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Dürftige Aufklärung
Lepra ist heilbar
In finsteren Zeiten
Opfer von sexuellem Missbrauch kritisieren
Reaktionen der Kirchen. Seite 8
Eine Brasilianerin aus Berlin klärt über die
Krankheit auf, die sie einst hatte. Seite 10
Erich Kästners »Fabian« an der
Berliner Schaubühne. Seite 15
Grafik: fotolia/WoGi
Foto: Gianmarco Bresadola
Dienstag, 27. Januar 2015
STANDPUNKT
Neue Wurzeln
Wolfgang Hübner über das
Gedenken für die Holocaust-Opfer
23 Prozent der Deutschen glauben, Juden hätten zu viel Einfluss
auf der Welt. Das ist erschreckend, auch wenn die Zahl deutlich niedriger liegt als bei vergleichbaren Befragungen vor 20
Jahren. Denn was soll das bedeuten, wenn nicht plumpen Antisemitismus – bei jedem Vierten.
Diese Zahl, veröffentlicht am
Vorabend des Auschwitz-Gedenkens, ruft in Erinnerung, welche
Ressentiments mal offen und aggressiv, mal intellektuell aufgemotzt bei einem erheblichen Teil
der Bevölkerung nach wie vor
verwurzelt sind. Oder neue Wurzeln schlagen.
Gegen Vorurteile hilft vor allem Wissen. Auch konkretes Wissen darüber, was in der Nazizeit
geschah. Deshalb darf man schon
fragen, warum diesmal am Holocaust-Gedenktag im Bundestag
kein Zeitzeuge spricht, sondern
Joachim Gauck. Die Reden der
letzten Jahre – ob nun von Daniil
Granin, Inge Deutschkron, Marcel
Reich-Ranicki oder anderen –
waren durch die Kraft der Erinnerung berührende Appelle an
die Menschlichkeit und gegen das
Vergessen. Berichte von einer Intensität, die nur aus Leiden und
Erleben entstehen kann.
Solange es noch Verfolgte des
Faschismus gibt, die erzählen
können, sollten sie an solchen
Tagen den Vorrang haben. Gerade in Zeiten, in denen sich Fremdenfeindlichkeit austobt und –
wie kürzlich vom Leipziger Pegida-Ableger Legida – »Schluss mit
dem Kriegsschuldkult« gefordert
wird. Nein, einen Schlussstrich
unter die NS-Geschichte, wie ihn
laut der zitierten Umfrage mehr
als jeder Zweite befürwortet,
kann es nicht geben.
UNTEN LINKS
Wissen Sie, wo genau bei Sigmar
Gabriel der Privatmann anfängt
und wo der Politiker aufhört?
Verschiedene Versuche, durch eine genaue Vermessung des SPDVorsitzenden einer Antwort etwas
näher zu kommen, sind dieser
Tage gescheitert. Sozialdemokraten sind bereits ganz verwirrt:
Gabriel hatte zunächst erklärt, als
Privatmann mit Pegida-Mitläufern
gesprochen zu haben. Generalsekretärin Yasmin Fahimi sagte nun,
der SPD-Chef sei nicht als Privatmann in Dresden, sondern privat
zufällig in der Gegend gewesen.
Ob es der Politikerteil von Gabriel
war, der sich vom Privatmann
losmachte, oder ob es umgekehrt
ablief, konnte auch durch eine
Befragung der Pegidilen nicht ermittelt werden, die Gabriel – den
Privatmann oder den Politiker? –
in Dresden leibhaftig antrafen.
Darauf angesprochen, riefen die
besorgten Bürger sogleich: Der
Politiker Gabriel gehört nicht zum
Privatmann! Was der Zugehörigkeitsexperte Stanislaw Tillich dazu meint, wurde am Montag leider nicht bekannt. tos
ISSN 0323-3375
70. Jahrgang/Nr. 22
Bundesausgabe 1,70 €
www.neues-deutschland.de
Kobane meldet
Sieg über Miliz der
Dschihadisten
Kein Vergessen
Vor 70 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit
Belagerung syrischer Stadt beendet
Foto: Reuters/Kacper Pempel
Berlin. Als Nikolai Politanow am 27. Januar
1945 das Vernichtungslager Auschwitz betrat, regnete es schmutzig-schwarze Asche.
Die Asche färbte die Schneeflecken dunkel.
Es war die Asche von Menschen. NS-Schergen hatten bis zuletzt die Mordfabrik laufen
lassen. »Hier regierte nur der Tod«, erinnerte sich Politanow, Frontdolmetscher der
Roten Armee später. »Es roch danach.«
70 Jahre später sagen in einer Umfrage
81 Prozent der Deutschen, sie wollten die
Geschichte des Holocaust »hinter sich lassen«. Für einen regelrechten Schlussstrich
sprachen sich 58 Prozent aus. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mahnte am Montag, die
Erinnerung an die deutschen Verbrechen
wachzuhalten – sie verjährten nicht, sagte sie
bei einer Veranstaltung des Internationalen
Auschwitz Komitees in Berlin. Der Präsident
des Zentralrats der Juden, Josef Schuster,
bezeichnete die Erinnerung an Auschwitz als
bleibende Verpflichtung für die gesamte
deutsche Gesellschaft.
An diesem Dienstag wird bundesweit an
die sechs Millionen von den NS-Schergen
und ihren Mitläufern und Kombattanten ermordeten Juden sowie an getötete Sinti und
Roma, Antifaschisten, Linke, Homosexuelle,
Kirchenleute, Behinderte, Zwangsarbeiter
erinnert. Das Gedenken gelte allen Men-
schen, »die von Deutschland im Nationalsozialismus verfolgt, misshandelt, gequält und
ermordet wurden«, so Merkel.
Die Spitze der Linkspartei erklärte aus Anlass des 70. Jahrestages der Befreiung des
Vernichtungslagers durch die Rote Armee:
»Auschwitz ist der Ort der Erinnerung und
des Gedenkens an den Holocaust und diese
Erinnerung darf nie verblassen. Das Gedenken gehört in unseren Alltag, muss Teil unseres Alltags sein und bleiben. Auschwitz ist
auch Auftrag, jeder Form von Faschismus,
Rassismus oder Antisemitismus, jeder Form
von Hass und Ausgrenzung konsequent entgegenzutreten.« nd
Seiten 2, 3, 16 und 19
Griechenlands neue Regierung steht
Tsipras als Ministerpräsident vereidigt / Bundesregierung pocht auf Einhaltung der Sparauflagen
So schnell Alexis Tsipras die Arbeitsfähigkeit seiner Regierung
auf den Weg brachte, in der Frage des Schuldenschnitts für Griechenland zeigt sich Europa stur.
Von Katja Herzberg
Stärke durch Geschwindigkeit,
könnte Tag eins nach dem Wahlsieg von SYRIZA betitelt werden.
Nur einen Tag nach dem Erfolg
der Linkspartei bei der Parlamentswahl in Griechenland ist
deren Vorsitzender Alexis Tsipras
als Ministerpräsident vereidigt
worden. »Ich werde immer Griechenland und den Interessen des
griechischen Volkes dienen«,
schwor Tsipras vor Präsident Karolos Papoulias. Der SYRIZA-Chef
hatte sich zuvor mit der nationalistischen Partei der Unabhängigen Griechen (ANEL) auf eine Koalition geeinigt.
Die Koalition war nötig, weil
SYRIZA nach dem amtlichen Endergebnis mit 36,3 Prozent der
Stimmen und 149 Sitzen die absolute Mehrheit von 151 Mandaten verpasste. Zusammen mit
ANEL, die 4,7 Prozent erhielt und
damit 13 Mandate, hat SYRIZA
nun eine komfortable Mehrheit.
Die Partnerwahl sorgte jedoch für
Kritik, da ANEL in Fragen wie Umgang mit Migranten und außenpolitischen Themen der alten politischen Heimat von Parteichef
Panos Kammenos, der konservativen und abgewählten Nea Dimokratia, wesentlich näher steht.
Die internationalen Reaktionen
auf den SYRIZA-Sieg fielen recht
verhalten aus. Der italienische EUStaatssekretär Sandro Gozi sagte,
nach der Wahl gebe es nun »neue
Möglichkeiten«, um Wachstum,
Investitionen und Arbeitsplätze zu
schaffen. Frankreichs Präsident
François Hollande gratulierte Tsipras und äußerte die Hoffnung auf
eine weiterhin »enge Zusammenarbeit« mit Athen. Der britische
Regierungschef David Cameron
warnte dagegen, das Wahlergeb-
nis werde »die wirtschaftliche Ungewissheit in Europa vergrößern«.
Die Bundesregierung bot Tsipras
die Zusammenarbeit an. Bestehende Verpflichtungen müssten
»Ich werde immer
Griechenland und
den Interessen des
griechischen Volkes
dienen.«
Alexis Tsipras
jedoch eingehalten werden. Das
Bundesfinanzministerium erklärte, es lehne einen Schuldenschnitt
weiter ab, eine Verlängerung des
derzeit laufenden zweiten Hilfsprogramms sei aber »sicher eine
Möglichkeit«.
Jenes läuft Ende Februar aus.
Ohne weitere Kredite droht Griechenland die Zahlungsunfähigkeit. Darüber diskutierten auch
die Euro-Finanzminister in Brüssel. Der Vorsitzende, Jeroen Dijsselbloem, kündigte an, mit Athen
zu sprechen. Einen Schuldenschnitt lehnte aber auch er ab. Er
glaube nicht, dass es unter den 19
Euro-Ländern »viel Unterstützung« dafür gebe, »Schulden nach
nominalem Wert zu streichen«.
Im Raum stehen nun bereits
weitere Lockerungen der Kreditkonditionen – etwa über längere
Laufzeiten bis zur Rückzahlung.
Schon jetzt werden die Zinsen in
weiten Teilen bis 2023 gestundet,
und mit der Rückzahlung muss
Griechenland erst im kommenden
Jahrzehnt beginnen, für die gesamte Tilgung hat es 30 Jahre Zeit.
Am Devisenmarkt haben Anleger gelassen auf den Wahlausgang reagiert. Der Kurs des Euro
war zwar am Montagmorgen kurz
auf den tiefsten Stand seit 2003
gerutscht, am Nachmittag kostete
ein Euro aber 1,1285 Dollar und
damit rund einen Cent mehr als
am Freitagabend. Seiten 4 und 5
Kobane. Nach monatelangen Kämpfen haben kurdische Kämpfer die nordsyrische Stadt
Kobane vollständig von der IS-Terrormiliz
befreit. Damit endete am Montag nach rund
vier Monaten vorerst eine der erbittertsten
Schlachten im syrischen Krieg. Die Verbände
des Islamischen Staats (IS) erlitten eine ihrer schwersten Niederlagen seit Ausbruch des
Konflikts. Die Kurden hoffen nun, die Extremisten auch in anderen Kampfgebieten zurückdrängen zu können. Die Kurden brachten am Montag im Osten Kobanes die letzten
Viertel unter ihre Kontrolle, wie einer ihrer
Sprecher gegenüber dpa bestätigte.
Der IS hatte im September seinen Vormarsch auf die vor allem von Kurden bewohnte Stadt an der Grenze zur Türkei begonnen. IS-Kämpfer überrannten die Dörfer
im Umland und trieben Zehntausende Menschen in die Flucht. Von Kobane selbst konnten die Angreifer mehr als die Hälfte unter
Kontrolle bringen.
Mit Hilfe von Luftangriffen der USA und
ihrer arabischen Verbündeten gelang es den
syrischen Kurden, die als Verbündete der in
der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans gelten, die IS-Truppen nach und nach
zurückzudrängen. Sie erhielten dafür auch
Unterstützung von Kurden aus Irak, die
schwere Waffen heranschafften. »Dies ist ein
Sieg für alle Kurden«, sagte Kobanes Sprecher Idriss Nassan. Ihm zufolge planen die
Verteidiger jetzt eine Feier.
Der »Verteidigungsminister« von Kobane,
Ismet Hassan, erklärte, die Kurden wollten
jetzt auch das Umland zurückerobern. Dörfer im Umkreis von etwa 40 Kilometer stünden unter IS-Kontrolle. Auch dort wohnen vor
allem Kurden. »Wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, einen humanitären
Korridor zu öffnen, um Kobane zu helfen«,
sagte Hassan. dpa/nd
Kommentar Seite 4
Riexinger erinnert
Gysi an Parteilinie
Pegida-Debatte in der LINKEN
Flüchtling in Dresden verprügelt
Berlin. Auch in der LINKEN wird über den
Umgang mit Pegida diskutiert. Am Montag hat
Parteichef Bernd Riexinger Fraktionschef
Gregor Gysi aufgefordert, auf Gespräche mit
Anhängern der islamfeindlichen Bewegung zu
verzichten. »Ich würde anraten, dass die Linie der Partei hier die richtige ist für alle Führungspersönlichkeiten«, sagte er. »Es bleibt
dabei, die LINKE redet nicht mit Bewegungen, die einen rassistischen, fremdenfeindlichen Charakter haben.« Das habe der Parteivorstand am Wochenende einstimmig formuliert. Gysi hatte bereits früher angekündigt, mit Pegida-Mitläufern reden zu wollen.
Diese Haltung bekräftigte er am Montag.
Wenn Mitläufer mit ihm reden wollen, dann
lade er sie gerne ein. »Und dann müssen sie
sich allerdings aber auch was anhören.«
Unterdessen wurde am Sonntag ein Asylbewerber in Dresden von vier Männern zusammengeschlagen. Einer der Tatverdächtigen habe den Hitlergruß gezeigt und »Ausländer raus!« sowie »Deutschland den Deutschen!« gebrüllt, so die Polizei. Der Libyer
konnte vor den Angreifern flüchten.
Unter dem Motto »Offen und bunt – Dresden für alle« fand am Montagabend in der Elbestadt derweil ein Bürgerfest statt. Die Veranstaltung, bei der Auftritte von Künstlern wie
Herbert Grönemeyer und Silly geplant waren, wollte für Toleranz werben – und damit
ein Zeichen gegen die Islamgegner setzen, die
regelmäßig durch die Landeshauptstadt ziehen. Die ursprünglich ebenfalls für Montag
geplante Kundgebung von Pegida war auf
Sonntag vorgezogen worden. Gegen eine Versammlung des Pegida-Ablegers Legida am
Mittwoch in Leipzig formiert sich indes Widerstand. Das Bündnis »Leipzig nimmt Platz«
rief zum Protest auf. Agenturen/nd
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