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Melange in
Schwarz-Grün
Führende Grüne wollen
sich nicht auf ein Mittelinks-Bündnis festlegen,
weil sie glauben, dass
sie auch gut zur CDU
passen. Ein schwarzgrünes Crossover ist
jedenfalls seit geraumer
Zeit im Gange. Seite 21
Sonnabend/Sonntag, 25./26. Juni 2016
71. Jahrgang/Nr. 147
Bundesausgabe 2,30 €
www.neues-deutschland.de
STANDPUNKT
USA: Rückschlag
für Einwanderer
Das Ende zum
Anfang machen
Oberstes Gericht blockiert Dekret
des Präsidenten gegen Abschiebung
Katja Herzberg über Folgen der
Entscheidung für den Brexit
Mit der demokratischen Mehrheitsentscheidung der BritInnen,
die Europäische Union zu verlassen, ist ein »Point of no return«
erreicht – der Brexit ist mehr als
ein Einschnitt. Die europäische
Integration ist in ihren Grundfesten erschüttert: Bisher kannte sie
nur eine Richtung, egal welche
gravierenden Folgen die ständige
Erweiterung und das Zurückbleiben der politischen hinter der
ökonomischen Vertiefung der Zusammenarbeit auch hatte. Das
britische Referendum ist der Anfang vom Ende dieser Union.
Was ihr folgen soll, diese Frage
muss die Politik nun beantworten:
Soll Europa ein Friedensprojekt
sein, eine demokratische und soziale Gemeinschaft, die sich um
den Wohlstand aller bemüht,
Grundrechte wahrt und über ihre
Grenzen hinausdenkt? Oder soll
ein für viele kryptisches Geflecht
ferner Institutionen und widerspenstiger nationaler Regierungen
weiter nach neoliberaler Logik die
Geschicke Europas lenken?
Großbritannien hat sich entschieden, keinen der beiden Wege
länger mitzugehen. Die Zeit wird
zeigen, wohin das Referendum
das – noch Vereinigte – Königreich
führt. Es war von jeher Vorbild für
alle auf Sonderregelungen pochenden Staaten. Der Brexit kann
daher für alle, die die europäische
Integration voranbringen wollen,
eine Chance sein – die Schotten,
Nordiren, Waliser und Engländer
unter ihnen eingeschlossen. Doch
vor allem jene Amtsträger, die
sich so gern als Verfechter der europäischen Zusammenarbeit gerieren, müssen den Weg für eine
andere EU freimachen.
Briten
servieren der
EU die Krise
51,9 Prozent für den Ausstieg –
Europa nach Brexit-Mehrheit
auf der Suche nach sich selbst –
Jubel bei den Rechtsaußen
ISSN 0323-3375
Washington. Mit seinem Versuch, Millionen
von Einwanderern ohne Aufenthaltstitel in
den USA vor Abschiebung zu schützen, hat
Präsident Barack Obama einen schweren
Rückschlag erlitten. Das Oberste Gericht in
Washington hielt am Donnerstag (Ortszeit)
die Entscheidungen untergeordneter Instanzen aufrecht. Diese blockieren die Umsetzung des Präsidenten-Dekrets.
Der Supreme Court gelangte zwar zu keiner Entscheidung: Das Votum im Richterkollegium ergab ein 4:4-Patt. Damit bleiben
jedoch die Voten der untergeordneten Gerichte gültig, gegen die die Obama-Regierung vorgegangen war. Der Präsident zeigte
sich enttäuscht. Dieser Ausgang des Verfahrens sei »herzzerreißend für die Millionen von
Einwanderern, die hier ein neues Leben begründet haben«. Sein Dekret sah vor, Eltern
von Kindern mit US-Staatsbürgerschaft oder
legalem Aufenthaltsstatus unter bestimmten
Voraussetzungen eine befristete Arbeits- und
Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen. AFP/nd
Kommentar Seite 2
Missionierung wird
schärfer verfolgt
Russisches Parlament beschloss
Paket von Anti-Terror-Gesetzen
UNTEN LINKS
Alle reden über den Brexit, wir
reden übers Wetter. Das durchgeschwitzte Hemd ist schließlich
näher als der Rockzipfel, an dem
die Briten hingen, bis sie nun endlich losließen. Wie ist eigentlich
das Wetter in Großbritannien?
Bei nicht einmal 20 Grad, auf die
es das Königreich derzeit bringt,
kann man wohl von unterkühlten
Verhältnissen sprechen. Passt,
aber das britische Wetter kann
sowieso nicht länger als Bestandteil des europäischen gelten.
Ganz abgesehen von Erdbeben
und Tsunamis, mit denen die Briten nun vermutlich häufiger
rechnen müssen. Ein letzter Gruß
nach London könnten die Merkblätter des Helmholtz-Zentrums
in Potsdam sein. Wie verhalte ich
mich bei Erdbeben? Zufluchtsorte
rechtzeitig erkunden, Taschenlampen und Kofferradios mit Ersatzbatterien gut erreichbar lagern, und wenn nach dem Beben
der Tsunami kommt, höher gelegene Orte aufsuchen. Haben sie
nicht in London? Da werden sie
wohl bald wieder bei uns anklopfen, diese Briten. uka
Fotos: fotolia/Africa Studio
Berlin. Es war eine lange Nacht und an
dem englischen Frühstück, das ihr folgte,
werden Großbritannien und Europa noch
eine Weile zu kauen haben: Eine Mehrheit von 51,9 Prozent der Briten hat sich
für den Austritt des Landes aus der EU
entschieden.
Zwar hatte es am späten Donnerstagabend zunächst nach einem knappen Vorsprung des Lagers der Befürworter einer
EU-Mitgliedschaft ausgesehen, doch die
Prognosen lagen deutlich daneben. Spätestens um 4 Uhr am Freitag war klar: Es
gibt Brexit am Morgen.
Mit Großbritannien büßt die EU eine
der globalen Hauptstädte des Finanzkapitalismus, die zweitgrößte Ökonomie des
Kontinents und das nach der Bevölkerung drittgrößte EU-Land ein. In den europäischen Hauptstädten schwankten die
Reaktionen denn auch zwischen blankem
Entsetzen und demonstrativer Gelassenheit. In dem einen drückte sich die politische Unsicherheit nach dem Brexit-Votum aus; das andere sollte vor allem »die
Märkte« beruhigen.
Großbritanniens Premier David Cameron kündigte am Freitag seinen Rücktritt für Oktober an. Dass der konservative Politiker zugleich erklärte, erst sein
Nachfolger solle formell den EU-Austritt
erklären, stieß in Brüssel und Berlin nicht
auf Beifall. Die EU erwarte, dass London
die Entscheidung »so schnell wie möglich« wirksam mache, drängten die EUSpitzen. Auch die Bundesregierung äußerte sich so. Nach Artikel 50 des EU-Ver-
trages beginnt erst nach der offiziellen
Austrittserklärung eine zweijährige Frist,
in der beide Seiten die Entflechtung ihrer
Beziehungen aushandeln.
Den Wortführer der Brexit-Kampagne,
Boris Johnson, der Chancen auf die Nachfolge von Cameron hat, ließ das Drängen
aber kalt: »Es gibt jetzt keinen Grund zur
Eile«, sagte er in London. Labour-Chef Jeremy Corbyn widersprach dem. Er hatte
für einen Verbleib in der EU geworben,
musste nun aber mit ansehen, dass vor allem englische Arbeiter und Angestellte für
den Brexit stimmten.
Auf europäischer Ebene begann am
Freitagmorgen schon die Krisendiplomatie. Kanzlerin Angela Merkel kündigte ein
Sondertreffen mit EU-Spitzen und Frankreichs Präsident François Hollande an. Am
Dienstag findet eine Sondersitzung des
EU-Parlaments statt, danach startet ein
zweitägiger EU-Gipfel. »Die Europäische
Union ist stark genug, um die richtigen
Antworten auf den heutigen Tag zu geben«, sagte Merkel – doch was die richtige Antwort ist, blieb am Freitag so umstritten wie zuvor.
Griechenlands linker Regierungschef
Alexis Tsipras forderte »einen Neustart für
das Vereinigte Europa« als sozial gerechte und demokratische Union. Die europäische linke Bewegung DiEM25 wies die
Verantwortung den EU-Eliten zu. In
Deutschland erklärten die Spitzen von
Linkspartei und Linksfraktion, der Brexit
bedeute einen Bruch, »der die historische
Chance eröffnet, den Menschen in Europa
ihre Stimme zurückzugeben«. SPD-Chef
Sigmar Gabriel, der das Ergebnis englisch
fluchend mit »Damn!« aufgenommen hatte, nutzte die Gelegenheit, sich von Merkel und deren Finanzminister Wolfgang
Schäuble mit linken Forderungen nach einer sozialen EU abzusetzen.
Im rechten Lager wurde die BrexitMehrheit dagegen bejubelt. »Sieg«, twitterte die Vorsitzende der französischen
rechtsradikalen Front National, Marine Le
Pen. Der republikanische US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump nannte
das Votum »fantastisch«. Frohlocken auch
bei der deutschen Rechtsaußen-Partei:
AfD-Vize Beatrix von Storch kündigte Brexit-Feiern an. Es wird damit gerechnet,
dass in Ländern wie Dänemark und den
Niederlanden die Anti-EU-Bestrebungen
von rechts neuen Rückenwind erhalten.
An den Börsen weltweit sorgte die
knappe Entscheidung der Briten für
schwere Turbulenzen. Kurse und Indizies stürzten zum Teil im zweistelligen
Bereich ab, das britische Pfund brach auf
den niedrigsten Stand seit 1985 ein. Kapitallobbyisten in Deutschland sprachen
von einem »Schlag ins Kontor«, der den
Export deutlich treffen werde. Verwiesen wurde aber auch auf die Folgen für
Großbritannien. Das Land steht nach dem
Brexit-Votum noch vor einer weiteren
Herausforderung: Schotten und Nordiren haben mehrheitlich für den Verbleib
in der EU votiert – und drängen nun umso mehr auf Unabhängigkeit vom Königreich. tos
Seiten 3, 4, 5 und 9
Grafik: 123rf/lenyvavsha/pixpack, Montage: nd
Moskau. Das russische Parlament hat in seiner letzten Sitzung vor der Wahl ein Paket
von umstrittenen Anti-Terror-Gesetzen verabschiedet. Die Abgeordneten beschlossen
am Freitag in Moskau höhere Strafen für Aufrufe zu Terrorismus oder Extremismus. Auch
die Auflagen für religiöse Missionierung wurden verschärft. Dies richtet sich gegen islamisch-extremistische Anwerber, trifft aber
auch andere Religionsgemeinschaften.
Den Begriff Extremismus legen russische
Behörden weit aus. So sind schon Internetnutzer verurteilt worden, die in sozialen
Netzwerken kritische Beiträge über die russische Ukrainepolitik geteilt hatten.
Weiter wurde die Vorratsdatenspeicherung neu geregelt: Telefonate, E-Mails oder
Chats müssen sechs Monate gespeichert werden, die Verbindungsdaten sogar drei Jahre.
Internetanbieter müssen Inhalte ein Jahr
speichern, wobei der Gesetzentwurf zunächst drei Jahre gefordert hatte.
Am 18. September wird in Russland ein
neues Parlament gewählt. dpa/nd
Berliner Grüne
peilen Wechsel an
Fraktionschefin kann sich nach Wahl
verschiedene Koalitionen vorstellen
Berlin. Die Fraktionsvorsitzende der Berliner
Grünen, Ramona Pop, hält eine Koalition ihrer Partei nach der Wahl sowohl mit der SPD,
der LINKEN als auch mit der CDU für möglich. Im Gespräch mit dem »nd« sagte Pop:
»Ich sehe keine unüberwindbaren Hindernisse. Der politische Kompromiss ist immer
machbar.« In der Hauptstadt wird am 18.
September gewählt. In Umfragen liegen die
Grünen derzeit als zweistärkste Kraft bei 19
Prozent. Pop bekräftigte den Regierungswillen der Grünen. In 15 Jahren Opposition habe sie erfahren, dass die Ideen der Grünen
erst als Irrsinn abgetan werden, um dann von
der Regierung übernommen zu werden. »Da
wollen wir lieber selbst Verantwortung übernehmen.« Zu einem möglichen Politikwechsel mit Rot-Rot-Grün sagte Pop, sie halte auch
eine Zweierkonstellation für möglich. Über
Koalitionsgespräche mit der CDU befand sie:
»Wenn Grüne mit Schwarzen reden, ist das
kein Schreckgespenst mehr.« Die Berliner
CDU sei jedoch von einer modernen Großstadtpartei weit entfernt. ewe
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