Jean Zieglers Appell Die Diktatur des Finanzkapitals ist zu stürzen, fordert der Schweizer. Seite 3 Die Zukunft der Linken Eine Partei auf der Suche nach dem Erfolg von Morgen – und dem Übermorgen. Seite 5 Fans bangen um die geplante dritte Staffel der Serie. Seite 15 Grafik: nd Foto: imago/EntertainmentPictures Mittwoch, 8. April 2015 70. Jahrgang/Nr. 81 STANDPUNKT Katja Herzberg zur vorauseilenden Kritik an Tsipras’ Moskau-Besuch UNTEN LINKS Im Schatten der österlichen Besinnlichkeit ist ein Gedenktag vernachlässigt worden: der Tag des Handys. Viele Menschen wissen ja schon gar nicht mehr, dass das Handy früher einmal ein technisches Gerät war und kein Körperteil. Heutzutage beginnt bei Jüngeren sofort eine Art Phantomschmerz, wenn der Hautkontakt zum Handy auch nur für Sekunden abreißt. Psychologen nennen dieses innige Verhältnis eine Erweiterung unseres Selbst. Das Handy hat schon viele Instrumente überflüssig gemacht – Uhr, Kalender, Telegramm, Notizbuch, Fotoapparat, Plattenspieler, Taschenlampe, Autoatlas – und zahlreiche Kulturtechniken getötet: merken, denken, zurechtfinden, Gespräche führen ... Bald werden Gerichte nicht mehr Geldoder Haftstrafen verhängen, sondern Handyentzug und SMSSperren. Denn das trifft den Neuzeitmenschen (Homo telefonicus) in seinem Kern. »Mobilo cogito sum«, sagen moderne Philosophen: Ich mache am Handy rum, also bin ich! wh ISSN 0323-3375 Bundesausgabe 1,80 € www.neues-deutschland.de Westen beargwöhnt Tsipras’ Putin-Visite Antigriechisches Allerlei Die vielbeschworenen europäischen Partner machen Griechenland Vorschriften. Wieder einmal. Der griechische Premier halte seinen Antrittsbesuch in Russland »zur Unzeit« ab, meint die CSU. Alexis Tsipras solle bloß nicht auf die Idee kommen, »Extra-Abmachungen« mit Wladimir Putin auszuhandeln, ließ die EU-Kommission verlauten. Selten hat ein Staatsbesuch noch vor seinem Beginn derart viele Wortmeldungen in eine Richtung hervorgerufen: Griechenland dürfe die Linie der EU-Politik nicht verlassen. Dabei gibt es die eine Stimme, mit der die Europäische Union sprechen könnte, derzeit gar nicht. Die mahnenden Worte und gen Griechenland gerichteten Zeigefinger machen vor allem eines deutlich: Ob in Brüssel oder Berlin – alle Beteiligten wollen nur das Maximum an Einfluss auf den sogenannten Konsens haben – sei es zu den Sanktionen gegen Russland oder in der Frage der Lösung der Wirtschafts- und sozialen Krise in Europa –, nicht aber eine echte Verständigung und Einigung erreichen und vertreten. Dies wäre dringend geboten statt in ein antigriechisches Allerlei zu verfallen. Denn weder die Menschen in Hellas, die unter der Krise leiden, noch die in der Ukraine, die den jüngsten Krieg auf europäischem Boden erleben müssen, interessiert, wer seinen Profithunger am besten stillt. Das hat nicht zuletzt die Wahl in Griechenland im Januar gezeigt. Dabei hatten sich die Menschen für eine Politik des Mit- und nicht des Gegeneinanders entschieden. 25 Jahre Twin Peaks Athen fordert 278,7 Milliarden Euro an Reparationen / Parlament untersucht auch die Schuldenkrise Vor der Reise von Alexis Tsipras nach Moskau und weiteren Beratungen der Eurogruppe über Athens Reformpläne wurden die Debatten um Kriegs- und Krisenschulden neu angefacht. Von Katja Herzberg Alexis Tsipras kurz nach Amtsantritt am Nationalen Widerstandsdenkmal in Athen Foto: dpa/Alexandros Beltes Sie teilen ein historisches Erbe, aber in der politischen Großwetterlage auch das Außenseiterdasein. Wenn der griechische Regierungschef an diesem Mittwoch den Präsidenten Russlands in Moskau besucht, schrillen vor allem bei konservativen westlichen Politikern die Alarmglocken. Zumal Alexis Tsipras schon vor Tagen ankündigte, den Beziehungen beider Länder zu einem Frühling verhelfen zu wollen. Dass Tsipras geschichtsbewusst ist, bewies schon seine erste Amtshandlung – er legte Blumen am Nationalen Denkmal für den Widerstand gegen Nazi-Deutschland nieder. Russen und Griechen seien in dieser Sache enge Verbündete. »Unsere Nationen hatten brüderliche Beziehungen geschmiedet, als sie in einem kritischen historischen Augenblick einen gemeinsamen Kampf führten«, sagte Tsipras der russischen Nachrichtenagentur TASS. Da scheint es nur konsequent, dass die SYRIZA-geführte Regierung Forderungen nach Entschädigungen für Kriegsverbrechen und -schäden sowie Ansprüche aus einer NSZwangsanleihe gegenüber Deutschland aufrechterhält. Vize-Finanzminister Dimitris Mardas bezifferte die Forderungen auf 278,7 Milliarden Euro. Die Bundesregierung betrachtet die Entschädigungsfrage hingegen als erledigt. Fürsprache erhielt die griechische Regierung am Dienstag von den Grünen. »Ich finde, wir müssen uns mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen, überall, auch in Griechenland«, erklärte Fraktionschef Anton Hofreiter. Allerdings sei die Frage der Repa- Jarmuk – zerschossene Geisterstadt 16 000 Menschen im Palästinenserlager im Süden von Damaskus brauchen humanitäre Hilfe Islamistische Milizen griffen auch am Dienstag das Damaszener Palästinenserlager Jarmuk an. Weitere Kämpfe gab es auch im Süden der Arabischen Halbinsel. Von Roland Etzel Umschlossen von anderen Vierteln der Hauptstadt liegt im Süden von Damaskus das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk, das längst kein Lager mehr ist, sondern ein veritabler Stadtteil mit 150 000 Einwohnern. Zumindest war er das. Die meisten Bewohner haben im Verlaufe des nun fast vier Jahre andauernden Krieges in Syrien die Flucht ergriffen. Im März sollen nur noch 18 000 Personen die großenteils zu Ruinen zerschossene palästinensische Entität bewohnt haben. Gegenüber einem deutschen Fernsehteam äußerte ein Palästinenser in Jarmuk am Wochenende, dass die Menschen aus Angst vor Raketenangriffen nur noch Erdgeschossräume bewohnen würden. Auf alles, was sich oben bewege, werde von den Angreifern geschossen. Die Angreifer – das sind Milizionäre von Gruppierungen des Islamischen Staats (IS), die seit einigen Tagen das Lager abgeriegelt haben. Wer noch konnte, ist geflüchtet, etwa 2000 Menschen seit Sonntag. Seit dem Beginn der Kämpfe mit den Dschihadisten vor einer Woche gelangten keinerlei Hilfslieferungen mehr in das Viertel. Der UN-Sicherheitsrat hat Zugang für humanitäre Hilfe zu den Eingeschlossenen gefordert. Dies teilte laut AFP die Vorsitzende des Gremiums, die jordanische UNBotschafterin Dina Kawar, am »Die Situation der Menschen in Jarmuk ist verzweifelter denn je.« Pierre Krähenbühl, UNO Montag in New York mit. Der Sicherheitsrat sei besorgt über die Lage der Menschen und bereit, »notwendige Hilfe bereitzustellen«. Ein Vertreter des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge schilderte dem Rat die dramatische Lage in dem Camp. Die Situation der Menschen dort sei »verzweifelter denn je«, heißt es in dem Bericht des Schweizer Generalkommissars Pierre Krä- henbühl. Es ist allerdings kaum zu erwarten, dass sich die IS-Kommandeure um den Appell scheren. Die Handschrift von IS tragen angeblich auch Bombenattentate, die am Dienstag in Gaza verübt wurden. Nahe einer Polizeiwache und einer Moschee explodierten Sprengsätze. »Eine kleine handgefertigte Bombe ist nahe der Al-Takwa-Moschee neben einem Stützpunkt der Sicherheitskräfte detoniert; Menschen kamen nicht zu Schaden«, sagte ein Sprecher des Hamas-Innenministeriums. Um so verlustreicher waren die kriegerischen Handlungen, die auch am Dienstag um die südjemenitische Metropole Aden tobten. Huthi-Milizen aus dem Norden versuchen dort, die verbliebenen Verbände des nach SaudiArabien geflohenen Präsidenten Abd Rabbo Mansur Hadi aufzureiben. Bei den Kämpfen sind in der Nacht zum Dienstag mindestens 18 Menschen getötet worden. In Aden lieferten sich Kämpfer der Huthi-Miliz und Anhänger Hadis heftige Gefechte. Die Weltgesundheitsorganisation erklärte am Dienstag laut AFP, seit dem 19. März seien mindestens 540 Menschen getötet und 1700 verletzt worden. Das UN-Kinderhilfswerk ergänzte dazu, seit Beginn der Luftangriffe der arabischen Militärallianz unter Führung Saudi-Arabiens am 26. März seien mindestens 74 Kinder getötet worden. Einwohnern zufolge beschießen inzwischen auch Kriegsschiffe SaudiArabiens Stellungen der Rebellen in Aden. Wenigstens konnte am Dienstag erstmals ein Flugzeug mit medizinischem Personal des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa landen, nachdem der dortige Flughafen aufgrund saudischer Bombenangriffe seit einer Woche nicht mehr hatte angeflogen werden können. Seite 7 } Lesen Sie heute im Ratgeber nd-Telefonforum zum Mietrecht: Experten geben Tipps Tipps zur Einkommensteuererklärung 2014 Reiserecht-Streitfälle rationen von den Verhandlungen über weitere Kredite der Gläubiger zu trennen. Seine Finanzprobleme soll Athen nun nicht mit Hilfe Russlands lösen, so der Tenor vor allem aus Brüssel. Der Moskau-Besuch von Tsipras komme »zur Unzeit«, sagte der Chef der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber, gegenüber dem »Tagesspiegel«. Die EU-Kommission warnte Tsipras vor »Extra-Abmachungen« mit dem Kreml. »Die Lösung der Krise betrifft die europäische Familie und muss im Rahmen der EU gefunden werden«, sagte dagegen der griechische Regierungssprecher Gabriel Sakellaridis. Athen wolle aber seine Beziehungen mit Russland und China und anderen Ländern vertiefen. Dies könne sowohl Griechenland als auch diesen Ländern helfen. Auch Finanzminister Yanis Varoufakis äußerte, »die Lösung der Krise betrifft die europäische Familie und muss im Rahmen der EU gefunden werden«. Nach Ansicht des Politologen Konstantinos Filis hat Präsident Putin kein Interesse an einem Bruch Griechenlands mit der EU. Nur wenn Athen in der Eurozone bleibe, hätte Russland »einen Verbündeten bei dem Versuch, seine Beziehungen zur EU wieder zu normalisieren. Ein prorussisches Griechenland außerhalb der EU und ohne Einfluss nutzt ihm gar nichts«, so Filis im nd-Interview. Während am Mittwoch und Donnerstag die Finanzstaatssekretäre der Euro-Länder weiter über Griechenlands Reformpläne in Brüssel beraten, beschäftigt sich künftig ein Untersuchungsausschuss im Athener Parlament mit der Aufarbeitung der Schuldenkrise. Das Parlament billigte am Dienstag einen entsprechenden Vorschlag der SYRIZA-ANELRegierung. Mit ihm soll »Licht« auf die Ereignisse von 2009 bis heute geworfen werden. Mit Agenturen Seite 2 Aufruf: Verfassungsschutz sofort auflösen Gedenken an Opfer des NSU Berlin. Künstler, Autoren, Gewerkschafter und Wissenschaftler haben die sofortige Auflösung des Verfassungsschutzes gefordert. In einem Aufruf wird zudem der sofortige Rücktritt des hessischen CDU-Ministerpräsidenten Volker Bouffier und eine »lückenlose Aufdeckung der Kontakte zwischen VS und NSUUmfeld« verlangt. In dem Aufruf heißt es, »die NSU-Affäre ist einer der größten politischen Skandale der deutschen Nachkriegsgeschichte«. Deutliche Hinweise auf Verbindungen zwischen Inlandsgeheimdienst und dem rechtsterroristischen Netzwerk gebe es in Hessen. Dort war am 6. April 2006 ein Mitarbeiter des Landesamtes im Internetcafé anwesend, als dessen Besitzer Halit Yozgat vermutlich von NSUTerroristen ermordet wurde. Der damalige Innenminister Bouffier habe nach dem Auffliegen des NSU »alles dafür getan, um eine Aufklärung zu unterbinden«, heißt es. Zum neunten Todestag von Halit Yozgat gab es am Montag eine Gedenkveranstaltung in Kassel. Am Dienstag fand in Berlin vor der Hessischen Landesvertretung eine Kundgebung statt. Bereits am Samstag hatte es in Dortmund ein Gedenken an Mehmet Kubasik gegeben. Er war am 4. April 2006 vermutlich gleichfalls vom NSU umgebracht worden. Auf der Kundgebung wurde Unmut laut, dass zwar immer mehr Verfassungsschutzverstrickungen bekannt werden, die Dienste dennoch aufgerüstet werden. nd Seiten 4 und 6
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