Einst und heute und immer wieder: Völkermord Von Gisa Bauer Am Vorabend des 100jährigen Jahrestages des Genozids an den Armeniern, Assyrern, Aramäern und Griechen im Osmanischen Reich sprach Bundespräsident Joachim Gauck während des Gedenkgottesdienstes am 23. April 2015 im Berliner Dom davon, dass „das Schicksal der Armenier […] beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde [steht], von der das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist.“ „In dem Moment, als Gauck das entscheidende Wort ‚Völkermord‘ ausgesprochen hat, ging um mich herum ein Seufzen der Erleichterung und ein Raunen durch die Menge“, berichtete die Vertreterin des Konfessionskundlichen Instituts auf der Veranstaltung, Luise Baur. Gaucks Wortwahl markiert einen denkwürdigen Moment in der deutschen Geschichte des Umgangs mit der Ermordung von geschätzten 1,5 Millionen Christen vor 100 Jahren. Nicht, weil Gauck der erste deutsche Politiker war, der den Begriff gebrauchte, sondern weil er zu diesem Zeitpunkt an dieser prominenten Stelle fiel. Im Zuge der Diskussion um den Antrag der Koalition zu der geplanten Debatte im Bundestag am 24. April 2015 zeigte sich im Frühjahr dieses Jahres deutlich die zögerliche Haltung der Bundesregierung, den Genozid als „Völkermord“ zu bezeichnen. In Berlin gebe „offenbar jedes Ministerium die heiße Kartoffel an den Nächsten weiter[…], weil niemand etwas damit zu tun haben will“, hatte am 28. März der Bundesvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen Cem Özdemir in einem taz-Interview konstatiert. Dieses Lavieren entsprach der jahrzehntelangen Attitüde der deutschen Regierung, „den Genozid an den Armeniern nicht expressis verbis Völkermord nennen zu müssen, das historische Ereignis aber auch nicht zu leugnen“.1 Weniger die Verdrängung der deutschen aktiven und passiven Mittäterschaft bei den Massakern 1915 war dafür der Grund, sondern schlichte Staatsräson: Man wollte weder die zahlenmäßig große türkischstämmige Community in Deutschland noch die Türkei selbst als NATO-Partner und potentielles EU-Mitglied brüskieren, denn bis heute lehnt die Türkei ab, von einem Völkermord an den Armeniern zu sprechen. Im Gegensatz zu dem Beschluss des Bundestages vom 15. Juni 2005, in dem die Rede von „Völkermord“ dezidiert vermieden wurde, herrschte seit Frühjahr 2015 eine ambivalente Stimmung im politischen Lager. Die Regierungsspitze war sich darüber einig, den Kurs beizubehalten und den Begriff „Völkermord“ nicht zu verwenden. Aber verschiedene Politiker/innen sowohl der SPD als auch der CDU, und die Fraktionen der Grünen und der Linken mahnten an, das Unrecht endlich beim Namen zu nennen. Nachdem Gauck am Abend des 23. April das Wort „Völkermord“ bei der Gedenkveranstaltung in den Raum gestellt hatte, konnten bei der Plenardebatte des Bundestags einen Tag später, am 24. April, selbst Angela Merkel und FrankWalter Steinmeier nicht mehr hinter den Begriff zurück. In dem allgemeinen Vermeidungschor der letzten Jahre bildete die evangelische Kirche einen gewissen Kontrapunkt. So verabschie- dete am 24. April 2005 die EKD, nahezu parallel zu dem anderslautenden Bundestagsbeschluss, die Erklärung „Erinnern um der Versöhnung willen. Erklärung des Rates der EKD zum Völkermord an den Armeniern“ und beschwor darin die Anerkennung und Verurteilung des „ersten Völkermordes des 20. Jahrhunderts“. Auch im Gedenkjahr 2015 waren die Vorreiter der Entwicklung vor allem die Kirchen. Auf katholischer Seite überraschte Papst Franziskus einmal mehr die Weltöffentlichkeit, als er bei einer Messe für die Katholiken des armenischen Ritus am 12. April 2015 im Petersdom die Vertreibung der Christen im Osmanischen Reich als Völkermord bezeichnete. Es war zwar nicht die erste Äußerung dieser Art von Franziskus, aber zwei Wochen vor den Gedenkfeierlichkeiten schlug die offensive Haltung des Papstes hohe Wellen, nicht zuletzt in Deutschland. Weniger öffentlichkeitswirksam, aber beharrlich waren verschiedene Verlautbarungen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Deutschland. In einer Erklärung Anfang Oktober 2014 hatte die Mitgliederversammlung der ACK die Gemeinden zu Gottesdiensten und Gebeten am 24. April 2015 aufgerufen. Im Februar 2015 gab die ACK dann eine Arbeitshilfe mit „Texten und Gebeten zum Gedenken an 100 Jahre Völkermord an den Armeniern“ heraus. Eine bemerkenswerte Geste der Schuldaufarbeitung an der Schnittmenge von Kirche und Politik leistete Anfang April 2015 Philip Kirill Prinz von Preußen – ein evangelischer Pfarrer – als er Namens seines Ururgroßvaters Kaiser Wilhelm II. das armenische Volk um Vergebung für die Mitschuld seines Vorfahren „an dem schrecklichen, grausamen Völkermord“ bat. Der endgültige Anstoß für klare Stellungnahmen seitens der evangelischen Kirchenleitungen war allerdings erst die Äußerung des Papstes am 12. April. Zwei Tage später, am 14. April, veröffentlichte der epd ein mehrseitiges Interview mit der Präses der Synode der EKD, Irmgard Schwaetzer, zum „Genozid“ an den armenischen Christen. Am selben Tag gaben die Kirchenleitungen der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck eine gemeinsame Pressemitteilung heraus, in der u.a. die Erwartung an die Bundesregierung ausgesprochen wurde, „sich bei ihren Verhandlungen mit der Türkei für eine Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern ein[zusetzen]“.2 Auch die westfälische Präses Annette Kurschus nahm in einer Pressemitteilung vom 23. April zu der Thematik Stellung. Es wäre den evangelischen Kirchenleitungen sehr zu wünschen gewesen, ihre Haltungen schon eher deutlich zu kommunizieren und nicht, wie es im Nachgang den Anschein hat, sich erst nach dem Fanfarenstoß des Oberhauptes der römisch-katholischen Kirche aus der Deckung zu wagen. Trotzdem dürften diese Stellungnahmen vor dem eigentlichen Gedenktag in Deutschland durchaus eine progressive Rolle bei den Erwägungen der Politikvertreter und bei der Durchsetzung des Begriffs „Völkermord“ gespielt haben. Aber was sollte darüber hinaus mit diesen Verlautbarungen bewirkt werden? Inhaltlich ging es um das Bekenntnis der deutschen Mitschuld am Genozid sowie um Kritik an der Türkei hinsichtlich der Aufarbeitung der Verfolgung der Armenier und anderer Christen im Osmanischen Reich. Beide Schwerpunkte haben für sich genommen ihre Relevanz, aber beide bieten keinen neuen oder innovativen Gehalt. Die Formulierung „Völkermord“ aus dem Mund der höchsten Repräsentanten 1 Ronald Scholz, Gedenken an das Leid der Armenier, MEZW 78/2015, 110f., hier: 111. 2 „Völkermord an Armeniern endlich aufarbeiten.“ Kirchenpräsident Jung und Bischof Hein kritisieren Umgang mit Genozid und regen Gemeinden zum Gedenken an. Gemeinsame Pressemitteilung EKHN-EKKW vom 14.4.2015. LEITARTIKEL // 069 Deutschlands und der evangelischen Kirche ist, wie eingangs geschildert, zweifelsohne eine starkes Signal der Solidarität für die armenischen Gemeinden in Deutschland und die armenische Community im Ausland. Sie erhöht möglicherweise – in der Hinsicht darf man durchaus skeptisch sein – den Druck in bestimmten Kreisen in der Türkei, die Aufarbeitung ernster anzugehen. Aber eine gravierende Veränderung in wie auch immer gearteter Hinsicht geht mit der Begriffsfindung nicht einher. Denn bemerkenswerterweise wird in den evangelischen Verlautbarungen der Bogen vom Armeniergenozid zu den gegenwärtigen Völkermorden an Christen, v.a. im Nahen Osten durch den IS, nicht geschlagen. Einen logischen Zusammenhang des einen mit dem anderen konstatiert eher die römisch-katholische Kirche. In seiner Predigt bei der Festveranstaltung am 23. April im Berliner Dom fragte der Erzbischof von München und Freising Reinhard Kardinal Marx, ob wir uns nicht momentan an den Christen im Nahen Osten ähnlich schuldig machten wie das Deutsche Reich, das aus politischen Gründen nichts gegen den Genozid unternahm. Das ist die zentrale Frage, die sich unmittelbar aus der Beschäftigung mit dem Völkermord und der deutschen Verstrickung darin ergibt und deutsche Christen bewegen muss. Das Räsonieren über die Frage, ob Massaker und Gräueltaten an 1,5 Millionen Menschen ein Völkermord waren oder nicht ist nach 100 Jahren in Deutschland zu einem Abschluss gekommen. Auch wenn die Dauer bis zu der Begriffsfindung einige Zweifel an der Großartigkeit dieses Durchbruchs aufkommen lässt, ist die klare Benennung des Unrechts nicht wertlos. Aber fatal wäre es, dabei stehenzubleiben und keine Lehren aus den Geschehnissen von 1915 zu ziehen. Die Hilferufe von Christen, die in den vom IS besetzten oder bedrohten Gebieten leben, sind unzweideutig. Vor wenigen Wochen fragte Youhanna Boutros Moshe, syrisch-katholischer Erzbischof von Mossul, in einem FAZ-Interview fassungslos: „Die Menschen im Westen kämpfen für den Erhalt vom Aussterben bedrohter Tierarten. Wie können sie dann tatenlos zusehen, wenn ein ganzes Volk vertrieben wird? Wie können sie zusehen, wie es langsam, aber stetig aus der Menschheitsgeschichte verschwindet?“3 Welche Dimensionen die Entwicklungen im Irak inzwischen angenommen haben, zeigte das Interview insofern, als dass Moshe erläuterte, die Christen nähmen von ihrer jahrhundertelangen pazifistischen Haltung Abstand und setzten sich für eine Bewaffnung der Bevölkerung zur Selbstverteidigung ein. Moshes Fazit war die Bitte um eine Befreiung der Gebiete mit Waffengewalt durch die internationale Gemeinschaft. Dieselbe Bitte hatte der chaldäisch-katholische Erzbischof von Erbil Bashar Warda im Februar 2015 vor Mitgliedern des britischen Ober- und Unterhauses in London geäußert. Bereits im Oktober 2014 wandte sich der Leiter des Assyrian Patriotic Movement, Ashur Giwargis, mit der Bitte um Errichtung einer Schutzzone für assyrische Christen im Nordirak an den Saarländischen Landtag. In einem Vortrag an der Evangelischen und Katholischen Fachrichtung der Universität des Saarlandes am 17. Oktober 2014 führte Giwargis aus, dass die Aufnahme von irakischen und syrischen Flüchtlingen keine Lösung sei, sondern zu einem „killing the policy“ in den Herkunftsländern führe. Im Februar 2015 beschrieb Bischof Timotheus al-Shamani aus dem Kloster Mar Mattar bei Mossul in einem Interview, er bezweifle, dass sich angesichts der gegenwärtigen Lage die endgültige Elimination des Christentums im Nahen Osten noch aufhalten lasse.4 Im März warf der syrisch-orthodoxe Patriarchalvikar für Palästina, Israel und Jordanien Bischof Severios Malke Mourad dem Westen die Fokussierung auf die eigenen Interessen vor, und resümierte resigniert: Der „zweite Genozid“ im Nahen Osten, nach dem an den Armeniern, „interessiert dabei nicht“.5 Das sind nur einige Beispiele für das Flehen 070 // LEITARTIKEL der betroffenen Opfer um aktive Hilfe und Schutz von außen, die an keiner Stelle erfolgt. Niemand bezweifelt, dass die politische Lage im Nahen Osten vielschichtig ist. Welche militärischen Gruppen unterstützt werden können und welche nicht, ist eine komplizierte Frage. Aber der Umstand, dass Kriegssituationen durchaus komplex sind, zeigt nicht zuletzt die politische Situation von 1915. Allerdings wird der aktuelle Stand der Dinge auf keiner Ebene verbessert durch eine defensive abwartende Haltung oder den Rückzug auf einen prinzipiellen Pazifismus, der nur in Bezug auf die eigene Situation legitim ist, aber nicht in Bezug auf die von Anderen, die um Hilfe bitten. Denn das Argument, die Dinge würden sich in den betreffenden Ländern intern von selbst regeln, greift schon von daher nicht, weil die Vorgeschichte der aktuellen Ereignisse zu einem Großteil eben nicht von innen, sondern von außen beeinflusst wurde und der gesamte Westen zu tief in diese Vorgeschichte involviert ist – abgesehen davon, welch ein hoher Preis für „interne Regelungen“ bezahlt wird. Die syrisch-orthodoxe Ordensschwester und Gründerin einer Stiftung für missbrauchte Mädchen im Nahen Osten, Hatune Dogan, äußerte jüngst in einem Interview bezüglich der häufig anzutreffenden Diskrepanz von schönen Worten und keinen Taten den Satz: „Blabla sagen kann jeder.“6 Er beschreibt bestens die häufig anzutreffende Haltung in Deutschland und bei dem Großteil der evangelischen Kirchen gegenüber der Katastrophe, die sich im Nahen Osten abspielt. Aber auch Nichts-Tun ist eine Haltung, die Konsequenzen nach sich zieht – darüber müssen wir uns sehr klar sein. Wir haben die Wahl, uns, wie Dietrich Bonhoeffer es immer wieder formulierte, vor dem Hintergrund unseres Glaubens und angesichts der Qual unserer Mitmenschen die Hände schmutzig zu machen, Verantwortung zu übernehmen und uns damit unweigerlich in Schuld zu verstricken – für die wir, nebenbei bemerkt, weder Ruhm noch Ehre erfahren werden. Oder wir sitzen das Ganze aus. Sicher wird es in 100 Jahren in Deutschland Debatten darüber geben, inwiefern man sich Anfang des 21. Jahrhunderts mitschuldig an dem Völkermord an Christen gemacht hat. Dann kann man auch in demütiger Selbstverleugnung Hunderttausenden von Ermordeten ein paar Schuldbekenntnisse und Betroffenheitsbekundungen als Totenkränze auf die nicht genau zu identifizierenden Massengräber legen. Deren Nachfahren werden vielleicht dankbar für die Benennung des Unrechts sein als das, was es war, nämlich ein Völkermord. Aber dass wir uns hier und heute weggeduckt haben und die Augen verschließen vor dem, was unseren Brüdern und Schwestern am Leib Christi angetan wird, kann damit nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Prof. Dr. Gisa Bauer ist Ostkirchenreferentin des Konfessionskundlichen Instituts und vertritt im Sommersemester 2014 den Lehrstuhl Kirchengeschichte I an der Ev.-Theol. Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. 3 Vorwurf gegen den Westen. Morgen wird der IS auch bei euch sein, FAZ online vom 9.7.2015, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/der-irakischeerzbischof-petros-mouche-ueber-den-is-13689957.html 4 Simon Kaminski, IS-Terror. Ein Bischof bezweifelt, dass die Bedrohung der Christen im Irak einmal enden wird, Augsburger Allgemeine vom 3.2.2015, http://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Ein-Bischof-bezweifelt-dass-dieBedrohung-der-Christen-im-Irak-einmal-enden-wird-id32879592.html 5 Bischof: „Zweiter Genozid“ in Syrien interessiert niemanden, KNA vom 20.3.2015, 14f.; „Ob Christen sterben oder nicht, interessiert nicht.“ Syrisch orthodoxer Bischof zur schwierigen Lage seiner Kirche, KNA vom 20.3.2015, 32f. 6 Interview: Die Ordensschwester Hatune Dogan betreut missbrauchte Mädchen im Nahen Osten, Der Sonntag. Wochenzeitung für die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens vom 7.6.2015, 12. MD 0 4 / 1 5
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