SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Forum Buch Vom 10.04.2016 (17:05 – 18:00 Uhr) Redaktion und Moderation: Gerwig Epkes Mit neuen Büchern von: Bernd Cailloux, Christiana Coletti, Friederike Gösweiner, Lars Gustafsson, Lukas Kummer und Alberto Asor Rosa Lars Gustafsson: "Doktor Wassers Rezept" Hanser Verlag 17,90 Euro Rezensent: Ulrich Rüdenauer Alberto Asor Rosa: Alessandro und Assunta edition.fotoTAPETA 16.80 Euro Gesprächspartnerin: Marlene Streeruwitz Bernd Cailloux: "Surabaya Gold" Suhrkamp Verlag 10 Euro Rezensentin: Zoe Beck Lucas Kummer: "Die Verwerfung. Eine Geschichte aus dem Dreißigjährigen Krieg" Zwerchfell Verlag 20 Euro Rezensentin: Silke Merten Friederike Gösweiner: "Traurige Freiheit" Literaturverlag Droschl 18 Euro Gesprächspartnerin: Ursula März Alessandro Baricco: "Mr. Gwyn" Hoffmann und Campe 22 Euro Rezensentin: Christiana Coletti Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Forum Buch können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/literatur.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Lars Gustafsson: "Doktor Wassers Rezept" Von Ulrich Rüdenauer Man konnte sich bei Lars Gustafsson nie ganz sicher sein: Was denn nun Wirklichkeit sei, was Fiktion, das scheint sich als fundamentale Frage durch sein ganzes Werk zu ziehen. Dieser Riss, wenn es denn überhaupt einer ist, hat freilich mit einer noch viel wesentlicheren Frage zu tun: der nach der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit. Lars Gustafssons umfangreiches, vielseitiges, ja, reiches Oeuvre ist von dieser philosophischen Frage nach „Sprache und Lüge“ (so lautet der Titel seiner Dissertation) durchdrungen, aber getragen ist es von einem ganz einnehmenden poetischen Ton. In Romanen, Essays, Gedichten, sogar in seinen politischen Kommentaren kann man diesen Ton finden, und er hat ihn zum wirkmächtigsten und bekanntesten schwedischen Autor der letzten Jahrzehnte neben Per Olov Enquist und Tomas Tranströmer gemacht. Tranströmer bekam von der Schwedischen Akademie vor fünf Jahren den Literaturnobelpreis zugesprochen; Lars Gustafsson war dafür immer im Gespräch. Andere Preise sind ihm hingegen zugeflogen, gerade auch in Deutschland. 2009 wurde er mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet, 2015 mit dem Thomas-Mann-Preis. Das verwundert nicht, denn Gustafsson hatte mit Deutschland eine lange und innige Beziehung: Von 1972 bis 1974 lebte er in Berlin, er war eng befreundet mit Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger, seit den siebziger Jahren war er Mitglied der Berliner Akademie der Künste. Mit seinem langjährigen deutschen Verleger und Schriftstellerkollegen Michael Krüger verband ihn eine Freundschaft – er hat dessen Bücher zudem ins Schwedische übersetzt. Aus der schwedischen Provinzstadt Västerås stammend, die in seinem Werk eine bedeutende Rolle spielt, wurde Gustafsson zum Weltbürger, der mehrere Sprachen fließend beherrschte und mehr als 20 Jahre als Professor für Germanistische Studien und Philosophie in Austin/Texas lehrte. Lars Gustafsson ist am vergangenen Sonntag wenige Wochen vor seinem 80. Geburtstag gestorben. Was bleibt, sind seine Werke, etwa der große Romanzyklus „Risse in der Mauer“ aus den Siebzigern oder die in den letzten Jahren in steter Folge erschienenen Kurzromane, die nicht selten autobiographische Motive umspielen. Und zum Vermächtnis wurde nun auch der vor wenigen Tagen auf Deutsch herausgekommene Roman „Doktor Wassers Rezept“, den Ulrich Rüdenauer für Sie gelesen hat. Beitrag In einem sind sich Schauspieler und Schriftsteller ähnlich: Sie können, ohne dafür in der Klapsmühle oder jahrelang auf der Analytiker-Couch zu landen, einfach zwischen verschiedenen Identitäten wechseln; sie dürfen sich ungestraft so tief in andere Menschen hineinversetzen und eine Zeit lang deren Rolle annehmen, dass sie mit ihnen zu verschmelzen scheinen. Sie sind empathiebegabte Wesen, Gaukler, Hochstapler. Das Fantastische am Beruf des Schauspielers oder Schriftstellers ist es, nicht immerzu der immer gleiche Darsteller seiner selbst sein zu müssen. Hier sind wir schon mitten drin im Werk von Lars Gustafsson. Und in seinem Buch „Doktor Wassers Rezept“. Der Held in diesem neuen und letzten Roman Gustafssons besucht einmal, es sind die 1950er, den Jahrmarkt in Västerås – Lars Gustafssons Geburtsort übrigens. Der Vater Stig Andersson nimmt seinen Jungen Kent dorthin mit und überlässt ihn den Attraktionen, während er selbst sich zu einem Schäferstündchen mit der Geliebten zurückzieht. Was sein Sohn da in den fahrenden Varietés sieht, ist auf außerordentliche Weise faszinierend: Kent versinkt in einem „Meer von Sensationen und Erlebnissen“; Hypnotiseure und schwere Jungs zeigen ihre Kunststücke, und der so langsam in die Pubertät hineinstolpernde Junge erfährt auch seine ersten erotischen Aufwallungen. Identifizieren kann sich der Heranwachsende mit dem „Ausbrecherkönig“, einem Mann, der sich von keinen Ketten und keinen Fesseln halten lässt. Diese Atmosphäre des Jahrmarkts, die Kunst des Schwindelns und jene unbändige Kraft, die zur Freiheit drängt – das beeindruckt den Jungen nachhaltig. Viele Jahre später wird Kent die „Idee eines eigenen freien Willens“ ganz unwiderstehlich finden. Der ziemlich intelligente Lehrling einer Reifenwerkstatt stößt eines Tages in einem Gebüsch auf das Opfer eines Motorradunfalls, halb verwest bereits. Ohne groß darüber nachzudenken, nimmt er dessen Papiere in seinen Besitz – und wenig später die fremde Identität an. Aus Kent Andersson wird Kurth W. Wasser, aus der DDR nach Schweden geflohen, ein angehender Arzt. Mit großer Raffinesse und Leichtigkeit erzählt Gustafsson nun diese Hochstapler- und Doppelgängergeschichte: wie aus einem armen Gesellen aus der schwedischen Provinz ein berühmter Schlafforscher wird, dessen amouröse Eroberungen mindestens so tollkühn erscheinen wie seine Errungenschaften auf dem Feld der Wissenschaft. Die neue Rolle erscheint ihm in kürzester Zeit ganz selbstverständlich, nicht nur eine Professorin (und Bettgefährtin) unterstützt ihn auf seinem Weg nach oben, er schafft es immer wieder, auf wohlwollende und unbedarfte Helfershelfer zu treffen. Der sich selbst Promovierende macht die verblüffende Beobachtung, dass seine Umwelt zumeist ziemlich blauäugig ist. Der Betrüger kommt mit Klugheit und strategischer Zurückhaltung an sein Ziel. Ganz leicht sei es, Leute dazu zu bringen, Lügen zu akzeptieren. Man müsse nicht einmal alles selbst erfinden, sie helfen einem bereitwillig auf die Sprünge. Von wem er die Kunst des Betrugs wohl erlernt habe, fragt sich der angesehene Mann eines Tages. Vom Vater, der gerne Räuberpistolen erzählte? Oder von den großen Künstlern, von ihren Tricks mit Tiefe und Oberfläche, Licht und Schatten? Die Künstler scheinen tatsächlich die größten Gaukler zu sein; und nicht umsonst hat der Hochstapler als Alter ego des Künstlers immer wieder glänzende Auftritte in der Literatur. Bei Lars Gustafsson ist die Schelmenfigur eine Spiegelgestalt, ein Porträt des Schriftstellers als ein sich fortwährend neu Erfindender: Gustafssons Bücher kreisen ja gerne um die Frage, wie tief und weit der Abgrund zwischen Lüge und Wahrheit denn eigentlich sei – und ob sich nicht ziemlich leicht, wenn auch mit einem gewissen Kitzel, zwischen den verschiedenen Seiten hin- und herspringen ließe. Doktor Wassers Rezept besteht unter anderem darin, die Widersprüche im Leben produktiv zu machen. Und mit der Figur, die ihre Fesseln abwirft, eins zu werden. Das geht soweit, dass Wasser mit großer moralischer Empörung bei der Aufdeckung eines falschen Psychiaters mitwirkt. Am Ende – Gustafsson erzählt uns diese Geschichte in sprunghaften, kunstvoll miteinander verwobenen Anekdoten und Episoden – wird es einsam um den verehrten Klinikleiter im Ruhestand. Aber von Reue kann bei ihm keine Rede sein. „Ich bin ein Gewinner“, so lautet der erste Satz dieses Romans. Das bleibt so bis zum Schluss. Und dieses Buch zu lesen, ist ebenfalls ein Gewinn. Bernd Cailloux: "Surabaya Gold" Von Zoe Beck Sechs Haschischgeschichten und einige Pappfilter zum Ausschneiden, dazwischen kleine Miniaturen, Schlaglichter auf ebenfalls Cannabis-getränkte Zusammenhänge, und schließlich noch eine Nachbemerkung zur Lage des Haschischkonsums: Das ist das schöne, schmale Buch „Surabaya Gold“ von Bernd Cailloux. Wir begegnen darin Menschen, die mit Haschisch, Piece, Gras, Shit, Cannabis … also mit diesem rauchbaren Zeugs in Berührung kommen und damit auf unterschiedliche Weise glücklich werden. Die beiden Rentner zum Beispiel, die sich in der Reha kennenlernen und gemeinsam auf der wenig frequentierten Parkbank in den Sonnenuntergang kiffen, oder die Freunde aus Schulzeiten, die an den Zollbeamten Kiloweise Gras vorbeischmuggeln und anschließend den Rausch ihres Lebens feiern. Die katzenverrückte Kifferin, die nach der Zwangsräumung der ehelichen Villa ihre wahre Bestimmung im Leben und in Mecklenburg-Vorpommern findet – Katzen und Kiffen bleiben Bestandteil ihres Alltags. Sogar der ehemalige Offizier der Handelsmarine - er selbst hält nichts von der Kifferei und findet das Verhalten seiner dem Rauchwerk ausgesprochen zugewandten Ehefrau sowie ihrer jungen Kifferfreunde seltsam bis lästig – selbst dieser dem Drogenkonsum wenig geneigte Mann sitzt am Ende glücklich und zufrieden in seiner Gefängniszelle, in die ihn der nagende Wunsch geführt hat, seine Frau nachhaltig zu beeindrucken. Für einige von Caillouxs Figuren geht es nicht ganz so gut aus, auch sie landen wie der Offizier im Gefängnis, aber erstens sind sie damit nicht glücklich und zweitens war es, wenn man genau hinschaut, nicht die Kifferei, die sie dorthin gebracht hat, sondern schlicht die Geldgier. Anders gesagt: Caillouxs Haschischgeschichten haben im Anhang nicht umsonst die Pappfilter zum Ausschneiden. Augenzwinkern und, wie es im Klappentext heißt, sanfte Satire hin oder her, der Autor sagt damit natürlich deutlich, wie er zum Haschischkonsum steht und schlägt den Bogen von den frühen Sechzigern bis heute. Besonders die erste Geschichte, „Charly 1962“, bezaubert durch das Eintauchen in das Lebensgefühl von vier Jugendlichen, die in der Provinz aufwachsen, die Beatles entdecken, große Träume haben und vom Kreiswehrersatzamt auseinandergerissen werden – aber zwei halten eine Brieffreundschaft zwischen Kaserne und großer Seefahrt, wodurch das exotische Rauchwerk aus Ostasien bald auch im Harz Einzug hält. Cailloux schreibt, wie man es von ihm kennt, ohne Verklärung, ohne Romantik, ohne Kitsch, dafür mit feinem Humor und schöner Klarheit; ihm reichen wenige Attribute, um eine ganze Zeit auferstehen zu lassen und die Protagonisten zu charakterisieren. Immer und überall schwebt ein 68er-Gefühl wie eine Rauchwolke durch die Erzählungen, und auch wenn sich dieses Gefühl über die Jahrzehnte verändert hat, sogar bürgerlicher geworden ist (das zeigt sich schön in der Erzählung „Soul zu dritt“), bleibt der Geruch von Subversivität und Revolte nicht nur in den Gardinen hängen. In „Ein Mann des Übergangs“ wird erzählt, wie der Handel mit Haschisch nach und nach organisierter und professionalisierter wurde, ein schönes Stück Zeitgeschichte am Beispiel eines jungen Dealers. Den Rahmen der Erzählung liefern die schon genannten Rentner in der Reha, die anschließend nicht nur im Angedenken an die guten alten Zeiten gemeinsam einen durchziehen werden. Bernd Cailloux liefert noch eine Nachbemerkung mit, in der er faktisch untermauert das Verbot von Haschisch kritisiert, dann aber fast schon die möglicherweise eines Tages bevorstehende Legalisierung des Haschischkonsums bedauert: Er verweist auf die Kommerzialisierung am Beispiel des US-Bundesstaats Colorado, und er entwirft ein dröges, lustfeindliches deutsches Szenario mit streng blickenden Apothekern und viel Papierkram zur Genehmigung einer gepflegten Tüte. „Surabaya Gold“ erscheint zum richtigen Zeitpunkt. Jetzt im April findet die Sonderkonferenz zur Drogenpolitik, die United Nations General Assembly Session on Drugs in New York statt, und erst vor kurzem plädierte der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, für eine Aufgabe der bisherigen globalen Drogenpolitik, obwohl er selbst noch vor fast zwanzig Jahren eine drogenfreie Welt anstrebte. Auch der britische Journalist Johann Hari legt in seinem unlängst erschienenen umfangreichen Werk „Drogen – die Geschichte eines langen Krieges“ noch einmal schlüssig dar, was im Grunde allgemein bekannt ist: Das Drogenverbot hilft nur der organisierten Kriminalität und hält kaum jemanden ernsthaft vom Konsum ab. Es ist die staatliche Einmischung, die Bernd Cailloux kritisiert, sowohl was das Verbot von Haschisch angeht, als auch was die Legalisierung bringen könnte. Er schreibt: „Reglementierungen aber widersprechen dem Geist der Droge. Haschisch hat seine Riten und damit eine ganz eigene, unberechenbare Aura. Ginge sie verloren, wird sich die törnende Kundschaft an die Zeiten erinnern, als der Deal noch ruckzuck im Privaten, gar Freundschaftlichen ablief – staatsfern und mit dem alten Thrill des Illegalen, dem beflügelnden Gefühl einer trotz Verbot konspirativ begangenen Tat.“ Drogengegner werden darin kaum ein Problem sehen. Aber Cailloux fragt sich, wo da noch die einstigen Ideale von „Piece for Peace“ sind, wo der Aussteigergedanke bleibt, wo das Gefühl, Ruhe in dieses Leben zu bringen? Ruhe, das soll hier festgehalten werden, bringen die kleinen Kiffergeschichten samt der kleinen Miniaturen auf jeden Fall und im besten Sinne. Es ist eine wunderbar entspannende Lektüre mit lustvollen, aber zarten Seitenhieben und sprachlicher Eleganz. Und ob man sich die Pappfilter am Ende zurechtschneidet oder nicht, kann jeder selbst entscheiden. Lucas Kummer: "Die Verwerfung. Eine Geschichte aus dem Dreißigjährigen Krieg" Von Silke Merten Radikal negative Bücher sind selten. Aus einem einfachen Grund: sie verkaufen sich schlecht. Wer liest schon gern abends nach der Arbeit darüber, was für eine Bestie der Mensch sein kann, wenn er ums Überleben kämpft! Insofern ist es realistisch vorherzusagen, dass Lukas Kummers Graphic Novel „Die Verwerfung“ kein Bestseller wird, obwohl sie es verdient hätte. (Anders als „im Westen nichts Neues“, die Ausnahme unter den radikal negativen Büchern.) Sie spielt in einer Epoche, die in der deutschen Literatur fast schon ein blinder Fleck ist: im Dreißigjährigen Krieg. Wahrhaftig eine Verwerfung in der europäischen Geschichte, eine Zeit geprägt von Hunger, Pest und vor allem Gewalt. Allein in Deutschland kostete sie an die Hälfte aller Menschenleben. Plünderungen und Mord oder die Angst vor beidem gehörten zum Alltag einer ganzen Generation. Zu ihr gehören die Geschwister Johanna und Jakob, die zwei Hauptfiguren in Lukas Kummers Graphic Novel. Mitten im Winter kämpfen sie sich irgendwo im Rheinland durch den Schnee gen Westen. Sie sind desertiert – die pubertierende Johanna weiß, was ihr als Frau in dieser Zeit blüht und gibt sich deswegen als Harald aus. Den kleinen Bruder will sie als Schreiber in einer neuen Truppe unterbringen. Auf ihrem Weg sehen sie Galgenbäume voller Erhängter, essen Maden und Gras, stehlen, was immer ihnen die Reise erleichtert. Sie misstrauen jedem, sogar einander, Zuneigung blitzt allenfalls nachts in stillen Momenten auf. Schließlich werden Johanna und Jakob von Soldaten in einer Scheune überfallen. Die erhoffte Rettung bleibt aus. Lukas Kummer lässt das Schicksal der Geschwister offen. Er macht sie nicht einmal zu Sympathieträgern. Auch da bleibt er radikal: der sensible Jakob macht sich mitschuldig am Tod eines fahrenden Händlers. Seine Schwester ist so verroht, dass sie für eine verhungernde Frau nur Spott übrig hat: Zitatsprecherin Da werden sie mal ein bisschen von der Soldateska drangsaliert und schon verliert sie ihren ganzen Mut. Anstatt sich aufzurappeln und weiterzumachen, setzt sie sich lieber in den Schnee und will sterben. Das ist doch erbärmlich, oder? Schwach ist das. Harter Stoff. Hinzu kommt, dass Lukas Kummers Bilder Gewalt und Leichen wohl dosiert, aber in aller Deutlichkeit zeigen. Und doch, wer als Leserin und Leser dranbleibt, wird mit der Entdeckung eines großen Talents für Wort und Bild belohnt. In beidem beschränkt sich Lukas Kummer aufs Allernötigste. In den Bildern: ein Weißton, ein Grauton und natürlich schwarz. Die Winterlandschaft leer, nur wenn es dramaturgisch nötig ist, mit wenigen Strichen oder groben Flächen angedeutet. Die Gesichter so simpel umrissen wie in der Ikonenmalerei und trotzdem ausdrucksstark in Qual, Misstrauen oder Raserei. Die Lakonie der Zeichnungen trifft die der Sprache: hier sitzt jedes Wort. Johanna hält in inneren Monologen die Etappen der Reise fest, knapp und hart und ohne jedes Gefühl. Zitatsprecherin Die Rinnen sind übervoll mit den Pest- und Hungertoten. Keines der Häuser an der Straße ist unversehrt. Auf dem ganzen Landstrich ist kein Lebender mehr zu sehen. Hier zu wohnen ist längst einem jeden zu mühselig geworden. Um das Grauen um sich herum auf Distanz zu halten, kappen die Geschwister sprachlich sogar den Bezug zur eigenen Familie: ihre toten Eltern bezeichnen sie als „den Vater“ und „die Mutter“, einander als „die Schwester“ und „den Bruder“. Wie Lukas Kummer die Stilmittel des Mediums Comic aufs Äußerste verknappt und ineinander verzahnt, zeigt: hier versteht jemand sein Handwerk. Und nur durch diese extreme Sparsamkeit wird das Bohren in der historischen Wunde Dreißigjähriger Krieg überhaupt erträglich. „Die Verwerfung“ ist eine Zumutung. Aber Kunst muss manchmal wehtun. Alessandro Baricco: "Mr. Gwyn" Von Christiana Coletti Was geschieht, wenn ein anerkannter, vom Publikum geschätzter Schriftsteller von heute auf morgen die Entscheidung trifft, keine Bücher mehr zu schreiben? Genau dieser Frage ist der gefeierte, in Italien aber auch umstrittene Autor Alessandro Baricco in seinem neuen Roman „Mr. Gwyn“ nachgegangen. „Tout commence par une interruption“ – dieses Zitat von Paul Valéry stellt Baricco seinem Buch, das soeben auf Deutsch erschienen ist, voran. Doch der Grund, warum der Protagonist, ein englischer Schriftsteller namens Jasper Gwyn, auf seinen Beruf verzichten möchte, wird zunächst verschwiegen. Die wenigen Auskünfte über ihn bleiben lakonisch, entbehren aber nicht eine gewisse Komik im Detail. So verfasst er einen Artikel für die renommierte Zeitung „The Guardian“, in dem er genau zweiundfünfzig Dinge aufzählt, die er nicht mehr zu tun beabsichtigt: Nummer eins, Artikel für den Guardian zu schreiben. Nummer einunddreißig, sich mit der Hand am Kinn in nachdenklicher Pose fotografieren zu lassen. Nummer zweiundfünfzig, überhaupt noch Bücher zu schreiben. So streng seine selbst auferlegten Verhaltensregeln wirken, so absurd sind die Verrichtungen in seinem neuen Alltag als Nicht-MehrSchriftsteller. Unter anderem wird von Mr. Gwyns häufigen Besuchen in einem Waschsalon berichtet, wo er stundenlang und regungslos verweilt. Ohne über sein neues Leben nachzudenken, gibt er sich der wiederentdeckten Ruhe eines unendlichen Samstagnachmittags hin, fern von der Bühne und dem Stress der Konkurrenz im Literaturbetrieb. Aufgrund regelrechter Entzugserscheinungen muss Jasper Gwyn allerdings bald feststellen, dass er den Akt des Schreibens vermisst, was er sich nur ungern eingesteht. Er sucht einen Ersatz in kleinen Alltagstätigkeiten, die die Akribie des Schreibens auf sinnlose Weise nachahmen. Bis er eines Tages auf eine Idee kommt. Jasper Gwyn erfindet einen neuen Beruf: Er möchte Kopist werden. Was als Kopist zu arbeiten bedeutet, begreift er in einer Kunstgalerie, in die er zufällig geraten ist. Er will ein Kopist sein, der Porträts schreibt. Ohne zu wissen, wie ein geschriebenes Porträt überhaupt aussehen kann, beginnt er detailversessen den Raum zu gestalten, in dem er sich mit seinem ersten Modell konfrontieren möchte. So lässt er einen Soundtrack komponieren, der in „wundersamer Langsamkeit“ dahinströmt, und stellt sich die Frage des perfekten Lichts für sein Atelier. Das erfordert einen Besuch bei einem außergewöhnlichen Handwerker. Der Meister von Camden Town versteht sich darauf, Glühbirnen von Hand herzustellen und dabei die Brenndauer und die exakten Nuancen des Lichts mit einer beinahe verrückten Genauigkeit zu bestimmen. Die Erfindung dieses sonderbaren Handwerkers ist einer der Höhepunkte in Bariccos neuem Roman. Für sein Atelier bestellt Mr. Gwyn 18 Glühbirnen mit einem „kindlichen“ Licht, die nach 32 Tagen nach und nach erlöschen und damit das Ende jeder Sitzung einleiten. Baricco lässt das eigenartige Experiment seines „Kopisten“ mit der jungen Rebecca beginnen. Sie steht ihm – so die Vereinbarung – vier Stunden am Tag Modell, nackt und ohne zu sprechen. Während dieses Prozesses der Annäherung – ein Spiel des Beobachtens und Beobachtet-werden – verschwindet der „Kopist“ zeitweilig im unscharfen Hintergrund des Raums, schreibt etwas auf Zettel, die er an minutiös ausgewählten Stellen auf dem Boden befestigt. Am 36. Tag erlischt die letzte Glühbirne. Der Kopist trennt sich von seinem Modell und schreibt fünf Tage lang am siebenseitigen Porträt von Rebecca. Der Leser war Zeuge einer Begegnung von ungeahnter Intensität. Aber vom Inhalt des Porträts erfährt er nichts. Weitere Menschen sitzen Mr. Gwyn Modell. Neue Porträts entstehen, die für die Porträtierten bestimmt sind, dem Leser aber vorenthalten bleiben. Dieses „Versteckspiel“ zieht uns im zweiten Teil des Buches in Bann. Kaum hatten wir das Gefühl, dem seltsamen „Kopisten“ nahe zu kommen, schon entschwindet er wieder. In den letzten Kapiteln des Buches, die aus der Perspektive Rebeccas in einem schnelleren Tempo erzählt werden, packt der Autor die Aufmerksamkeit seiner Leser, bis das Geheimnis der Porträts von Mr. Gwyn gelöst ist. Bariccos Roman, der mit dem abrupten Ende einer Schriftstellerkarriere beginnt, entpuppt sich als Reflexion über das Schreiben selbst und deutet auf das heimliche Ziel seines Kopisten Mr. Gwyn hin: Die Geschichte, die sich in einem Menschen verbirgt, zu erkennen und zu erzählen. Und so die verschiedenen Facetten seines Ichs zu spiegeln – im Ton, in einer Landschaft, in allen Figuren, die in der Geschichte vorkommen, in der der „Porträtierte“ sich wiederfindet. „Es geht darum, diese Menschen zurück nach Hause zu bringen“ – sagt Mr. Gwyn zu seiner ungewöhnlichen Porträtkunst. Die deutsche Ausgabe des Buches (in der Übersetzung von Annette Kopetzki) enthält auch eine weitere, in Italien separat erschienene, Publikation von Baricco. Fast wie eine Perle ist sie am Ende hinzugefügt worden: „Dreimal im Morgengrauen“ umfasst drei kurze Erzählungen, die mit dem Roman verwoben sind. Darin ist eines der geheimnisvollen Porträts des Mr. Gwyn verborgen – seins.
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