Editorial Und neues Leben blüht aus der Ruine Der Brexit ist das erfreulichste Ereignis seit Annahme der Masseneinwanderungsinitiative, nur bedeutender. Der EU-Austritt der Briten bringt vieles ins Rutschen. Es ist ein heilsamer Knall. Der Brexit stärkt die Schweiz. Und Europa. Von Roger Köppel I ch lag in meinem Bett, hustend, schwer erkältet, als mein Handy piepste und mir ein Freund die Nachricht des Austritts per SMS durchgab. Noch unfähig, die Meldung in ihrer historischen Bedeutung einzuordnen, erfasste mich bald ein Gefühl anschwellender Euphorie. Auch ich hatte zu jenen Verzagten gehört, die den Briten diesen phänomenalen, epochemachenden und segensreichen Volksentscheid nicht zugetraut hatten. Wie viele andere war ich der Meinung gewesen, dass die Drohszenarien und Einschüchterungsversuche der Brexit-Gegner verfangen, dass ein Austritt, eine Scheidung, zu schmerzhaft sein würde für die von unablässiger Propaganda bedröhnten Briten. Was für ein Irrtum. Wohlkalkulierte Entscheidung Ich verneige mich und bin voller Bewunderung. Die Briten haben sich bewusst und wohlkalkuliert dafür entschieden, zu ihrer Selbstbestimmung, zu ihrer Freiheit und zu ihrer Demokratie zurückzukehren, auch wenn es wirtschaftlich im Moment etwas rumpelt. Im Grunde wollen sie das Gleiche wie die Schweizer: Sie wollen gute und intensive Beziehungen mit allen Ländern der Welt, darunter auch den Mitgliedstaaten der EU. Sie streben nach grösstmöglicher Freiheit des Handels. Sie sind offen. Auch eine selbstgesteuerte, präzis auf die eigenen Bedürfnisse abgezirkelte Personenfreizügigkeit ist das Ziel. Die Briten möchten mit anderen Ländern zusammenarbeiten und Handel treiben, ohne sich aufzugeben und politisch zu verbandeln. Dies zu wollen, ist nicht «Abschottung» oder Ausdruck eines «wütenden Populismus». Es ist einfach die Rückkehr zu sich selbst und zu bewährten Verfahren des zwischenstaatlichen Miteinanders. Die EU hat sich bei allen guten Ursprungsabsichten in den letzten zwanzig Jahren zu einem gefährlichen Misch wesen entwickelt, halb Bundesstaat, halb Staatenbund. Das spezifische Problem besteht darin, dass die EU funktionierende nationalstaatliche Institutionen durch nicht funktionierende überstaatliche Einrichtungen ersetzt hat. Das Resultat ist eine schleichende Zersetzung rechtsstaatlicher und demokratischer Prozesse im Säurebad des Supranationalismus. Die Krisenfolgen sind bekannt und sichtbar: Euro-Misere, Asyldebakel, Zusammenbruch der Aussengrenzen. Rechtsbrüche und 4 Ausserkraftsetzungen europäischer Regeln gingen dem voraus. In der Sackgasse Um ihrer selbstgeschaffenen Probleme Herr zu werden, müsste sich die EU institutionell zum Staat verdichten. Dann könnte sie ihre hoheit lichen Aufgaben wieder erfüllen, die Aussengrenzen sichern, die Staatshaushalte kontrollieren, den Euro halten, die Mitglieder, sprich: Kantone, mit Sanktionen zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen zwingen. Diese Variante allerdings ist spätestens mit dem Brexit undurchführbar. Die Europäer und wohl auch die Regierungen sind nicht mehr zu gewinnen für die Idee eines Superstaats nach Brüsseler Art. Es verbreitet sich im Gegenteil der Eindruck, die EU habe bereits zu viel Macht und Einfluss gebunkert. «Rückbau statt Ausbau» lautet die Devise. Chefkommissar Juncker allerdings sieht nicht so aus, als ob er bereit wäre, die Wirklichkeit an sich heranzulassen. Neues Leben erwacht aus der Ruine. Der Brexit ist eine Tiefendetonation im Innersten der EU, ein Grabenbruch, eine gewaltige Lawine. Man kann noch nicht ermessen, was alles damit ins Rutschen kommen wird. Weltbilder stürzen ein, Karrieren zerbröseln. Lebens lügen brechen auf. Es ist wie in einem alten Luftschutzkeller, wo man die eine Wand auf Unsere einzige Schwäche: es gibt nur 33 Betten. Ihre Privatklinik für Chirurgie und individuellen Service. pyramide.ch Spitze für Sie. sprengt, damit durch das Loch der dringend benötigte Sauerstoff einströmt. Das ist be lebend und befreiend, aber es bringt auch Verzweiflung und Überforderung mit sich. Die Eurokraten werden heilsam von der Schiene geworfen. Jetzt senden sie den Briten hämische Kommentare hinterher. Die Gefängnisinsassen beschweren sich über die früheren Zellenkollegen, die erfolgreich geflüchtet sind, während sich die zurückgebliebenen Häftlinge einreden, wie schön sie es in ihrem Gefängnis immer noch haben. Das ist etwas böse, aber nicht falsch. Die Brexit-Briten haben recht. Die heutige EU ist gescheitert, ein Auslaufmodell. Zwei Mal haben die Briten Europa vor den Deutschen gerettet. Aus den beiden Weltkriegen ging die EU als stolzes Friedensprojekt hervor. Dass die Briten heute freiwillig aussteigen, macht deutlich: Mit der EU stimmt etwas an den Wurzeln nicht. Merkel der Mässigung Für die Deutschen ist der Bruch besonders schmerzhaft. Die EU ist für sie ein Vaterlands ersatz, sozusagen das grosse Resozialisierungs- und Rehabilitierungsprogramm nach zwei Weltkriegen, dank dem sich die Verfem- Angela Merkel weiss, dass sich die EU einen Nervenkrieg mit London weder leisten kann noch soll. ten, international neugeboren, als Europäer präsentieren durften. Der Brexit löst in Deutschland naturgemäss politische Iden titäts störungen und gefühlsmässige Über reaktionen aus. Am letzten Wochenende setzte ein hysterischer Zeitungskommentar die freiheitsliebenden Brexit-Befürworter mit den Nationalsozialisten gleich, die vor der Machtergreifung Hitlers die Weimarer Republik zerstörten. Man darf solche Entgleisungen nicht überschätzen, aber sie zeigen doch, wie hier Verunsicherung in Angst und Angst in intellektuelle Arroganz umschlägt. Wahr ist aber auch: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel reagierte bisher am besonnensten. Sie weiss, dass sich die EU einen Nervenkrieg mit London weder leisten kann noch soll. Die intel ligente Physikerin, die mit ihrer Flüchtlingspolitik dem Brexit-Lager half, bleibt in einem aufgescheuchten Europa bei allen Fehlern die vernünftigste Stimme der Mässigung, die wir haben. Hans im Glück Das grösste Ärgernis am letzten Freitag war der Bundesrat. Die Landesregierung war trotz einjähriger Anlaufzeit nicht vorbereitet. Es gab keine Überlegungen für den Fall, dass die Briten den für unwahrscheinlich gehaltenen Austritt wagen würden. Die Auftritte gerieten zu Trauerspielen der Verzagtheit. Der BundesWeltwoche Nr. 26.16 Zuwanderungsartikel einseitig umzusetzen. Die ungebremste Masseneinwanderung im Gefolge der Personenfreizügigkeit war mit entscheidend für den Brexit. Es lässt sich nicht verdrängen, dass nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa die Bürger die Migration in ihre Länder wieder selber steuern wollen. Der Bundesrat könnte sich an den Briten auch ein Beispiel nehmen. Sie trauen sich sogar, die Taue mit der EU zu kappen. Begraben werden Hunderte von Abkommen und Verträgen. Die Briten müssen alle ihre früheren Man lässt sich doch nicht anbinden an ein sinkendes Schiff. Freihandelsabkommen neu aushandeln, weil sie mit dem EU-Beitritt vor allem via Brüssel mit der Welt verbunden waren. Sie wagen um ihrer Freiheit willen den Sprung, während der Bundesrat verzweifelt, wenn vielleicht 6 von über 200 bilateralen Verträgen, die meisten im Interesse der EU, aufgrund eines Volksentscheids gefährdet werden könnten. Zumindest wegen des EU-Forschungsabkommens «Horizon 2020» braucht die Regierung keine schlaflosen Nächte mehr zu bekommen. Der hochgespielte Forschungsvertrag verliert massiv an Wert, wenn durch den Brexit die britischen Unis austreten. Die Schweiz und England haben die besten Universitäten Europas. Niemand glaubt im Ernst, dass sich die EU den Luxus einer Verbannung dieser Hochschulen erlauben wird. Auch hier: Es kommt gut. Sofern man will. Herrlicher Morgen Trauer und Zuversicht: Es kommt gut, auch für die, die beim Brexit verloren haben. präsident las mit Untergangsstimme ab Blatt. Kollege Aussenminister wurde nicht müde, den Leuten einzuhämmern, dass mit dem Brexit jetzt alles nur noch schwieriger werde für die Schweiz. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Der Brexit stärkt die Schweiz. Das neurotische Zwangsjacken-Europa der politisierten und verbürokratisierten Beziehungen hat einen herben Schlag erhalten. Mit den Briten siegt der begründete Wunsch nach anderen, freien, sagen wir ruhig: bilateralen, also gleich berechtigten Formen des staatlichen Zusammenwirkens, nach Handel und Austausch ohne den Zwang, sich politisch verheiraten zu müssen. Das ist die Position der Brexit-Leute, das ist, übrigens seit Jahrhunderten, das bewährte Rezept der Schweiz. Weltwoche Nr. 26.16 Bild: SIK-ISEA, Zürich (Philipp Hitz) Die Schweiz sollte sich jetzt nicht verkriechen. Sie muss sich auch nicht aufplustern. Aber sie kann aus gestärkter Position ihren Standpunkt selbstbewusst vertreten. Wir sind unabhängig. Wir wollen hervorragende Beziehungen mit der EU wie mit allen anderen Staaten dieser Welt. Wir haben eine der offensten und erfolgreichsten Volkswirtschaften. Allein im letzten Jahr erreichte die Schweiz trotz Frankenschock und Masseneinwanderungsinitiative Platz sechs der Auslandsinvestitionen und machte 32 Positionen gut! Nach dem Brexit steigt die Chance, sich mit der EU bei der Personenfreizügigkeit zu einigen. Brüssel will jetzt keinen weiteren Bruch in einem symbol trächtigen Dossier riskieren. Bleibt die EU gleichwohl stur, müssen wir bereit sein, den Bundesrat Didier Burkhalter, eine Art Hans im Glück der Aussenpolitik, wirkt derzeit wie von unbezwingbarer Heiterkeit erfüllt. Wir werten das als gutes Zeichen. Der Neuenburger soll die Gunst der Stunde nutzen und gleich die Verhandlungen über den EU-Rahmenvertrag stoppen. Seit acht Jahren belästigt uns Brüssel mit der Forderung, die Schweiz an die Institutionen der EU anzubinden. Wir sollen künftiges EU-Recht übernehmen, im Streitfall europäische Richter akzeptieren, bei Nicht erfüllung Sanktionen gewärtigen, jährliche Tributzahlungen leisten und eine EU-Überwachungskommission im Inland dulden. Die Schweiz verlöre, was sie stark macht: ihre Unabhängigkeit. Diese Begehrlichkeiten können nach dem Brexit schwungvoll zurückgewiesen werden. Man lässt sich doch nicht anbinden an ein sinkendes Schiff. Was Burkhalters schnei diger Chefdiplomat de Watteville in Brüssel ja dann eleganter formulieren kann. Die Schweiz ist unabhängig, oder sie ist nicht. Was für ein herrlicher Morgen nach dem Brexit. 5
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