Gedenkrede zum Völkermord an den Armeniern

Gedenkrede zum Völkermord an den Armeniern – 24. April 2015 in
Bremen – am Gedenkstein im Nelson-Mandela-Park
Pastor Renke Brahms,
Schriftführer in der Bremischen Evangelischen Kirche
Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD)
Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Linnert,
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Schwestern und Brüder aus den verschiedenen Kirchen
und Konfessionen,
besonders unsere armenischen Schwestern und Brüder!
Erinnern heißt, die Dinge und Menschen dem Vergessen zu entreißen.
Schon die Erinnerung gibt Menschen ihre Würde und den Dingen ihren
Wert. Gedenken aber heißt wohl noch mehr als Erinnern. Gedenken
neigt das Haupt in Respekt vor den Opfern, macht sich die eigene
Verstrickung in Geschehnisse beschämt bewusst und will aus der
Vergangenheit lernen für die Gegenwart und die Zukunft.
Wir gedenken heute der unzähligen Opfer der Katastrophe - der
Vertreibung, Deportation, Verschleppung und Ermordung der
armenischen Bevölkerung, die mit der Verhaftung von Menschen der in
Konstantinopel am 24. April 1915 begann – und deren Ausmaß nicht
anders als Völkermord genannt werden kann.
Wohl wahr: die Grausamkeiten und die perfiden Planungen zur
Vernichtung einer religiösen Bevölkerungsgruppe können kaum in einem
Wort zusammengefasst oder gefasst werden. Deshalb geht es nicht
allein um den Begriff des Völkermords. Auf den Begriff lässt sich die
Grausamkeit kaum bringen. Es sind die Bilder, die Texte, die Briefe, die
Geschichten, die Menschen erzählt haben, die uns nahekommen und
uns zutiefst berühren und erschüttern.
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Aber der Begriff spricht aus, was Recht ist und was die Internationale
Gemeinschaft eben als Völkermord bezeichnet. Er hilft nicht unmittelbar
der Trauer und dem Entsetzen, er hilft aber der Wahrheit und den
betroffenen Menschen zum Recht. Und so hoffentlich auch der
Aufarbeitung und der Versöhnung nach allem Unrecht.
Heute vor 100 Jahren begann ein Leidensweg der armenischen
christlichen Bevölkerung, der in seinen Dimensionen für damalige
Verhältnisse unvorstellbar schien. Leider ist dieser Leidensweg eher ein
Vorbote für ähnliche und in den Dimensionen noch unvorstellbarere
Grausamkeiten im 20. Jahrhundert gewesen. Schon vorher hatte es
Progrome gegen die Armenier gegeben. Was sich aber 1915 im
Schatten des 1. Weltkriegs abspielte, war eine neue Stufe der
Eskalation. Aus sogenannten „Umsiedlungsplänen“ wurden
Todesmärsche in die Wüste und der Tod in den Lagern. Und als dieses
zur Vernichtung der Menschen nicht ausreichte, wurden sie erschossen.
Wie viele müssen aus ihren Familien bis heute von Verwandten und
Angehörigen erzählen, die damals gestorben sind. Die Folgen sind über
Generationen zu spüren – so wie bei den vielen Kriegen und
Katastrophen.
Wenn wir in Deutschland der Opfer gedenken, können wir das nicht tun,
ohne die Verstrickung Deutschlands beschämt mitzudenken. Aus
kriegspolitischen Gründen und Rücksichten auf den Verbündeten wurde
geschwiegen und nicht gehandelt. Gewusst und auch richtig
eingeschätzt haben es die Verantwortlichen vor Ort und im Deutschland
der ersten Kriegsjahre. Einige haben deutlich darauf hingewiesen –
wurden aber nicht gehört. Und andere vor Ort machten sich zumindest
mitschuldig durch Planung und Beihilfe bei den Transporten.
100 Jahre ist das her. Beschämend, dass diese Verstrickung auch bei
uns – sicher im Schatten der unfassbaren Geschehnisse des Holocaust
– immer noch nicht entsprechend aufgearbeitet wurden – trotz mancher
Veröffentlichungen, die es dankenswerterweise jetzt gibt.
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Wir können wohl an diesem Tag nicht der Opfer gedenken, ohne auch
der heutigen Opfer von Verfolgung, Vertreibung, Flucht und Ermordung
zu gedenken. Wieder werden Christen verfolgt in der Region: im Irak und
in Syrien - aber auch Jeziden und andere Minderheiten, wie die
jeweiligen Minderheiten der Muslime.
Die Geschichte scheint sich heute fast umzudrehen: Wurde einst Europa
weitgehend monokulturell und monoreligiös gemacht und gewöhnt sich
heute langsam an eine multikulturelle und multireligiöse Wirklichkeit – so
scheint nun die betroffene Region im Nahen Osten monokulturell und
monoreligiöse gemacht zu werden.
Das aber ist ein Verlust! Und wir wissen wie schwer es ist, wieder oder
neu zu einer Vielfalt der Kulturen und Religionen zu kommen. Auch in
Europa zehren wir von dem Reichtum der verschiedenen Kulturen und
Religionen. Und die Regionen im Nahen Osten und im Vorderen Orient
waren und sind geprägt von Hochkulturen, unglaublichen Schätzen der
Religionen und einer friedlichen und bereichernden Koexistenz. So ist es
ein ungeheurer Verlust, was dort geschieht.
Was ist zu lernen aus dieser Geschichte und aus dem Gedenken?
Als Vertreter einer Religionsgemeinschaft – einer christlichen Kirche –
will ich mich zu allererst an die eigene Nase fassen oder auch an die
Brust klopfen. Unsere Anstrengung muss dem Miteinander der
Religionen gelten. Die Begegnung der Religionen und der interreligiöse
Dialog gehört zu den bedeutsamen Verpflichtungen der Geschichte. Und
dazu gehört eine klare Absage und ein engagiertes Handeln gegen
jeden Rassismus, jede Verunglimpfung anderer Religionen und ein
offener und öffnender Dialog mit denen, die Angst vor den Anderen
haben.
Als Deutsche haben wir unseren eigenen Anteil am Genozid an den
Armeniern zu reflektieren und aufzuarbeiten. Als Deutsche und Europäer
haben wir die Verpflichtung, gegenüber den vor Verfolgung und
Ermordung flüchtenden Menschen offen zu sein, ihnen Asyl und
Herberge zu geben – so wie es viele in willkommener und
willkommnender Weise tun.
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Als Erdenbürgerinnen und Erdenbürger der einen Erde haben nach
Wegen zu suchen, die Ursachen der vielen Konflikte zu erkennen und zu
bekämpfen – für Gerechtigkeit zu sorgen in einer Welt, in der arm und
reich immer weiter auseinanderdriftet und die Konflikte und Kriege
zuzunehmen scheinen.
Mein Gebet und meine Hoffnung heute ist, dass es uns im Gedenken an
die Opfer des Völkermords in Armenien und angesichts der heutigen
Verfolgten gelingt, den Mut und die Kraft zu behalten, der Wahrheit ins
Auge zu schauen, damalige und heutige Entwicklungen aufarbeiten und
somit einen Beitrag zur Versöhnung und zum Frieden zu leisten.
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