Dr. Tessa Hofmann, Institut für Soziologie, Freie Universität Berlin Genozid und seine Leugnung Was ist eigentlich Völkermord? Die bisher einzige juristisch verbindliche Antwort gab der im heutigen Belarus gebürtige jüdisch-polnische Autor des UN- Völkermordübereinkommens, Raphael Lemkin. Unter dem Eindruck des osmanischen Genozids an über drei Millionen indigenen Christen versuchte er bereits 1933, im Völkerbund ein internationales Vertragswerk anzuregen, das die Vernichtung ethnischer und religiöser Gemeinschaften ahndet. Auf ihren Parteitagen 1910 und 1911 hatte die seit 1913 allein regierende Nationalistenpartei Einheit und Fortschritt unter dem Stichwort „Ottomanisierung“ die zwangsweise Assimilation der nichttürkischen Bevölkerungsmehrheit beschlossen, um den zerfallenden Feudalstaat zu stärken. Die Zersiedelung bisher geschlossener Volksgruppen sollte diesem Ziel ebenso dienen wie die sprachliche Türkisierung und die Islamisierung von Nicht-Muslimen. Allerdings traute man den beiden größten christlichen Volksgruppen – Griechen und Armeniern – keine Integrationsbereitschaft mehr zu; den Armeniern wurde besonders verübelt, dass sie auf der Durchsetzung osmanischer Reformverpflichtungen gemäß dem Berliner Vertrag (1878) bestanden. Armenier und Griechen galten spätestens seit den Balkankriegen 1912/3 als „innere Feinde“ und „Tumore“, die es durch physische Vernichtung zu entfernen galt. Der Weltkrieg bot dazu die willkommene Gelegenheit. Auf Befehl des Innenministers Mehmet Talat wurden zwei von 2,5 Millionen armenischer Bevölkerung in Wüstengebiete des heutigen Nordirak und Nordostsyrien deportiert, nachdem zuvor die wehrfähige männliche Bevölkerung massakriert worden war. Dass auch die Deportationen tödlich gemeint waren, belegen zahlreiche Details ihrer Ausführung. Als Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK Sulgenauweg 26 CH-3000 Bern 23 Telefon +41 (0)31 370 25 25 [email protected] www.sek.ch trotz Seuchen, Hungersnöten und Zwangsarbeit das Sterben nicht schnell genug ging, wurde es in den Konzentrationslagern Mesopotamiens durch weitere Massaker und der Verbrennung Zehntausender in erdölhaltigen Höhlen beschleunigt. Wie die Schweizer Schwester Beatrice Rohner in Aleppo an Hand von Hochrechnungen nachweisen konnte, starben bis zum Oktober 1916 in nur 19 Monate 1,5 Millionen Armenier – drei Fünftel der Vorkriegsbevölkerung. Als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches hat sich die 1923 gegründete Republik Türkei nie von diesen Verbrechen distanziert, geschweige denn bei den Opfern und ihren Nachfahren entschuldigt. Sie hob im Gegenteil osmanische Gerichtsurteile aus den Jahren 1919 und 1920 gegen jene politisch verantwortlichen Jungtürken auf, die wegen der „Massaker und Vernichtung der Armenier“ zum Tode verurteilt worden waren, die meisten freilich in Abwesenheit. Die Völkermörder fanden in Deutschland und anderen Staaten Zuflucht, wo einige wenige angesichts der versagenden internationalen und nationalen Justiz 1921 und 1922 von armenischen Rächern erschossen wurden. Bis heute gelten Talat und seine Mittäter in der Türkei offiziell als patriotische Märtyrer, denen zu Ehren Moscheen, Schulen, Kindergärten und Boulevards benannt sind. Auch die jüngste Ausgabe türkischer Schulgeschichtsbücher für die Klassen 9-11 vom Herbst 2014 unterstellt den Armeniern, „undankbar“ ihr Schicksal herausgefordert zu haben und bis heute die größte Bedrohung der nationalen Sicherheit darzustellen. Zugleich wird jegliche Vernichtungsabsicht bestritten. Damit aber hält die Türkei nicht nur die Wunde der Nachfahren armenischer Opfer aufgeklammert, sondern legitimiert geschichts- und innenpolitisch schwerste Verbrechen gegen die Menschheit als nachahmenswerten Patriotismus. Genozidleugnung gilt zu Recht als „zweite Tötung“ (Elie Wiesel) und letzte Etappe des ultimaten Verbrechens. 2/2
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