Publikation: Frankfurter Allgemeine Zeitung Ausgabe: 20.02.2016, Nr. 43, S. 20 Autor: Marcus Theurer Unterschätzen deutsche Konzerne die Brexit-Gefahr? Die Manager fürchten zwar einen EU-Ausstieg Großbritanniens. Viele setzen aber darauf, dass der Ernstfall schon nicht eintreten werde. LONDON, 19. Februar. John Hammond will kein Risiko eingehen: "Ich werde jetzt einen deutschen Pass beantragen", sagt der Rechtsanwalt und Partner der Wirtschaftskanzlei CMS Hasche Sigle. Denn der Brite arbeitet als Partner in der Stuttgarter Niederlassung der Großkanzlei, und Hammond macht sich Sorgen um seine berufliche Zukunft in Deutschland, falls sein Heimatland aus der EU austreten sollte. Deshalb der zweite Pass zu. Sicher ist sicher. Der britische Anwalt im Schwabenland wundert sich allerdings, wie entspannt viele Wirtschaftsvertreter hierzulande, mit dem drohenden "Brexit" umgingen: "Man nimmt einfach an, dass die Briten bleiben werden", beobachtet Hammond. Er selbst teilt diesen Optimismus nicht: "Die Brexit-Gefahr ist sehr hoch", warnt der Jurist, der in London geboren ist und mit Unterbrechungen seit neun Jahren in Deutschland lebt. "Mein Eindruck ist: Viele deutsche Unternehmen haben die Tragweite dieser Vorgänge bisher etwas verschlafen", sagt er. Ein ähnliches Stimmungsbild zeichnet Ulrich Hoppe, der Hauptgeschäftsführer der deutschen Außenhandelskammer in London. "Teilweise ist das Thema bei den deutschen Unternehmen noch nicht so recht angekommen", sagt der Wirtschaftslobbyist an der Themse. An der deutschen Unternehmensbasis scheint die Stimmungslage ambivalent zu sein: Einerseits zeigen Umfragen zwar, dass viele Manager mit geschäftlichen Nachteilen rechnen, falls es zum Brexit kommen sollte. Doch zugleich setzen viele offenbar schlicht darauf, dass der Ernstfall schon nicht eintreten werde. Dabei zeigt das politische Ringen in Brüssel wie bedenklich nahe der Brexit gerückt ist: Am Freitag konnten sich die europäischen Regierungschefs auf ihrem Gipfel nicht auf einen Kompromiss verständigen, der helfen soll, das Land in der EU zu halten. Das Treffen wurde deshalb bis Samstag verlängert. Erwartet wird, dass der britische Premierminister David Cameron im Falle einer Einigung binnen weniger Stunden den Termin für das angekündigte EU-Referendum auf der Insel bekanntgeben werde. Bereits im Juni oder September könnten die Briten in dem in Europa bislang beispiellosen Volksentscheid über den Austritt aus der EU entscheiden. Meinungsumfragen deuten derzeit zwar darauf hin, dass eine knappe Mehrheit der britischen Wähler für den Verbleib im europäischen Staatenbund ist. Aber sicher ist das eben keineswegs: Jede dritte Meinungsumfrage seit Jahresanfang ergab eine Mehrheit für den Brexit. Klar ist dagegen, dass Großbritannien für die deutsche Wirtschaft wichtig ist. Das Land ist ein bedeutenderer Handelspartner als Frankreich. Auch der Bestand der Direktinvestitionen deutscher Unternehmen jenseits des Ärmelkanals ist mit gut 100 Milliarden Euro mehr als dreimal so groß wie in Frankreich und mehr als doppelt so groß wie in China. So fertigt beispielsweise der Münchner Autokonzern BMW in Oxford seinen populären Kleinwagen Mini. Eon und RWE zählen zu den führenden Energieversorgern in Großbritannien. Für die Deutsche Bank ist London einer der wichtigsten Auslandsstandorte. Aber es sind auch viele kleinere Unternehmen auf der Insel aktiv: Mehr als 2500 Unternehmen aus Deutschland haben dort Niederlassungen mit insgesamt rund 370 000 Mitarbeitern. "Die Unternehmen warten ab", sagt der Londoner Außenhandelskammer-Chef Hoppe. Auch deswegen, weil bisher völlig unklar sei, wie es nach einem möglichen Brexit-Votum weitergehen würde. So gehören zwar auch Norwegen und die Schweiz nicht der EU an und unterhalten dennoch enge Handelsbeziehungen mit dem Staatenbund. Aber die meisten Fachleute sind sich einig, dass ein ähnliches Modell für Großbritannien nach dem EU-Austritt schwer vorstellbar wäre. Zu erwarten wären jahrelange Verhandlungen zwischen London und der EU über die künftigen Handelsspielregeln. Ausgang ungewiss. Zumindest begrenzt könnten Unternehmen Vorsorge treffen, sagen Juristen: "Wer jetzt langfristige Verträge mit Geschäftspartnern in Großbritannien abschließt, sollte darin festschreiben, wer mögliche Brexit-Risiken trägt", empfiehlt ein Partner einer internationalen Großkanzlei in Berlin. "Es gibt mit Blick auf Großbritannien zwar Fragen von Mandanten, aber das hält sich in Grenzen", berichtet er. Meist gehe es dabei um mögliche Handelszölle und regulatorische Risiken nach einem Brexit. Doch die meisten beschränkten sich schlicht darauf, den britischen Proeuropäern vor dem Referendum die Daumen zu drücken: "Man hofft einfach, dass es gut ausgeht", sagt der Jurist. Alle Rechte vorbehalten: (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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