hat,
das ist wahrlich eine Überraschung und alles andere als eine literaturhistorische
Bagatelle. Denn was Lenz in diesem Roman unter dem Titel „Der Überläufer“
verhandelte, das waren Themen, die ihn noch lange begleiten sollten: die
zerstörerische Absurdität des Krieges; das Problem eines politisch mißbrauchten
Pflichtbewußtseins; die Konflikte des Einzelnen zwischen Selbstbehauptung, Zwang
und Moral; und die Last quälender Erinnerungen, die gespenstisch in einer schmalen
Rahmenhandlung aufscheint.
Hauptfigur des Romans ist der junge Soldat Walter Proska. Eher zufällig bleibt er im
letzten Kriegssommer bei einem kleinen Trupp hängen, der an der Ostfront eine
Eisenbahnlinie sichern soll. Damit gerät der Romanheld in eine realistisch genau
ausgemalte zugleich aber symbolisch überaus vieldeutige Zwischenwelt, halb Idyll,
halb Todeszone. Geographisch kann man sich darunter die Prypjatsümpfe
nordwestlich von Kiew vorstellen. Symbolisch dagegen ist der sumpfige Schauplatz
mit den verschwimmenden Grenzen zwischen Land und Wasser nichts anderes als
ein Bild für Auflösung, Wirrsal und Untergang.
Genau genommen stehen die deutschen Soldaten in ihrem spartanischen Blockhaus
auf verlorenem Posten. Die Partisanen sind weit in der Überzahl, doch aus einem
undurchschaubaren Kalkül heraus lassen sie sich mit der Dezimierung ihrer Feinde
Zeit. Entsprechend widersprüchlich verhalten sich die Soldaten. Jeder verkörpert
einen anderen Typus und jeder pflegt neben dem Dienst seine ganz persönlichen
Marotten. Der Korporal säuft und schurigelt seine Untergebenen halb ernst, halb
komisch im Landserjargon. Der schlaksige Zwitscho spricht schlesische Mundart und
will unbedingt den größten Hecht aus dem Fluß erwischen. Der Artist Baffi hat sich
ein Huhn besorgt, das er dressieren kann. Wolfgang, auch Milchbrötchen genannt,
sammelt tiefgründige Argumente gegen Krieg, Nationalismus und blinde
Pflichterfüllung. Walter Proska hingegen, der die politische und militärische Führung
nur als „die Klicke“ bezeichnet, kreuzt mit einer jungen Partisanin die Waffen der
Erotik. Als wären die Sümpfe eine vom Krieg und den historischen Ereignissen fast
unberührte Enklave.
Das ändert sich in der zweiten Hälfte des Romans, wenn die Front mit dem
sowjetischen Vormarsch in Bewegung gerät. Die deutschen Soldaten werden von
den Partisanen gefangen genommen, und das ist der Moment, in dem Walter
Proska zum Überläufer wird, nicht aus großformatigen Überzeugungen, sondern
einfach aus individueller Vernunft: er will sich nicht opfern für die an der Macht
befindliche „Klicke“, an die er nicht glaubt. Mit sarkastischer Ironie bezeichnet er sich
selbst als den „Assistenten seines Gewissens“. Der Logik der Front, die ihn zum
Töten zwingt, entkommt er allerdings auch durch den Seitenwechsel nicht. Was
bleibt, ist der, wie es hier heißt, „Schuldschmerz“, ebenfalls ein Thema, das im Werk
von Siegfried Lenz noch öfter vorkommen wird.
Formal mischte Lenz hier ganz verschiedene stilistische Register: Für die brutale
Wirklichkeit von Kampf, Verletzung und Tod kommt ein lapidarer Realismus zum
Einsatz. Aufwühlende oder stimmungreiche Momente werden in fast
expressionistische Formulierungen gefaßt. Naturbetrachtungen dagegen entfalten
sich in manchmal humoristisch gebrochener romantizistischer Bildsprache. Als
schlüssige stilistische Erzählstruktur kann das kaum durchgehen. Trotzdem hat es
seinen Reiz, dem jungen Autor beim Erproben seiner Ausdrucksmöglichkeiten
zuzusehen.
Aber was mag nun so brisant an dieser Geschichte gewirkt haben, daß der Verlag
sie nicht drucken wollte? Gewiß: Kriegsromane waren Anfang der Fünfziger Jahre
zum Kassengift geworden. Trotzdem erschienen noch manche. Auch als
Sowjetsympathisant machte sich der Romanheld in Zeiten der Westbindung
bestimmt nicht verdächtig. Schließlich kehrt er der Ostzone, wo er beim Aufbau des
Sozialismus für kurze Zeit ein Amt ausübt, bald mit deutlicher Kritik an stalinistischen
Methoden den Rücken.
Tatsächlich war es die Überläuferthematik als solche die offenbar manifest störte.
Otto Görner, der damalige Lektor von Siegfried Lenz, war, wie der
Literaturwissenschaftler Friedmar Apel in seiner FAZ-Rezension mitteilt, Mitglied bei
der SS gewesen. Zumindest ein emsiger Mitläufer also, der zweifellos für jene
damals noch zahlreichen Zeitgenossen sprechen konnte, denen die Abwendung vom
völkischen Kollektiv als ärgerlicher Skandal galt. Und das war nun mal das
Schlüsselthema des Romans, verkörpert von einem individualistischen Anti-Helden,
mit dem Lenz indirekt auch die Motive für seine eigene Desertion in den letzten
Kriegstagen beleuchtet haben mag.
Siegfried Lenz’ nun posthum herausgegebener „Überläufer“-Roman behauptet sich
als spannende, vielsagende Lektüre, die zudem eine interessante Leerstelle im Werk
des Schriftstellers ausfüllt. Und außerdem geben dieses Buch und sein Schicksal als
aufschlußreiches Beispiel für die Verfassung der deutschen Nachkriegsliteratur eine
Menge her.
Nis-Momme Stockmann: "Der Fuchs"
Von Carsten Otte
Der Roman „Der Fuchs“ beginnt mit einer eindrücklichen Szene: Ich-Erzähler
Finn Schliemann hat sich in einer norddeutschen Kleinstadt namens Thule auf
ein Hausdach geflüchtet, denn die Welt, in der Finn aufgewachsen ist, wird
von einer gewaltigen Flut heimgesucht. Hier auf dem Dach beobachtet der
erschöpfte und von der brennenden Sonne arg in Mitleidenschaft gezogene
Held, was an ihm vorbeifließt: Tote Tiere, aufgequollene Menschenkörper, das
Hab und Gut der ehemaligen Nachbarn, bekannte und unbekannte Dinge.
Angeregt von all dem, was fortgerissen wird, beginnt Finns Erinnerungsstrom,
von dem wir Leser nun mitgerissen werden sollen. Erzählt wird Finns trostlose
Jugend in der Provinz, die mit der Flut endgültig vorbei ist, es geht um den
toten Vater und die traurige Mutter, um den behinderten Bruder Reini, um
Freunde und Feinde, aber es geht auch um sehr viel größere, man könnte
sagen: außerirdische und außerzeitliche Phänomene.
Auf der Erde scheint schon vor der großen Flut einiges nicht mit rechten
Dingen zuzugehen. Finns Freunde sind äußerlich und seelisch wohl das, was
man neudeutsch Freaks nennt, und die Feinde etwa aus dem Rüpel-Clan der
„Baschis“ treten als Schlägertrupps auf, die zuschlagen, weil sie es können
bzw. weil sie nicht anders können. Nein, in diesem Kaff möchte man nicht mal
begraben sein. Aber an Flucht scheint niemand zu denken. Auch Katja nicht,
die sich mit Finn anfreundet und offenbar seherische Fähigkeiten hat. Sie
erzählt von vergangenen Epochen, als wäre sie dabei gewesen, sie weiß über
geheimnisvolle „Agenten“ Bescheid, die Sein und Vergehen in bestimmten
Raum-Zeit-Achsen überwachen, aber obwohl die Hinweise, denen sie
zusammen mit Finn nachgeht, sich durchaus zu einem Sinnzusammenhang
fügen, bleibt vieles im Dunkeln. Zumal Katjas eigene Psyche ebenfalls schwer
angeschlagen ist. Bald fragt man sich: Wer oder was ist noch normal in dieser
Welt? Gibt es das überhaupt: Normalität? Und wie verrückt ist man selbst mit
landläufigen Unterscheidungen von normal und verrückt?
Im Laufe des Romans werden die unterschiedlichsten Erzählebenen
ausgebreitet: Neben den irdischen Anti-Helden und den nicht-irdischen
Agenten gibt es weitere, noch höhere Instanzen, nämlich antike Gottheiten,
die einerseits einen Plan haben, andererseits auch verhängnisvolle Fehler
machen. Als Leser wissen wir nicht so genau, ob diese göttlichen Welten der
Phantasie des Erzählers entspringen oder ob wir es hier mit auktorialen
Binnenerzählungen zu tun haben, die den Romankosmos auch inhaltlich
zusammenhalten sollen. Tatsache ist: Stockmanns Roman „Der Fuchs“ will
eine literarische Feier des Komplexen sein, und diese Komplexität soll sich
auch in der textlichen Länge ausdrücken. Das Mäandern wird zum inhaltlich
begründeten Stilprinzip und erinnert an die Endloswelten von
Computerspielen, an die vielen oft umfangreich angelegten Teenager-RomanReihen, an die auf abschweifende Fortsetzung angelegten Mystery-, Horrorund Science-Fiction-Serien. Formal ist das auf den ersten Blick plausibel – die
Frage ist nur, ob das literarische Konzept insgesamt aufgeht.
Für Leser, die sich – wie Stockmann für sich selbst reklamiert – gerne „im
Roman wahnsinnig breit machen“, mag der Text eine gewisse Sogwirkung
entfalten. Wer auf etwas mehr Erzählpräzision setzt, wer ausschweifende und
seltsam aufgeladene Monologe über Karl Marx oder Karl May, über den
globalisierten Kapitalismus und die Klimakatastrophe, wer also endloses
Bramarbasieren über Gott und die Welt nicht mag, wer einen eher
handlungsorientierten Plot oder auch nur ein etwas abwechslungsreicheres
Figurentableau (und nicht nur Freaks) erleben will, der wird mit diesem Roman
nicht glücklich werden. Denn die ausgestellte Komplexität, der esoterische
Symbol-Überschuss und die selbstbewusste Geschwätzigkeit des Erzählers
ermüden letzten Endes. Abgesehen von einzelnen gelungenen Szenen wartet
weder die Beschreibung der eintönigen Landjugend noch die Verschränkung
dieser Geschichte mit Science-Fiktion-Versatzstücken mit überraschenden
Wendungen auf. Das hat man so oder so ähnlich schon mal gelesen oder
gesehen, und wenn man den Roman um die aufgesetzten Verkomplizierungen
sowohl der Sprache als auch der Geschichte reduzierte, bliebe ein
erschreckend unterkomplexes Erzählgerüst und eine Art Nummernrevue mit
wenigen Höhepunkten. Es ist schon erstaunlich, dass ausgerechnet dieses
Prosa-Debüt auf der Liste der Nominierten zum Preis der Leipziger
Buchmesse gelandet ist. Vielleicht weil die Jury partout ein „Wagnis“ eingehen
wollte, weil eine literarische „Zumutung“ dabei sein sollte.
„Der Fuchs“ ist der 700-Seiten-Roman eines Dramatikers, der auf Dramatik
im engeren Sinne weitgehend verzichtet. Dennoch oder gerade deshalb
werden wir dieses Prosa-Werk wohl demnächst auf deutschen Bühnen sehen.
Denn uferlose Monologe und stundenlange Roman-Adaptionen sind im
hiesigen Theaterbetrieb schwer in Mode. Von wegen Komplexität und so. Wie
wenig belastbar diese Ästhetik aber ist, zeigt der Schluss des Romans, der mit
morbidem Metaphorik-Kitsch aufwartet. Während der Ich-Erzähler auf dem
Dach dem Tod entgegen dämmert, darf er im Fiebertraum (oder ist es schon
die Realität einer anderen Raum-Zeit-Achse?) zu einem schlauen Füchslein
werden – so wie es sich die visionäre Katja immer gewünscht hat.