Wer lächelt zuletzt? Hofer oder Van der Bellen – die rechte FPÖ hat die Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten erfolgreich angefochten. Ein Pyrrhussieg? Seite 5 AUSGABE BERLIN | NR. 11059 | 26. WOCHE | 38. JAHRGANG SONNABEND/SONNTAG, 2./3. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE € 3,50 AUSLAND | € 3,20 DEUTSCHLAND ANZEIGE July 3, 1971 Hey world! Another year arbitrarily detained! Ach, Mutter Julian Assange: Courageous. Brave. Fearless. Righteous. Brilliant. Caring. Knowledgeable. …Continuing to give us wings – while his are so brutally bound… Thank you Julian and: Happy Birthday from Nuremberg Die eine träumte von einem Baby; seitdem der Sohn da ist, vermisst sie ihr altes Leben. Die andere hat die Kinder nach der Trennung beim Vater gelassen. Wie Frauen eine sehr alte Rolle neu interpretieren Seite 17–20 STA ATSKR ISE Nieder la Revolución Hugo Chávez versprach den Venezolanern Großes: Essen, Bildung, Gesundheit für alle. Was ist davon geblieben? Eine Reportage SEITE 8, 9 NACH DEM BR EXIT Nur noch wir oder sie Migranten spüren die Folgen des Brexit schon jetzt. Weil Rassisten sich mehr trauen SEITE 3 taz.berlin SCHWIMMEN Berlin geht gerne baden. Die taz testet fünf Seen ▶ SEITE 44, 45 ANZEIGE Bath, 2006. Aus der Serie „Mother“ der New Yorker Fotografin Elinor Carucci Fotos: Edwynn Houk Gallery, imago (oben) 60626 4 190254 803208 TAZ MUSS SEIN Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.040 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Seite 8, 9 Argumente Brexit Die Arbeiterklasse ist dem Rechtspopulismus auf den Leim gegangen. Das ist die gängige Erklärung. Warum sie zu kurz greift Seite 11 Kultur Europa Quo vadis? Der Historiker Jakob Tanner über den Brexit, die Schweiz und die Flüchtlingskrise Seite 12, 13 Synthesizer Der Votrax macht Text zu Sprache – und elektronische Musik. Eine Erkundung Seite 16 Gesellschaft Rabenmütter Sie h aben Kinder, wollen aber keine Mütter sein. Zwei Frauen sprechen über ein Tabuthema Seite 17–20 Fifty-Fifty Erst Österreich, dann der Brexit und Merkels Umfragewerte – immer bleibt diese verflixte andere Hälfte Seite 23 Ganz hoch Sopran ist nix dagegen: Andreas Scholl ist Countertenor. Unser Autor hat den Weltstar getroffen Seite 24, 25 EM taz Bella Italia Deutschland gegen Italien ist ein altes Spiel – heute gibt es eine Neuauflage des Klassikers. Vier Seiten zur Fußball-EM Seite 29–32 Medien Wandel Ist das politische Magazin Cicero in der Flüchtlingsdebatte auf den rechten Weg gerutscht? Seite 35 Reise Krise Flüchtlinge sind nichts Neues auf Lesbos. Schon seit 20 Jahren gehören sie zur Insel. Aber jetzt bleiben die Touristen aus Seite 38 AUS DER TAZ SEITE 28 TV-PROGRAMM SEITE 34 LESERBRIEFE SEITE 37 DIE WAHRHEIT SEITE 40 Kritik der ästhetischen Ökonomie LEKTIONEN 5 Dinge, die wir diese Woche gelernt haben 1. Nicht alle Flaggen sind gleich Fußballturniere – Zeit der Fahnen. Aber ist jede Flagge willkommen auf der Fanmeile? Zwei Tagesspiegel-Autoren haben es in Berlin getestet, ein Spiel der deutschen Mannschaft mit Israelfahnen besucht und unterschiedliche Reaktionen festgehalten. Die schlimmen: „Was soll die Scheißfahne hier?“ – „Free Palestine!“ – „Du Jude!“ Eine Gruppe arabisch sprechender Männer, schreiben sie, habe sie zudem bespuckt, gestoßen und als „Hurensöhne“ beschimpft. Das Fazit der Autoren: Es habe zwar weniger Beleidigungen als Z wei harte Diskussionen – knapp vor persönlichem Streit – mit Leuten, die mir nahestehen und in Großbritannien leben. Eine ist Britin, einer ist Deutscher. Beide meinen: Es muss ein Recht auf eine zweite Chance geben, immer. Wenn die Briten jetzt verstünden, dass sie von den Brexit-Vorkämpfern belogen worden seien, dann müssten sie die Gelegenheit bekommen, ihren Fehler zu korrigieren. Nein. Ich will das nicht. Aus vielen Gründen hätte ich mir gewünscht, das EU-Referendum wäre anders ausgegangen. Aber nun ist es aus meiner Sicht zu spät. „Du willst uns leiden sehen?“, fragt meine Freundin. „Du möchtest die Briten also bestrafen?“, fragt mein Freund. Beides nicht. Ich vertrete meine Interessen. Wenn das Ergebnis des britischen Referendums nicht umgesetzt wird, dann – so fürchte ich – bekommen rechte Nationalisten so viel Zulauf, dass die EU zu implodieren droht. Es würde ihnen befürchtet gegeben – aber deutlich mehr als erhofft. 2. Britischer Abgang Wenn jemand eine Zusammenkunft ohne Verabschiedung verlässt, spricht der Volksmund von einem „polnischen Abgang“ oder einer „französischen Empfehlung“. Der Radiomoderator Christoph Azone hat im Nachgang zum Brexit-Referendum nun bei Twitter definiert, was ein britischer Abgang ist: „Scheißparty! Ich hau ab.“ – „OK, schade, ciao.“ – „Nur noch 5 Bier, Taxi ruf ich in 2 Stunden.“ 3. Bud Spencer wurde häufiger gesucht als Götz George Bud Spencer, Götz George und der Karikaturist Manfred Deix sind gestorben, drei Große ihrer Metiers. Sie künstlerisch zu vergleichen ist abwegig. Quantitativ ist es zumindest möglich: Nach ihrem Tod kamen auf „Der gesellschaftliche Fortschritt lässt sich exakt messen an der Stellung des schönen Geschlechts, einschließlich der Hässlichen“, schrieb einst Karl Marx. Aber wer ist schon hässlich? Zum Ende der Berliner Fashion Week standen acht Frauen mit Normalmaßen der Fotografin Silvana Denker am Marx-EngelsForum Modell – als Kontrastprogramm zum anorektischen Schönheitsideal der Modebranche. Foto: Jens Kalaene/dpa 100 Google-Suchanfragen aus Deutschland nach „Bud Spencer“ 84 Anfragen nach „Götz George“ und 2 nach „Manfred Deix“. Das sagt nichts über die Qualität ihrer Werke. Aber etwas über das Größenverhältnis von Nische und Lagerfeuer. Die Zahl der journalistischen Nachrufe war übrigens wesentlich ausgeglichener. Sage noch einer, Medien gehe es nur um Quote. 4. Die ARD hält dicht 1,6 Millionen Euro Jahreshonorar soll der ARD-Fußballexperte Mehmet Scholl bekommen, schrieb ein Medienmagazin. Das dürfte deutlich zu hoch gegriffen sein. Die ARD und das Tochterunternehmen ARD-Werbung Sales&Services nennen aber keine konkreten Zahlen. Aus der ARD heißt es, Scholl arbeite frei, und nicht jedes Gehalt müsse offengelegt werden. Aber es scheitert schon auch am Wil- len: Man könnte ja Verträge nur noch mit ExpertInnen schließen, die damit einverstanden sind. Es gäbe Wege, den ewigen Vorwurf, die Öffentlich-Rechtlichen würfen Geld raus, in eine seriöse Debatte zu überführen. Aber nö: Tor für die Kritiker des Systems. 5. Hillary Clinton ist quasi durch, also vielleicht Der Statistiker Nate Silver, der das Blog FiveThirtyEight betreibt, hat eine Prognose für den Ausgang der US-Präsidentschaftswahl veröffentlicht. 2008 lag er am Ende des Wahlkampfs in fast allen US-Bundesstaaten richtig, 2012 in allen. Für 2016 geht er derzeit davon aus, dass Clinton gegen Donald Trump in praktisch allen swing states gewinnt und 80 Prozent der Wahlmännerstimmen bekommt. Kleine Restunsicherheit: Es wird schon noch gewählt. K LAUS RAAB Das Zitat I „Nein“ EU-KOMMISSIONSPRÄSIDENT JEAN-CLAUDE JUNCKER AUF DIE FRAGE EINER JOURNALISTIN, OB DER BREXIT DER ANFANG VOM ENDE DER EUROPÄISCHEN UNION SEI Das Zitat II „Nein“ REGIERUNGSSPRECHER STEFFEN SEIBERT AM FREITAG IN BERLIN AUF DIE FRAGE, OB DIE WIEDERHOLUNG DER ÖSTERREI CHISCHEN BUNDESPRÄSIDENTENWAHL IRGENDWELCHE AUSWIRKUNGEN AUF DIE DEUTSCHE POLITIK HAT MACHT Keine zweite Chance DI E GROSSE GEFAH R: WI RD DAS BREXIT-REFEREN DUM N ICHT UMGESETZT, HABEN RECHTE NATIONALISTEN MEH R ZULAUF allzu leicht gemacht, zu behaupten, der Wille „des Volkes“ zähle nichts und „die da oben“ ließen so oft wählen, bis ihnen das Ergebnis gefalle. Meine Freunde halten meine Argumentation für falsch. Sie meinen, es gebe keinen besseren Weg, Nationalismus zu bekämpfen, als eine neue Volksabstimmung in Großbritannien. Weil der erwartbare Meinungsumschwung zeige, wie groß die Probleme seien, die mit einem EU-Austritt verbunden sind. Danach könne niemand mehr auf eine Mehrheit für einen Austritt aus der Europäischen Union hoffen. Mag sein, dass sie recht haben und ich unrecht. Ich weiß es nicht. Fest überzeugt bin ich allerdings davon, dass nicht nur ich, sondern auch meine Freunde vor allem unsere jeweils eigenen Interes- BETTINA GAUS IST POLITISCHE KORRESPONDENTIN DER TAZ sen verfolgen. Das Hemd ist uns näher als der Rock. Das ist eine neue Erfahrung. Nicht im Privatleben, da ist das Alltag. Urlaubsziel, WG-Regeln, Wahl der Kneipe, Aufteilung von Kosten: Natürlich haben wir unsere eigenen Interes sen im Blick. Sehr freundlich lächelnd, sehr, sehr rücksichtsvoll. Manchmal sind wir sogar wirklich großzügig. Aber wir alle wissen immer, auf welcher Seite unser Brot gebuttert ist. Schließlich sind wir nicht blöd. Im Hinblick auf Politik war das bisher anders. Wer sich selbst als auch nur einen halben Millimeter links von der Mitte stehend definiert und in einem führenden westlichen Industriestaat zur Mittelschicht gehört – also keine unmittelbaren Existenzängste hat –, hat sich daran gewöhnt, auch gegen eigene Interessen zu wählen. Erhöhung von Erbschaftsteuern, Einführung einer Vermögen steuer? Gerne, selbst wenn es eigenes Geld kostet. Schließlich ist auch sozialer Friede ein hohes Gut. Und: Wir sind ja nicht in Not. Ich habe diesen Blick auf Politik – der sich global auf afrikanische Bauern oder asiatische Kinder erweitern lässt – immer als zivilisatorische Errungenschaft gesehen. Ich tue das noch. Seit ich eine politische Meinung entwickelt habe, fühle ich mich Leuten verbunden, die Gerechtigkeit für einen höheren Wert halten als die Durchsetzung individueller Interessen. Aber ich stelle fest: Sobald es um den Kern meiner Existenz geht, ist plötzlich alles anders. Wenn ich Inderin wäre, dann wäre ich – aus einer angenehm unbeteiligten Position heraus – vermutlich dafür, dass den Briten eine zweite Chance eingeräumt würde. Aber ich bin keine Inderin. Und ich stelle fest, dass ich vor allem etwas will: nämlich meine Welt verteidigen. Koste es, was es wolle. Und sei es noch so unfair gegenüber den Briten. Das finde ich zutiefst beunruhigend. Es ist ein Paradigmenwechsel. Wenn ich bei meiner Haltung bleibe: Unterscheide ich mich dann eigentlich – im Kern – noch von Nationalisten? Die Frage ist ernst gemeint. Ich habe darauf noch keine Antwort. Die Drei SON NABEN D/ SON NTAG, 2./3. JU LI 2016 TAZ.AM WOCH EN EN DE alhilfeempfänger aus Osteuropa. Klar, es gebe auch genug faule Briten, aber die Einwanderung unqualifizierter Leute sei ein Problem. „Ich habe gelesen, dass in Rumänien und Bulgarien ganze Bevölkerungsgruppen verschwinden, die jetzt bei uns arbeiten und dort fehlen.“ Sein Trinkkumpan wägt nicht so vorsichtig ab: „Die Immigranten haben die Gastfreundschaft der Briten ausgenutzt. Wie sonst hätte es kommen können, dass man sich als Weißer in Bezirken wie Whitechapel oder Ley- „Wenn die Immigran ten endlich zurück gehen, bekomme ich mehr Rente“ BRITISCHE RENTNERIN „Die Leute sind besorgt“, sagt Agne Skripskaja. „Muss ich jetzt gehen?“, fragen sich viele ihrer Landsleute Fotos: Daniel Zylbersztajn Das Referendum der Briten, die EU zu verlassen, ist wie ein Fanal. Jetzt trauen sich viele, endlich das zu sagen, was sie wirklich denken. Rassismus inbegriffen. Unser Autor hat zugehört ZERWÜRFNIS Die da, wir hier „Die drei osteuropäischen Läden in der Straße sind zu viel des Guten“, sagt der englische Arbeiter im Pub AUS LONDON DANIEL ZYLBERSZTAJN B arkingside, am östlichen Stadtrand von London, ist ein multikultureller Ort mit einer indischen, pakistanischen, osteuropäischen Note. Vorstadtverschlafen – bis letzten Donnerstag, als Großbritannien für den Ausstieg aus der EU stimmte. Seither ist auch Barkingside in Aufruhr. Es gibt nur ein Thema: den Brexit. Alle haben eine Meinung dazu. Auf der langen Ladenstraße Barkingsides, die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts gebauten zweistöckigen Häuser schmiegen sich eng aneinander, gibt es Läden mit indischen Currys, koscheren Lebensmitteln, asiatische N agellackstudios und drei osteuropäische Lebensmittelläden. In einem von ihnen sitzt – umgeben von getrocknetem Fisch, Spirituosen und Würsten, die die Luft salzig und pfeffrig machen, die Litauerin Agne Skripskaja hinter der Theke. Auf ihrem schwarzen TShirt steht „Back to the Moon“. Agne kam vor elf Jahren nach Großbritannien, 22 war sie da, Buchhalterin, aber ihr Zeugnis war in England unbrauchbar. „Die Leute sind besorgt“, erzählt sie in gutem Englisch. „Muss ich jetzt gehen?“, fragen vor allem die Älteren. Manche erzählen, dass ihren Kindern jetzt zugerufen werde: „Geht doch nach Hause.“ Was das soll? Wo das sein soll? „Auf dem Mond.“ Um 57 Prozent sei die Zahl rassistischer Angriffe auf Osteuro- päer und Muslime innerhalb der ersten drei Tage nach dem Referendum gestiegen, hat der Rat der nationalen Polizeichefs in Großbritannien errechnet. „Die Engländer glauben, dass wir ihnen die Arbeit wegnehmen, dabei sitzen viele von ihnen den ganzen Tag bei McDonald’s rum und tun nichts“, sagt Agne. Als sie ihrer Cousine nach Großbritannien folgte, schuftete sie zunächst in einer Fabrik, dann jahrelang bei der Post, bevor sie vor zwei Jahren in dem Laden anfing. Ein Kunde, stämmig, füllig, mit vollem Einkaufskorb, mischt sich ein: „Als ich aus Litauen hierherkam, hatte ich nur eine Ausbildung. Ich verdiente ein Drittel von dem, was Engländer bekamen, und investierte trotzdem alles in meine Weiter- bildung.“ Virgilijus Barkauskas heißt er und erwähnt stolz, dass er nun sieben Zeugnisse in den verschiedensten Installateurbereichen hat. „Die meisten, die mit mir in den Ausbildungen waren, waren Ausländer“, sagt er. „Ich verstehe das nicht, Engländer haben bessere Chancen, weil sie sich hier auskennen, und tun trotzdem nichts, um besser zu werden. Sie beschweren sich nur.“ Auch Agne will weiterstudieren, sich umschulen lassen auf englische Buchhaltung und sich dann selbstständig machen. Im Weatherspoon Pub am Ende der Ladenstraße sitzen die Engländer. Ihr Thema: der Brexit und wie weit es mit „the Nation“ gekommen ist. Winston Sheehan, ein junger Sozialarbeiter, spricht über Sozi- tonstone gar nicht mehr blicken lassen kann.“ Osteuropäer seien das eine, aber sich nicht inte grierende Muslime das andere. Und am Nebentisch meint ein weiterer Biertrinker. „Ich bin ein englischer Mann der Arbeiterklasse“, seit 29 Jahren im selben Betrieb. Blitzableiter macht er, und, ja, sein Großvater sei Italiener gewesen, sein Onkel habe im Weltkrieg für Großbritannien gekämpft. Er betont das mehrmals, bevor seine Welterklärung Fahrt aufnimmt: Die Einwanderungswelle unaufhaltbar. Die Hälfte der Immigranten Sozialhilfeempfänger. Die Politiker Versager. Er habe die Nase voll. So oder so. Er sei reif, selber zum Migranten zu werden. Australien etwa. „Auch die drei osteuropäischen Läden in der Straße sind zu viel des Guten.“ In Brent, im Norden Londons, leben noch mehr Migranten als in Barkingside. 65 Prozent, höher ist der Migrantenanteil einer Kommune in England und Wales nur noch in Newham in Ostlondon. Türkische Restaurants, indische Sarigeschäfte, englische Cafés und karibische Restaurants liegen hier nebeneinander. In einem alten Bürokomplex nahe dem WembleyStadion hält Elena Rees mit Angestellten und ihrem Ehemann Sam gerade eine Sitzung. Seit einigen Jahren leitet die aus Rumänien stammende Frau eine Vermittlungsstelle für Menschen vor allem aus Osteuropa auf der Suche nach Qualifikationen in Großbritannien. Auch um Unterkunft und Finanzierung können sie und ihr Team sich kümmern. Im Brexit sieht sie vor allem: noch höhere Studiengebühren und noch mehr Einwanderungsbürokratie. Rees war Grundschullehrerin in Rumänien. Vor 13 Jahren verließ sie ihr Land, sie war jung, war neugierig, wollte Englisch lernen. „Der Anfang war schwer“, sagt sie. Eine Weile war sie illegal; mittlerweile hat sie die britische Staatsbürgerschaft. Trotzdem glaubt sie, dass die europäischen Einwanderungsbe- 03 stimmungen zu großzügig sind und es zu einfach ist, in Großbritannien Sozialhilfe zu bekommen. „Das ist doch der Grund, weshalb viele hier die Immi granten aus Osteuropa hassen.“ Sie würde jeden, der etwas Negatives über Osteuropäer zu sagen hat, auffordern, 20 Jobs, die Einwanderer machen, mit 20 Engländern zu besetzten. „Es würde nicht klappen.“ Elenas Mann, Sohn eines ägyptischen UN-Gesandten und einer britischen Mutter, in Großbritannien geboren, sieht Parallelen zwischen dem, was er in seiner Jugend erlebte und heute. „Einerseits fragten mich viele, ob wir in einem Zelt wohnen und Kamele besitzen, andererseits war ich ein attraktiver junger Mann.“ Auch heute sei nicht alles richtig. „Ich erlebe oft, dass Firmen die besten Jobs an weiße Engländer vergeben und die schweren an Einwanderer.“ Dabei seien die Einwanderer oft besser qualifiziert. Dass es zum Brexit kam, überraschte beide. In Brent stimmten 59,7 Prozent für den EU-Verbleib. Im benachbarten Londoner Stadtviertel Camden sogar 75 Prozent. Letzte Bastion weißer Briten Obwohl viele Leute in Camden über das Referendum geschockt sind, geben sich Stammgäste im Sir Robert Peel Pub auf Queens Crescent in Kentish Town zufrieden. Die Kneipe am Anfang einer alten Marktstraße wirkt zusammen mit Frank’s Supermarket wie die letzte Bastion weißer Briten im Viertel. Ihre Nachbarn sind Somalier, Türken, andere Einwanderer, die Gemüse verkaufen, Fleisch, das halal ist, Kebab, Falafel, Fast Food, Krimskrams. Eine Sechzigjährige, sie will ihren Namen nicht nennen, ist begeistert vom Brexit. „Wenn die Immigranten endlich dahin zurückgehen, wo sie herkamen, bekomme ich mehr Rente.“ Conrad Bartell am Tisch gegenüber ist pessimistischer. Er erzählt, wie er hier aufwuchs und auf dem Markt einst Obst und Gemüse verkaufte. Die Immigranten stören ihn nicht, auch wenn die drei Moscheen in der Gegend für sich sprächen. Er wünscht sich aber mehr Re spekt. Er als ältere Person müsse oft Jugendlichen aus den Weg gehen. Der Markt hier sei im Zeitalter der Supermärkte von der Verwaltung nicht genug geschützt worden. „Für die Jüngeren, wie meine Enkel, ist die Zukunft schwer“, sagt er. “Wer studiert, kriegt keine Arbeit, wer eine Ausbildung macht, wird von billig arbeitenden Einwanderern verdrängt. Und zudem wird unsere Gegend von reichen Investoren aufgekauft.“ Conrad, der für den Brexit gestimmt hat, blickt traurig aus dem Fenster. „Früher war es einer der schönsten Märkte in London“, sagt er. ■■Mehr zum Brexit: Argumente SEITE 11, Kultur SEITE 12-13 ANZEIGE
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