Rede von Staatspräsident François Hollande in deutscher

Frankreich – Info
29/04/2015
Herausgeber: Französische Botschaft
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Staatspräsident Hollande zum Gedenken an
100 Jahre Völkermord an den Armeniern
Eriwan, 24. April 2015
(…) Es war mir ein Anliegen, an diesem 24. April 2015 im Namen Frankreichs in Eriwan
anwesend zu sein, um dem Völkermord an den Armeniern vor hundert Jahren zu gedenken. Ich
verneige mich vor den Opfern und möchte meinen armenischen Freunden sagen, dass wir die
Tragödie, die Ihr Volk durchgemacht hat, nie vergessen werden.
Vor 100 Jahren führte ein zerstörerischer Hass zu dem Versuch, ein Volk auszulöschen, nur
weil es armenisch war. Aus diesem Hass heraus wurden unvorstellbare Massaker begangen,
aber das eigentliche Ziel wurde nicht erreicht. Denn Sie stehen hier, Sie leben, Armenien birgt
ein außergewöhnliches Schicksal, dessen Botschaft aber allgemeiner Natur ist: Es ist die
Botschaft des Widerstands, der Anerkennung und der Hoffnung.
Wie alle Massaker begann dieser Genozid mit einer Razzia. In der Nacht vom 23. auf den 24.
April 1915 wurde in Konstantinopel die intellektuelle Elite verhaftet und gefoltert. Und dann
wurde die infernale Maschinerie der Vernichtung in Gang gesetzt: Umsiedelung, Deportationen,
Hinrichtungen, Todesmärsche, bei denen die Schwächsten einfach in der Wüste
zurückgelassen wurden, und schließlich Konzentrationslager.
Bereits am 24. Mai 1915 haben Frankreich, Großbritannien und Russland in einer
gemeinsamen Erklärung Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen die Zivilisation
angeprangert. Es war das erste Mal, dass die Worte „Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
gegen die Zivilisation“ ausgesprochen wurden; und es waren diese Worte, mit denen der
Völkermord an den Armeniern verurteilt wurde.
Vor dem Hintergrund dieser Verurteilung hat Frankreich einen Teil der Überlebenden des
Genozids aufgenommen. Beladen alleine mit ihren schrecklichen Erlebnissen kamen diese
Schiffbrüchigen in Frankreich an. Sie fanden dort, in Frankreich, eine neue Heimat und
verteidigten diese mutig vor den Angriffen der Nazis. Sie haben beim Wiederaufbau Frankreichs
nach dem Krieg mitgeholfen und trugen mit ihrem Talent weltweit zur Strahlkraft Frankreichs
bei, worüber sie aber niemals ihre Wurzeln vergaßen.
Heute in Eriwan denke ich besonders an all meine Mitbürger armenischer Herkunft: Gelehrte,
Mediziner, Unternehmer, Beamte, Arbeiter, Sportler, Künstler – sie alle stehen für Frankreich,
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genauso wie sie sie für Armenien stehen und
sie lassen unsere beiden Länder erstrahlen, so
wie Charles Aznavour, unser gemeinsamer Stolz.
Es war uns in Frankreich immer ein Anliegen, an die dramatischen Umstände zu erinnern, die
uns mit dem Schicksal der Armenier verbinden. Es gibt viele Denkmäler, die an die Massaker
erinnern. In Paris, mitten im Zentrum der Hauptstadt, wurde eine Statue des armenischen
Komponisten Komitas, der 1915 gewaltsam sein Leben verlor, zu Ehren der Opfer des
Genozids errichtet. Immer am 24. April, so auch heute Nachmittag, findet dort eine
Versammlung statt und es werden Reden gehalten. In Lyon wurde an einem der bekanntesten
Plätze der Stadt ein Denkmal mit 36 Säulen errichtet, das eine Partition von Komitas darstellt.
Wir sind uns dessen bewusst, dass mit dem Verschwinden von 1,5 Millionen Armeniern vor 100
Jahren das Wort „Genozid“ erst erfunden wurde, wenn ich so sagen darf. Es war Raphael
Lemkin, ein jüdischer Amerikaner polnischer Abstammung, der beschloss, dieses Wort –
Genozid – zu benutzen, als 1944 das monströse Ausmaß der Shoah vor den Augen einer
erschrockenen wie auch lange Zeit ungläubigen Welt zu Tage trat.
Seit 29. Januar 2001 wird durch ein Gesetz „der Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915
öffentlich als solcher anerkannt.“ Dieses Gesetz proklamiert eine feststehende Tatsache, es
nennt die seit langem von den Historikern dargelegten Fakten. Deren Arbeit ist noch nicht
beendet, und deswegen fand letzten Monat in Paris ein internationales Kolloquium zum Thema
100 Jahre Forschung am armenischen Völkermord statt. Ich möchte allen Wissenschaftlern
danken, die dieses Kolloquium initiiert und mich heute nach Eriwan begleitet haben.
Das Gesetz aus dem Jahr 2001 war ein notwendiger Akt der Wahrheit, denn nur die Wahrheit
kann den Lebenden Ruhe geben und den Toten gerecht werden. Dieses Gesetz war und ist
respektvoll, denn Klarheit klagt nicht die Gegenwart im Namen der Fehler der Vergangenheit
an. Dieses Gesetz ist konform mit den Werten der französischen Republik, denn Frankreich
steht immer an der Seite derjenigen, die sich nach Kräften für die Anerkennung ihres
unantastbaren Rechts einsetzen. Das erste Recht ist das Recht auf Erinnerung.
Frankreich kämpft gegen Negationismus, Revisionismus und das Vertuschen von Beweisen,
denn das Leugnen dessen, was in der Vergangenheit passiert ist oder auch nur so zu tun,
würde bedeuten, die Massaker zu wiederholen. Frankreich macht keinen Unterschied zwischen
Tragödien, es erkennt den Völkermord in Kambodscha und den Völkermord an den Tutsis an.
Aus diesem Grund habe ich der Offenlegung des Archivmaterials des französischen
Präsidialamtes zu Ruanda zugestimmt.
Frankreich verurteilt mit ganzer Kraft alle Massaker, die als Verbrechen gegen die
Menschlichkeit begangen wurden, egal wo sie stattfinden. Jedes Mal, wenn Christen getötet
werden, weil sie Christen sind, wenn Juden getötet werden, weil sie Juden sind, wenn Muslime
getötet werden, weil sie Muslime sind, ist Frankreich da und handelt.
Im Mittleren Osten findet derzeit eine systematische Auslöschung statt. Die Muslime sind schon
aufgrund ihrer Anzahl die ersten Opfer. Das ganze Mosaik aus unterschiedlichen Völkern und
Religionen dieser Region ist zur Zielscheibe geworden: die Christen des Orient, vor allem die
Armenier in Syrien, die Turkmenen, Kurden und die Schabak – alle sind sie heute bedroht von
Exil, Versklavung und Tod.
Das barbarische Vorgehen der Daech trifft sogar unser gemeinsames kulturelles Erbe, denn
Terroristen wollen töten, nicht nur das Hier und Jetzt, sondern auch seine Wurzeln. Das
Verschwinden der Minderheiten ist immer eine Gefahr, deswegen war es wichtig, hier in Eriwan
zu sein, um zum Schutz aller Minderheiten, insbesondere der Christen im Orient aufzurufen.
Diesen Völkern, die den Reichtum und die Vielfalt des Mittleren Ostens ausmachen, müssen wir
unsere Solidarität und unseren Schutz spenden. Und wir müssen alle demokratischen Staaten
unterstützen, die ein Zusammenleben in dieser Region möglich machen.
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Frankreich erteilt keine Lektionen, es weiß um die Last der Geschichte, und dass die
Vergangenheit unserer Nationen sowohl glorreiche als auch dunklere Zeiten kennt. Einem
Völkermord zu gedenken heißt nicht, einen Prozess zu eröffnen, es heißt, das Leid und den
Schmerz der Überlebenden und ihrer Kinder wachzurufen. Es heißt, eine Tragödie
anzuerkennen, die durch ihr Ausmaß die gesamte Menschheit erschüttert hat. Einem
Völkermord zu gedenken heißt, dafür zu kämpfen, dass die Erinnerung an diese abscheuliche
Tat verhindert, dass etwas so schreckliches wieder passieren kann.
Aus diesem Grund war das Begehen des 100. Jahrestages des Völkermords an den Armeniern
für Frankreich eine Pflicht, um damit an die vielen Opfer zu erinnern, um sich vor der Würde der
Überlebenden zu verneigen und vor allem um die Geschichte dieser Tragödie den kommenden
Generationen zu überliefern. Heute in Eriwan zu sein, heißt auch, einen Beitrag für den Frieden,
die Versöhnung und die Aufarbeitung zu leisten, denn die Erinnerung darf nicht dazu dienen, zu
spalten sondern soll einen. Der 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern ist also
dem Frieden und dem Fortschritt Armeniens, der Region und der ganzen Welt gewidmet. Der
100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern ist der Aufruf zum Frieden und zur
Versöhnung.
In der Türkei wurden bereits wichtige Worte ausgesprochen, aber andere werden noch
erwartet, damit das gemeinsame Leid zu einem gemeinsamen Schicksal werden kann. Ich
wünsche mir, dass die Grenze zwischen der Türkei und Armenien bald wieder geöffnet werden
kann, damit diese beiden Völker, die sich so nahe sind, keine entfernten Nachbarn mehr sind,
so wie es der ermordete türkische Intellektuelle Hrant Dink mit Bitterkeit feststellte. Ich denke
ebenso an die Fragen um Bergkarabach, die bis heute den Tod vieler Menschen mit sich
bringen, und ich versichere Ihnen, dass Frankreich mit seinen Partnern alles für eine friedliche
und dauerhafte Lösung tun wird.
Das ist die Botschaft von Eriwan, Frieden, ja immer Frieden, Frieden für das Gedenken an die
Opfer, Frieden für die Lebenden, Frieden für die Region, Frieden für den Nahen Osten. Die
Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern ja, ich sage die Anerkennung, die
Begehung des 100. Jahrestages, das ist ein Akt des Friedens.