DIENSTAG, 28. JUNI 2016 KUNDENSERVICE 0 8 0 0 / 9 3 5 8 5 3 7 ** D 2,50 E URO Zippert zappt THEMEN EM 2016 Es ist Italien! Samstag, 21 Uhr Seite 21 POLITIK Spanier gehen bei Wahl auf Nummer sicher Seite 5 WIRTSCHAFT Die Minibar im Hotel stirbt aus Seite 12 PANORAMA Rätsel um das Verschwinden eines Zwölfjährigen Nr. 149 KOMMENTAR W Der Ausstieg wird zur Farce RICHARD HERZINGER Gigant des Films D Nicht nur in der „HorstSchimanski-Gasse“ im Duisburger Hafen herrscht Trauer, ganz Deutschland nimmt Abschied von Götz George. Mit seinem Tod hat die deutsche Filmwelt einen ihrer größten Charakterschauspieler verloren. Bekannt wurde er durch seine Rolle als Schimanski im „Tatort“, die er 32 Jahre lang spielte. Aber auch in Filmen wie „Der Totmacher“, „Schtonk!“ oder „Rossini“ zeigte George sein Talent. Zeit seines Lebens rang er mit dem Vermächtnis seines Seite 8 Vaters. LAIF/REGINA SCHMEKEN/SZ PHOTO; DPA/CHRISTIAN CHARISIUS elchen Status soll England in Zukunft haben? Diese Frage treibt die Regierungen der 27 verbliebenen EU-Staaten um. Die radikalste Lösung: Das Vereinigte Königreich bekommt den Paria-Status, britische Bürger dürfen in der EU nur noch untergeordnete Tätigkeiten verrichten wie Spargelstechen, Sonnencreme testen oder Hedgefonds verkaufen und können nur untereinander heiraten. Bisher gibt es sehr wenige Befürworter dieser Idee. Realistischer wäre es, wenn England offiziell eine Kolonie der EU wird. Das Land hätte dann viele Nachteile, aber auch ein paar Vorteile. Deutschland stellt die Versorgung mit Kraftfahrzeugen sicher. Die Eingeborenen dürfen sich selber verwalten und ihre Naturgötter anbeten. Sie müssen selbstverständlich Abgaben zahlen, die aber mit Naturalien wie Popmusik, Maßanzügen und Teegebäck beglichen werden könnten. Denkbar wäre auch: Ab 2018 sind Schottland, Nordirland, Gibraltar und die Falklandinseln Vollmitglieder der EU. Dann könnten die Engländer sich per Referendum für einen Anschluss an Schottland entscheiden. B Europa sucht seinen Weg aus der Brexit-Krise Bundeskanzlerin Merkel warnt Briten vor „dauerhafter Hängepartie“. Premier Cameron will aber noch keine Verhandlungen einleiten. Seine Partei plant Ernennung eines Nachfolgers bis zum 2. September L etztes Zugeständnis an David Cameron: Die EU-Staats- und -Regierungschefs werden den scheidenden britischen Premier beim ersten Tag ihres Gipfels am heutigen Dienstag nicht zwingen, den Austritt seines Landes offiziell zu erklären und damit die auf zwei Jahre angelegten Brexit-Verhandlungen einzuleiten. Sie nehmen damit in Kauf, dass die Frage monatelang in der Schwebe bleibt – trotz aller Unsicherheiten, die dies erzeugen wird. Vor dem Unterhaus in London erklärte Cameron am Montag, er wolle vorerst keine formalen Gespräche über ein Ausscheiden Großbritanniens einleiten. Seine Regierung werde eine Abteilung aus Mitarbeitern verschiedener Ressorts und Experten bilden, um die Austrittsverhandlungen mit der EU vorzubereiten. Sein Nachfolger, der die Verhandlungen führen soll, solle von Anfang an die besten Ratgeber haben. Die Tories, die Partei Camerons, erklärten, sie wollten bis zum 2. September einen neuen Premier benennen. Baldige Neuwahlen lehnt Cameron ab. Bestrebungen, einen Brexit mit dem Brexit. Cameron wird die 27 anderen Staatsvertreter beim Abendessen über das Ergebnis des Referendums informieren, es folgt ein „Meinungsaustausch“. Am Mittwoch darf der Brite dann schon nicht mehr teilnehmen. Auf der Tagesordnung der Rest-EU stehen dann nur zwei Fragen: Wie das Austrittsverfahren organisiert werden soll und wie „der Weg nach vorn“ für die verbleibenden 27 Mitglieder aussehen könnte. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will den Briten nach dem BrexitVotum Zeit für ihr weiteres Vorgehen einräumen – aber nicht zu viel. „Dass Großbritannien jetzt eine gewisse Zeit braucht, auch erst einmal die Dinge analysiert, dafür habe ich ein gewisses Verständnis“, sagte sie in Berlin. Aber: „Wir dürfen uns eine dauerhafte Hängepartie nicht leisten, weil das, glaube ich, für die Wirtschaft beider Teile – der EU-27 und Großbritannien – nicht gut wäre.“ Informelle Verhandlungen mit London noch vor der offiziellen Mitteilung über die Austrittsabsicht schließt Merkel aus. Großbritannien muss selbst die Mitteilung über einen EU-Austritt einreichen. doch noch abzuwenden, erteilte der Regierungschef eine Absage: „Die Entscheidung muss akzeptiert werden, und der Prozess, die Entscheidung bestmöglich umzusetzen, muss jetzt beginnen.“ Europas Staats- und Regierungschefs befassen sich heute erstmals gemeinsam Englisch bald keine EU-Amtssprache mehr? Englisch verliert wohl nach einem EU-Austritt Großbritanniens seinen Status als Amtssprache der Staatengemeinschaft. Nur die britische Regierung habe Englisch als Amtssprache bei der EU geltend gemacht, teilte der zuständige Ausschuss des Europäischen Parlaments mit. Als weitere Länder mit Englisch als Gebrauchssprache habe sich Irland bei der EU auf Gälisch festgelegt und Malta auf Maltesisch. Jedes Land dürfe nur eine Amtssprache einreichen. Premier Cameron hatte gesagt, dass diese Aufgabe erst sein Nachfolger im Herbst übernehmen könnte. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) ist im Gegensatz zu Merkel für eine schnelle Einleitung des Austrittsverfahrens: „Das Signal der Staats- und Regierungschefs muss lauten: Klarheit statt Taktiererei, entschlossenes Handeln statt Zaudern.“ Die Meinungen darüber, wie „der Weg nach vorn“ in der EU aussehen soll, gehen allerdings weit auseinander. Während viele die Brexit-Entscheidung als eine Art Denkzettel für die EU und als Anstoß für Reformen betrachten, will die EU-Spitze in Brüssel stattdessen die Integration in Europa beschleunigen und ausweiten. So will EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nach einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die „Vollendung“ der Währungsunion beschleunigt vorantreiben. Die EU-Kommission wolle der bisherigen Europäischen Union mit multiplen Währungen ein Ende bereiten, zitiert das Blatt Juncker unter Berufung auf das Umfeld des Politikers. Siehe Kommentar, S. 2–5, 9, 10, 13, 15 ie Brexit-Tragödie ist dabei, sich als grausige Farce zu entpuppen. Wer sich eingeredet hat, die „Leave“-Kampagne habe irgendetwas mit den stolzen liberalen Freiheitstraditionen Großbritannien zu tun, wird jetzt eines Besseren belehrt. Tatsächlich haben politische Gaukler wie Boris Johnson aus Geltungssucht das Land in die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt und pfeifen jetzt darauf, für das von ihnen Angerichtete die Verantwortung zu übernehmen. Triumphieren können nur rassistische Nationalisten wie der Putin-Bewunderer Nigel Farage, dessen wahres Anliegen keineswegs mehr Unabhängigkeit und Demokratie für Großbritannien ist (das nun vielmehr vor dem Auseinanderbrechen steht), sondern die Zerstörung der transatlantischen westlichen Nachkriegsordnung insgesamt. Mit seinen völkisch-nationalistischen Kumpanen auf dem Kontinent und dem Spiritus Rector im Kreml freut er sich jetzt darüber, diesem Ziel einen bedrohlichen Schritt näher gekommen zu sein. Es bleibt ein Rätsel, wie selbst ernst zu nehmende Köpfe darauf kommen konnten, narzisstische Schaumschläger wie Johnson und sogar Demagogen wie Farage (der eher in der Nachfolge von Oswald Mosley steht, dem britischen Faschistenführer der 1930erJahre) auch nur im Entferntesten mit dem Erbe Winston Churchills oder Margaret Thatchers in Verbindung zu bringen. Das beschmutzt das Andenken dieser großen Gestalter der westlichen demokratischen Zivilisation. Dass die EU Reformbedarf hat, steht indes außer Frage. Und ebenso, dass viele Briten, die dazu Nein gesagt haben, von ernsten Sorgen getrieben werden. Doch die Prämissen der Debatte über die Verbesserung der EU dürfen nicht von radikalen Feinden der liberalen Demokratie und der Solidarität unter den freien westlichen Nationen diktiert werden. Unwürdig ist es, wenn sich europäische Politiker jetzt der Mär vom volks- und völkerfeindlichen Moloch Brüssel anzupassen versuchen. Und suggerieren, „weniger Europa“ und mehr nationale Selbstbezogenheit werde dieses demokratischer machen. Ebenso verheerend sind die Versuche, sich die Katastrophe des Briten-Austritts als „Chance für Europa“ schönzureden. Schon gar, wenn mit der ersehnten EU-„Neugründung“ ein gigantischer „sozialer“ Planwirtschaftsstaat gemeint ist. Soll die EU fortbestehen, gilt es jetzt, offensiv zu ihren Errungenschaften und ihrer epochalen Idee einer postimperialen Struktur gleichberechtigter Staaten zu stehen. Ihr muss Großbritannien unbedingt verbunden bleiben, so oder so. [email protected] Seite 20 Im Minus So klingt der Brexit Seite 15 Deutsche Künstler übersetzen das Auf und Ab der Börsen in Musik – und zeichnen dabei zufällig den EU-Austritt der Briten auf DAX Dax Schluss Euro EZB-Kurs Punkte US-$ 9268,66 –3,02% ↘ Dow Jones 17.40 Uhr 1,0998 17.136,51 –0,61% ↘ –1,52% ↘ Punkte ANZEIGE Superschiffe – Kombicarrier Stena Britannica Heute um 21.05 Uhr Wir twittern Diskutieren live aus dem Sie mit uns Newsroom: auf Facebook: twitter.com/welt facebook.com/welt „Die Welt“ digital Lesen Sie „Die Welt“ digital auf allen Kanälen – mit der „Welt“-App auf dem Smartphone oder Tablet. Attraktive Angebote finden Sie auf welt.de/digital oder auch mit den neuesten Tablets auf welt.de/bundle D as Ende Europas, wie wir es kennen, klingt ziemlich schön. Zuerst hört man Geigen, meisterhaft gespielt, mit rasanten Sprüngen von Ton zu Ton. Dann setzen – in dunklen, kraftvollen Stößen – Posaunen und Klarinetten ein. Jede Note ist klar, alles scheint perfekt zu sitzen. Es müssen Virtuosen sein, die hier am Werk sind. Wie lange hat das Ensemble dafür geübt: Wochen, Monate, ein Jahr? VON STEFAN BEUTELSBACHER Die Wahrheit lautet: überhaupt nicht. Es gibt gar kein Ensemble. Tatsächlich spielen nicht Menschen diese düstere Melodie – die Finanzmärkte spielen sie. Der deutsche Leitindex Dax, begleitet vom Ölpreis der Sorte Brent und dem Kurs des britischen Pfunds. Seit 2015 arbeitet der Komponist Thomas Seher daran, das Auf und Ab der Börsen in Musik zu übersetzen. Nun hat er dabei zufällig den Brexit aufgezeichnet. Die schnellen Tonsprünge, die dunklen Stöße – das ist der Sound des zerbrechenden Europas. Das „Börsenorchestrion“, wie Seher seine Installation nennt, die man am Wochenende in Berlin besuchen konnte, macht zum ersten Mal die globalen Finanzströme hörbar. Die Streicher geben den Dax wieder, die Blechbläser den Ölpreis, die Holzbläser den Wert des Pfunds im Vergleich zum Euro. Die britische Währung hat Seher hinzugenommen, als er erfuhr, dass just zum Zeitpunkt seiner ersten Ausstellung die Briten über den Verbleib in der Europäischen Union abstimmen würden. Eine gute Entscheidung, um den Brexit erfahrbar zu machen. Das Pfund fiel am Freitag der vergangenen Woche um fast sechs Prozent – die Klarinetten überschlugen sich geradezu. Fünf Mal in der Sekunde rufen Sehers Computer die Notierungen ab. Jeden Ausschlag rechnen sie in einen Ton um. Steigen die Kurse, werden die Melodien heller. Sinken die Kurse, wird die Musik finster und schwer. Mal erklingen die Börsen in Dur, mal in Moll, aber eines bleibt gleich: ihr erratischer Rhythmus. Bei jedem Zucken der Instrumente wechselt Kapital die Seiten. Jede Note steht für Millionen, die verschoben werden, irgendwo auf dem Planeten. Finanzmusik könnte man das Genre nennen, das Seher und seine Künstlerkollegen Dominik Steinmann, Jörn Barkemeyer und Georg Werner erfunden haben. Seher, der sonst Theatermusik für „Hamlet“ und das „Wintermärchen“ schreibt, hat noch nie in seinem Leben eine Aktie besessen. Dennoch fasziniert ihn die Börse. „Die weltweite Bewegung des Geldes spiegelt alles wider“, sagt er. „Wirtschaftliche Entwicklungen, politische Entscheidungen, die Ängste und Hoffnungen der Menschen.“ Die Sequenz, die er in den Minuten des EUAustritts aufzeichnete, hat Seher „Brexit-Requiem“ genannt – weil sie so düster klingt. Ein Requiem ist ein Totengesang. T Den Klang des Brexit können Sie in vereinfachter Form auf welt.de hören: welt.de/brexitmusik DIE WELT, Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin, Redaktion: Brieffach 2410 Täglich weltweit in über 130 Ländern verbreitet. Pflichtblatt an allen deutschen Wertpapierbörsen. Telefon: 030 / 2 59 10 Fax 030 / 259 17 16 06 E-Mail: [email protected] Anzeigen: 030 / 58 58 90 Fax 030 / 58 58 91 E-Mail [email protected] Kundenservice: DIE WELT, Brieffach 2440, 10867 Berlin Telefon: 0800 / 9 35 85 37 Fax: 0800 / 9 35 87 37 E-Mail [email protected] A 3,20 & / B 3,20 & / CH 5,00 CHF / CZ 95 CZK / CY 3,40 & / DK 25 DKR / E 3,20 & / I.C. 3,20 & / F 3,20 & / GB 3,00 GBP / GR 3,40 & / I 3,20 & / IRL 3,20 & / L 3,20 & / MLT 3,20 & / NL 3,20 & / P 3,20 & (Cont.) / PL 15 PLN / SK 3,20 € + © Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer SE, Berlin - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.axelspringer-syndication.de/lizenzierung DW-2016-06-28-zgb-ekz- 9ad464de6830786df2a5e25d7722c9f6 ISSN 0173-8437 149-26 ZKZ 7109
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