taz.die tageszeitung

Lügen: Eine anthropologische Konstante
taz Panter-Workshop über halbe und erfundene Wahrheiten ▶ taz.akademie Seite I - IV
AUSGABE BERLIN | NR. 11054 | 26. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
MONTAG, 27. JUNI 2016 | WWW.TAZ.DE
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Europe: What‘s left?
GEZEICHNET Frankreich
gegen Irland. Das ganze
Spiel in einem Bild
von Felila ▶ SEITE 17
HILFE Karin Grafe
engagiert sich bei
Help a Refugee. Dort
hat sie viel über uns
gelernt. Was genau,
hat sie Gabriele Goettle
erzählt ▶ SEITE 12, 13
VORWÄRTS Wie Europa nach dem
Brexit wieder attraktiv werden
kann. Und was Gregor Gysi
dazu sagt SEITE 2, 3
ABWÄRTS Wer jetzt für die
Konservativen den Karren in
den Dreck fährt. Und warum
die Börse jubelt SEITE 4
RÜCKWÄRTS Wieso Tausende
Briten ein neues Referendum
wollen. Und was das alles für
Labour bedeutet SEITE 5
BERLIN Lehrer aus
Österreich sollen die
Lücken an den Schulen
schließen ▶ SEITE 21
Abbildungen: taz
PROH I BI DO
Guten Tag,
liebe EuropäerInnen!
Nach dem Arschtritt, den euch
die bad old boys in England
gegeben haben, reißt ihr euch
voll am Riemen, um Europa zu
retten, don’t you? Angie ruft
ihre buddies zum Krisengipfel
– nach Berlin, um zu zeigen,
wer den Hosenanzug anhat.
¡Hostia puta! Und A
­ ußensteini
will mit Terrorbekämpfung die
Massen für die EU begeistern.
¡Joder! So viel Stumpfsinn
macht wütender als der Brexitshit jenseits des Kanals. ¡Me
cago en la leche! prohibido
bleibt hoffnungsvoll und liest
auf taz.de die nach Redaktionsschluss eintrudelnden Wahlergebnisse aus Spanien.
¡Sí se puede! ¡Sí se puede!
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Wenigstens die Ampel ist grün: Briten nach dem kalten Schauer am Samstag in London Foto: Adam Ferguson/NYT/Redux/laif
KOMMENTAR VON GEORG LÖWISCH ZU EUROPA NACH DEM BREXIT
W
ozu ist die EU da? Für den Frieden, hat Angela Merkel nach dem
Ja zum Brexit gesagt. Wir sollten
nie vergessen, mahnt die deutsche Kanzlerin, „dass die Idee der europäi­schen Einigung eine Friedensidee war“.
Die Gefahr, dass dies jemand vergisst,
ist gering. Weil Merkel es gern mal sagt,
wenn die EU vor schwierigen Entscheidungen steht. Der Frieden ist ihre Begründung dafür geworden, dass andere
mitmachen, was sie für alternativlos hält.
Die Friedensidee ist Merkels Krisenidee.
Was stimmt: Der Frieden ist das Urversprechen der europäischen Einigung. 1946, ein Jahr nachdem die Hölle
des Zweiten Weltkriegs vorbei war, sagte
der britische Premier Winston Churchill,
nur eine Art Vereinigte Staaten von Europa könne den Frieden bringen.
Mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Vorgängerin der
EU, wurde die Vision zum Versprechen.
Es ist gehalten worden, und es war gut,
dass es immer wieder erneuert und eingefordert wurde. „Le nationalisme, c’est
la guerre“, sagte Frankreichs Präsident
François Mitterrand 1995: Nationalismus
bringt den Krieg. Seine Rede war ein starkes, ein wichtiges Plädoyer.
Aber wenn Merkel jetzt das Friedensversprechen aufruft, wirkt das wie ein
hilfloser Reflex. Sie hat nichts anderes.
Im Jahr 2016 fehlen der EU Projekte,
Frieden und Freizügigkeit
die sie verbinden, und Ideen, die der
Gemeinschaft Sinn stiften. Das zweite
große Versprechen, der wirtschaftliche
Wohlstand, ist diskreditiert. Es gilt für zu
wenige: für die Länder des Nordens und
selbst dort nur für einen Teil der Bevölkerung. Und weil der Euro mit nervtötender Regelmäßigkeit gerettet werden
muss, ist auch das Ideal wirtschaftlicher
Stabilität arg ramponiert.
Merkel weiß das, deshalb erklärt sie
den Sinn der EU damit, dass der Zusammenschluss der Staaten eine globale
Macht bilde. Nur leider vermag diese
Macht nichts gegen weltweite Zockerwirtschaft und Geldversteckerei auszurichten. Sie zwingt nicht einmal Konzerne wie Google oder Ikea dazu, der
Gemeinschaft mehr als ein Taschengeld
vom Gewinn abzugeben.
Europa kann zu wenig vorzeigen. Es
begeistert nicht. Es bindet nicht. So bleibt
allein der Frieden. Ja, Frieden ist sehr viel.
Aber sieben Jahrzehnte nach 1945 ist er
vielen zu wenig. Sie sagen sich, dass die
Vereinigten Staaten von Amerika letztlich die Sicherheit der uneinigen Staaten
Europas garantieren.
Deshalb muss die EU ein neues identitätsstiftendes Projekt fokussieren, das
außerhalb des Brüsseler Kommissionsgebäudes Bestand hat. Und das muss
nicht einmal neu erfunden, sondern nur
gesehen und gestärkt werden.
Wozu also ist Europa da? Mehr Gerechtigkeit tut not. Aber wer denkt, dass sich
die Brüsseler Gipfel in den nächsten Jahren zu einer Art Sozialistischer Internationale entwickeln, sollte sich lieber ein
Märchenbuch kaufen.
Ein aussichtsreicheres Projekt ist die
europäische Freizügigkeit, die mehr ist
als Reisefreiheit: das Recht, innerhalb
der Union zu leben, zu arbeiten, zu lernen, sich zu engagieren und alt zu wer-
Die EU braucht ein
neues identitätsstiftendes
Projekt, das viele bindet
den, wo man will. Es ist ein Versprechen,
das schon gelebt wird. Es ist der Grund,
warum so viele Junge in Großbritannien
gegen den Brexit gestimmt haben.
Doch gut sieht es nicht aus für die Freizügigkeit. Die entsolidarisierte Staatengemeinschaft hat auf die Flüchtlinge
mit neuen innereuropäischen Grenzen
reagiert. Das schrankenlose Europa hat
sich wieder eingeschränkt. Die Wilders’,
Straches, Le Pens und Petrys greifen das
offene Europa an. Längst geht die GeldNeid-Angst-Debatte europäischer Na­tio­
na­lis­ten auch gegen andere Europäer.
Seit Bulgarien und Rumänien in der EU
sind, sinniert der deutsche Populismus
darüber, wie die Neuen von der Arbeitslosenversicherung ferngehalten werden
können.
Die bornierten Gegner der Freizügigkeit unterschätzen, wie viele von ihr profitieren. Der Studierende, der es genießt,
zwischen den Sprachen, Städten und
Stimmungen zu wechseln. Die Akademikerin, die im Hochgeschwindigkeitszug
zwischen den Orten und Aufgaben pendelt. Der Bauarbeiter, der monatsweise in
boomenden Städten arbeitet und dann
wieder zu Hause. Oder die deutsche Ruheständlerin, die in Portugal mit ihrer
Rente besser leben kann.
Die Freizügigkeit ist für viele so wichtig, dass die Debatte über sie gewonnen
werden kann. Wenn sich erst einmal
­herumgesprochen hat, dass innereuropäische Einwanderung guttut, dann ist
vielleicht bald eine Mehrheit für die Öffnung Europas nach außen.
Jetzt geht es erst einmal darum, wie
die Verhandlungen über das künftige
Verhältnis der EU zu Großbritannien geführt werden: pragmatisch und besonnen – oder mit der Peitsche, um Nachahmer abzuschrecken. Die größte Härte, die
Europa den britischen Nationalisten antun kann, ist die Freizügigkeit. Wer mit
der EU zu neuen Deals kommen will,
sollte Bescheid bekommen, dass sie nicht
verhandelbar ist.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Europe: What’s left?
EU-KOMMISSAR
Brite Hill tritt zurück,
Lette übernimmt
BRÜSSEL | Der britische EU-Fi-
nanzmarktkommissar
Jonathan Hill hat nach dem Brexit-Votum seinen Rücktritt erklärt. „Ich glaube nicht, dass
es richtig wäre, jetzt als britischer Kommissar weiterzumachen, als ob nichts geschehen
wäre“, sagte Hill. Seine Aufgaben
übernimmt der lettische VizeKommissionspräsident Valdis
Dombrovskis, der auch für den
Euroraum zuständig ist. Kommissionspräsident Jean-Claude
Juncker versuchte Hill nach eigenen Angaben zu überreden,
im Amt zu bleiben: „Ich halte
ihn für einen wahren Europäer
und nicht einfach für den britischen Kommissar. Dennoch verstehe und respektiere ich seine
Entscheidung.“ (rtr)
NORDI RLAN D
Großes Interesse
an irischen Pässen
Schwerpunkt
MONTAG, 27. JU N I 2016
Nach der Brexit-Entscheidung ist vor dem Brexit: eine Herausforderung
für Europäer wie Briten. Jede Seite verfolgt dabei eigene Interessen
Berlin, heimliche Hauptstadt Europas
REDEN Deutschland übernimmt nach der Brexit-Entscheidung die Initiative zur Rettung der Europäischen
Union. Dabei äußert Außenminister Steinmeier offenbar andere Vorstellungen als die Bundeskanzlerin
AUS BERLIN TOBIAS SCHULZE
Offiziell ist Berlin noch nicht
neuer Sitz der EU. Das Europaparlament ist am Wochenende
nicht an die Spree gezogen. Das
Treffen der EU-Regierungschefs
findet in dieser Woche nicht im
Kanzleramt statt.
Inoffiziell hat sich die Macht
innerhalb Europas nach dem
Brexit aber in Richtung Deutschland verschoben: Zu gleich zwei
Minigipfeln innerhalb von drei
Tagen hat die Bundesregierung
ihre Partner nach Berlin geladen. Zusammen mit einer handvoll ausgewählter EU-Staaten
plant sie die Zukunft der Union.
Die wichtigsten Gesprächspartner kommen dabei aus Frankreich – zumindest aus Sicht des
Auswärtigen Amts.
Das Haus von Außenminister Frank-Walter Steinmeier
(SPD) hatte am Freitagmorgen
um kurz nach 9 Uhr als erstes
reagiert: Das Brexit-Ergebnis
war erst wenige Stunden alt, als
das Ministerium ein schon länger geplantes Sechser-Treffen
in Berlin ankündigte. Bereits einen Tag später beriet sich Steinmeier dort mit den Außenministern der einstigen europäischen Gründerstaaten: Belgien,
Frankreich, Italien, Luxemburg
und die Niederlande.
Die Eile des Ministeriums
kommt nicht von ungefähr: Niemand in der Bundesregierung
ist über den Brexit so schockiert
wie Steinmeier. Für viele Mitarbeiter des Auswärtige Amts
fühlt sich das britische Referendum an wie der Fall der Berliner
Mauer – nur umgekehrt.
Entsprechend drängt Steinmeier nun auf schnelle Maßnahmen, damit andere Staaten
dem britischen Vorbild nicht
folgen. Die Regierung in Lon-
don müsse zunächst die von
den Wählern „getroffene Entscheidung so schnell wie möglich umsetzen“, schreibt er in einem gemeinsamen Papier mit
seinen fünf Kollegen. Hinterher
müssten innerhalb Europas Reformen her: „Wir sind fest entschlossen, ein besseres Funktionieren der EU zu erreichen.“
Konkreter wird der Außenminister in einem zweiten Papier. Verfasst hat er es gemeinsam mit seinem französischen
Amtskollegen, dem ehemaligen
Deutschlehrer Jean-Marc Ayrault. „Deutschland und Frankreich stehen in der Verantwortung, die Solidarität und den Zusammenhalt innerhalb der EU
zu stärken“, heißt es darin.
Drei Bereiche hat sich das
deutsch-französische Duo dafür herausgesucht: Erstens wollen die beiden die europäische
Sicherheitspolitik
ausbauen
– sowohl nach außen durch
mehr Militär als auch nach innen durch gemeinsame AntiTerror-Maßnahmen. Zweitens
wollen sie es doch endlich schaffen, in der Flüchtlingspolitik die
„Nutzen und Lasten gerecht unter den Mitgliedstaaten verteilen“. Drittens wollen sie in der
Währungs- und Wirtschaftspolitik umsteuern – unter anderem
durch „Investitionen in den von
der Krise am stärksten betroffenen Staaten“. Es geht also auch
um einen Schritt weg von der
Austeritätspolitik.
Zumindest bei dieser Forderungen fehlt den beiden Außenministern aber die Unterstützung einer wichtigen Figur:
Kanzlerin Angela Merkel.
Sie empfängt heute zum
zweiten Minigipfel den französischen Präsidenten François Hollande und den italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi
in Berlin. Hollande hatte schon
am Freitag mehr Investitionen
für Wachstum und Arbeitsplätze
in Europa gefordert. Renzi ist
ebenfalls als Kritiker der Austeritätspolitik bekannt. Von Merkel waren solche Töne aber zu
keinem Zeitpunkt zu hören.
Eine Abkehr von der Sparpolitik
in Europa könnte sie ihrer Partei auch nur schwer vermitteln.
Mit weiteren Maßnahmen
hat es die Kanzlerin ebenfalls
weniger eilig als ihr Außenminister. „Ruhe und Besonnenheit
sollen unsere Haltung prägen“,
sagte Merkels Sprecher unmittelbar nach der Brexit-Entscheidung.
Stellt sich nur eine Frage: Warum will Merkel unbedingt noch
vor dem EU-Gipfel (Dienstag
und Mittwoch in Brüssel) in Berlin mit Hollande und Renzi sprechen? Um sie von der Linie der
Außenminister abzubringen?
LONDON | Etliche Nordiren inte-
ressieren sich nach dem BrexitVotum der Briten für die irische
Staatsbürgerschaft. Die nordirische Postbehörde teilte am
Samstag mit, dass man eine ungewöhnlich hohe Zahl an Menschen aus Nordirland bemerkt
habe, die sich um einen irischen Pass bemühten. Nordirland ist Teil des Vereinigten Königreichs. Die meisten dort geborenen Menschen können aber
auch Anspruch auf eine Staatsbürgerschaft des EU-Staates Irland erheben. Während die Briten am Donnerstag insgesamt
mit 52 zu 48 Prozent für einen
Austritt aus der EU gestimmt
hatten, votierte die Mehrheit der
Wähler in Nordirland für einen
EU-Verbleib. (ap)
„Deutschland und
Frankreich stehen in
der Verantwortung“
AUSSENMINISTER AUS PARIS UND BERLIN
BRITISCH E MI N ISTERI N
Coming-out nach
Brexit: „Besser raus“
LONDON | Die britische Ministe-
rin für Internationale Entwicklung, Justine Greening, lebt nach
eigenen Worten mit einer Frau
zusammen. „Heute ist ein guter Tag, um zu sagen, dass ich
in einer glücklichen gleichgeschlechtlichen Beziehung bin“,
schrieb die konservative Politikerin am Samstag auf Twitter.
Sie habe zwar für einen Verbleib
Großbritanniens in der EU gekämpft – „aber manchmal ist
es besser für dich, wenn es raus
ist“. Dazu stellte die 47-Jährige
das Schlagwort „Pride2016“, in
Anspielung auf ein Festival von
Homo-, Bi- und Transsexuellen
in London. Noch-Premier David Cameron gratulierte Greening auf Twitter: „Das sind tolle
Nachrichten.“ (dpa)
Die deutsch-französische Achse bekommt wieder Gewicht: Adenauer und de Gaulle bei der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags 1963 Foto: Ullstein Bild
Um ihnen das Ende der Austeritätspolitik auszureden?
So oder so: Nicht überall in
Europa kommen die Berliner
Gipfeltreffen gut an. Eine Reihe
kleiner Mitgliedstaaten, vor allem im Osten, fühlt sich ausgeschlossen. „Solche Initiativen sind ein Fehler, weil sie die
Union spalten“, sagte etwa Polens
Außenminister Witold Waszczy­
kowski. Der Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich (Linke) wunderte sich über den Außenministergipfel am Wochenende. „Wer
Kerneuropa jetzt stärkt, macht
die EU kaputt“, sagte er.
Nur einer kann diese Aufregung gar nicht verstehen: der
frühere grüne Europapolitiker
Daniel Cohn-Bendit, die personifizierte deutsch-französische
Achse. „Diese Debatte halte ich
für lächerlich“, sagt er. „Jeder
Premier kann jeden anderen besuchen, Sliwowitz trinken und
eigene Initiativen einreichen.
Am Ende ist entscheidend, welche Mehrheiten es im Rat und
im EU-Parlament gibt.“
Bis zum Brexit ist es noch ein weiter Weg
RAUS
Brüssel möchte die Briten rasch aus der EU verabschieden, Berlin bremst. Selbst über den Austrittsantrag gibt es Streit
BRÜSSEL taz | Schnell oder lang-
sam, hart oder soft: Es gibt viele
Möglichkeiten, die Briten aus
der EU zu entlassen. Der viel zitierte Artikel 50 des LissabonVertrags, der jetzt zum ersten
Mal eingesetzt wird, setzt nur
den rechtlichen Rahmen.
„Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat (EU-Gipfel) seine
Absicht mit“, heißt es da. Danach
beginnen die Verhandlungen
über ein Austrittsabkommen.
Sobald man sich geeinigt hat,
spätestens aber nach zwei Jahren, sind die Briten draußen.
Wann der Antrag gestellt werden muss und wie er aussehen
soll, steht aber nicht im EU-Vertrag. Und genau über diese beiden Punkte gibt es politischen
Streit. Er birgt fast so viel Sprengstoff wie der Brexit selbst.
Denn der britische Noch-Premier David Cameron spielt auf
Zeit: Er habe nicht die Absicht,
beim EU-Gipfel am kommenden
Dienstag den Austrittsantrag zu
stellen, sagte er. Offenbar will
Cameron diese undankbare Aufgabe seinem Nachfolger überlassen, der aber erst im Herbst
ernannt werden soll.
Demgegenüber fordert Brüssel, jetzt keine Zeit zu verlieren.
„Ich hätte den Austrittsbrief
gern sofort“, sagte Kommissionschef Jean-Claude Juncker.
Ziel sei eine „möglichst schnelle
und einvernehmliche Scheidung“, meinte der Chef der Liberalen im EU-Parlament, Belgiens Expremier Guy Verhofstadt.
Dahinter steckt nicht nur der
Ärger über Cameron. Es geht
auch um die Sorge, dass London
versuchen könnte, Brüssel Sonderkonditionen für den Austritt
abzupressen – etwa, indem man
EU-Beschlüsse blockiert.
Scheidungskriege oder
Gentlemen’s Agreement
Möglich wäre das durchaus.
Denn solange der Brexit nicht
perfekt ist, bleibt Großbritannien ein EU-Mitglied mit allen
Rechten und Pflichten. In wichtigen Fragen könnte eine neue,
europafeindliche britische Regierung die EU somit erpressen.
Je länger London den Scheidungsantrag
hinauszögert,
desto größer wird die Unsicherheit. Einige EU-Politiker
spielen daher mit dem Gedanken, die für Dienstagabend beim
EU-Gipfel erwartete mündliche
Erklärung Camerons zum Ausgang des britischen Referendums als Austrittserklärung zu
werten.
Doch da dürfte Kanzlerin Angela Merkel nicht mitspielen. Sie
will keinen Druck auf Cameron
ausüben. Beim EU-Gipfel könnte
das für Streit sorgen, denn die
meisten anderen Länder drücken aufs Tempo. Sie möchten
so schnell wie möglich im 27erFormat – also ohne Cameron –
über den Brexit und die Konditionen sprechen. Denn auch
beim Scheidungsvertrag steckt
der Teufel im Detail.
Schließlich geht es nicht nur
darum, die Pensionsansprü-
che für britische EU-Beamte
zu klären. Entscheidend wird
sein, ob die Verhandlungen
mit einem freundschaftlichen
Gentleman’s Agreement oder
mit einem Scheidungskrieg voller Rachegelüste enden.
Das ist nicht nur für London
wichtig, sondern auch für andere EU-Länder. So setzt sich
Frankreich für möglichst harte
Konditionen ein, um mögliche
Nachahmer
abzuschrecken.
Eine weiche Linie scheint dagegen Merkel zu bevorzugen.
Schon vor dem Referendum
hatte sie die Devise ausgegeben, dass die EU und Großbritannien in jedem Fall Freunde
bleiben sollten. Aber für gute
Geschäfte soll es auf jeden Fall
ERIC BONSE
noch reichen.
Schwerpunkt
Europe: What’s left?
MONTAG, 27. JU N I 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Nach dem vom Ergebnis des Brexit-Referendums verursachten
Schock fragt sich die gemäßigte Linke in der EU: Was tun?
AUS ROM MICHAEL BRAUN
Wirklich überraschend am Brexit ist vor allem eines: dass keiner ihn so richtig erwartet hat.
Denn angeblich ist das, was die
britischen Wähler da angestellt
haben, zutiefst irrational, dieses
Einigeln hinterm Gartenzaun,
dieses Hochziehen der Zugbrücken. Und die Schuldigen sind
schnell ausgemacht, vom Zauberlehrling David Cameron zur
englischen Presse mit ihrer europafeindlichen Giftspritzerei.
Ertragreicher wäre es j­ edoch,
statt der Schuldfrage die nach
der Verantwortung zu stellen.
Schließlich sind die Wähler
nicht nur im Vereinigten Königreich wild geworden: Mit teils
radikal unterschiedlichen Vorzeichen stimmen quer durch
die Europäische Union ebenso
wie in den Vereinigten Staaten
von Amerika Bürger in Massen
für Protest-, für „Anti-System“Kräfte, für die klar links aufgestellten Podemos und Syriza
in Spanien und Griechenland,
für die sich dem Rechts-linksSchema entziehenden „Fünf
Sterne“ in Italien, für Rechtspopulisten von Skandinavien über
Österreich bis Frankreich und
Großbritannien.
Bei allen Differenzen zwischen diesen Parteien haben
diese doch eines gemein: Sie
mobilisieren massiv jene Wähler, die früher einmal die Kernklientel der Sozialdemokratie
stellten, die „einfachen Leute“,
die Arbeiterklasse oder das, was
von ihr noch übrig ist, in den
Hochburgen Labours im Nordosten Englands beim Brexit-Referendum, in den Arbeitervierteln von Wien – 86 Prozent der
österreichischen Arbeiter votierten für den FPÖ-Mann Hofer! –, im Pas-de-Calais in Frankreich. Und in Italien heißt die
Arbeiterpartei heute Movimento5Stelle.
Um die Erfüllung des Wohlstandsversprechens für die Bürger müsse sich Europa wieder
kümmern, sagt jetzt SPD-Chef
Sigmar Gabriel. Wie wahr! Allerdings wäre hinzuzufügen, dass
jenes Versprechen gegenwärtig
nicht bloß unzureichend „erfüllt“ würde: Es ist seit nunmehr
diversen Jahrzehnten schlicht
gekündigt.
Ein Pensionär lehnt sich beim Warten auf die Auszahlung seiner Rente an die Tür der griechischen Nationalbank in Athen Foto: Yannis Behrakis/reuters
Korrigiert den Kapitalismus!
LINKE Die Sozialdemokraten in Europa werden zur aussterbenden Spezies – wenn sie
sich nicht endlich wieder um die Erfüllung des Wohlstandsversprechens kümmern
Bis Ende der 70er Jahre galt
im westlichen Kapitalismus:
Wer arbeitete, durfte die Hoffnung haben, dass sein Einkommen stieg, dass die Urlaube länger, die Arbeitszeiten kürzer
würden, dass der Sozialstaat mit
allem Drum und Dran, mit Renten, Gesundheitswesen, Familienleistungen ausgebaut wurde,
dass die Kinder wachsenden Zugang zu Bildung haben würden.
Damit ist es seit der neoliberalen Wende vorbei. „Bereichert
euch“, hieß nun die Losung – mit
dem neuen Hütchenspieler-Ver-
03
sprechen, der wachsende Wohlstand ganz oben werde schon
auch nach unten „durchsickern“.
Und die Sozialdemokratie? Sie
setzte sich mit ihren „Dritte
Weg“-Kursen seit den 90er Jahren auf ebendiesen Zug, ihrerseits versichernd, die Entfesselung der Märkte werde allen
nützen.
Genau im gleichen Takt funktionierte die Europäische Union:
Binnenmarkt, Euro, Arbeitnehmerfreizügigkeit waren die
Stichworte einer Entgrenzung,
deren angeblichen Milliarden-
Seit den 90er Jahren
sitzt die Sozial­
demokratie auf dem
­neoliberalen Zug
Prosperitätsgewinne von kundigen Ökonomen berechnet wurden. Unten und selbst in der
Mitte der Gesellschaft kam jedoch faktisch ein ganz anderes
Signal an. Das nunmehr faule
Versprechen erwies sich faktisch als Drohung.
Sinkende, bestenfalls stagnierende Realeinkommen, fortschreitende Prekarisierung, die
realistische Aussicht auf Altersarmut auf der einen Seite, explodierende Einkommen und Vermögen auf der anderen – dies
ist heute das Gesicht der entfesselten „Marktwirtschaft“. Natürlich kann man jetzt LabourChef Jeremy Corbyn vorwerfen,
er habe sich nicht genügend gegen den Brexit gestemmt; doch
er hat recht, wenn er feststellt,
dass „viele Leute der Einschnitte
und der Austerity überdrüssig
sind“ oder dass „viele sich ausgegrenzt und in die Ecke gedrängt finden“.
Und in Europa agierte die EU
spätestens seit der Euro-Krise
für zahlreiche Länder gleich
nur noch als Bedrohungs-Agentur, als unbeugsamer Sparkommissar, der heute in weiten Zonen des Kontinents für sinkende
Löhne, geschrumpfte Sozialleistungen, horrende Jugendarbeitslosigkeit steht. Auch Gabriel spricht nunmehr von der
„massiven Spaltung zwischen
Gewinnern und Verlierern“ in
der EU; deren Status quo hat auf
seiner Seite nur noch „Tina“ als
Argument: „There ist no alternative“, wer nicht pariert, dem geht
es am Ende noch viel schlechter.
Wie man auf dieser Basis dauerhaft Kapitalismus und Demokratie beisammenhalten will,
wie ihrerseits die Sozialdemokratie fürs einfache Volk wählbar bleiben (oder wieder werden) will, ist die spannende
Frage. Da geht es nicht um die
europäische „Erzählung“, um
mehr oder weniger „Leidenschaft“ beim Einsatz fürs große
europäische Werk. Und es geht
auch nicht um sozialdemokratische Erfolge wie den Mindestlohn oder die Rente mit 63, um
ein bisschen Palliativmedizin,
die am neoliberalen Lauf der
Dinge kaum etwas ändert.
Die Sozialdemokratien in Europa laufen die Gefahr, zur aussterbenden Spezies zu werden;
in Griechenland hat es die Pasok
schon vorgemacht. Aber auch in
Deutschland könnte in Zukunft
ein SPD-Kanzlerkandidat mit einer „18“ unter den Schuhsohlen
in den Wahlkampf ziehen, darauf hoffend, jenes Resultat zu erzielen, von dem einst Guido Westerwelle für die FDP träumte. Im
besseren Fall könnten dann radikal linke Kräfte wie Podemos
und Syriza an ihre Stelle treten,
im schlechteren Fall bliebe die
Vertretung des einfachen Volks
den Rechtspopulisten überlassen.
Umkehren lässt sich dieser
Trend wohl nur, wenn auch die
gemäßigt linken, die sozialdemokratischen Kräfte in Europa
ernsthaft wieder werden wollen, was sie früher waren: ein
ernsthaftes Korrektiv des Kapitalismus.
„Es gibt überhaupt keinen Anlass zur Freude“
PERSPEKTIVE
Um das vereinte Europa zu retten, müssen Linke und linke Parteien sowohl EU-kritischer werden als auch proeuropäischer, sagt Gregor Gysi
taz: Herr Gysi, die Linke reagiert auf den Brexit nach dem
Motto: Wir haben ja immer gesagt, dass die EU undemokratisch und unsozial ist, und das
ist jetzt die Quittung! Sehen Sie
das auch so?
Gregor Gysi: Das ist richtig,
aber daraus müssen die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden.
Welche?
Jetzt muss die Linke meines Erachtens um die Rettung der EU
kämpfen und das verbinden mit
Vorschlägen, wie sie endlich demokratischer, sozialer, ökologisch nachhaltiger, transparenter und unbürokratischer sowie
von den Bevölkerungen akzeptiert wird. Wissen Sie, was der
Grundfehler der EU war?
Was denken Sie?
Dass eine Verfassung geschrieben worden ist, die von zwei Bevölkerungen mehrheitlich abgelehnt worden ist. Da gab es
zwei Wege: Der eine wäre gewesen, dass man eine Verfassung
schreibt, die von der Mehrheit
der Bevölkerungen aller EUStaaten akzeptiert wird. Und
der andere Weg war zu tricksen. Man lässt ein halbes Kapitel weg, dann ist es keine Verfassung mehr und kann ohne die
Bevölkerungen
entschieden
werden. Man hat sich für den
zweiten Weg entschieden. Und
dafür bezahlen wir jetzt auch.
Also doch klammheimliche
Freude über die Erosion der EU?
Es gibt überhaupt keinen Anlass zur Freude. Ich möchte
nicht, dass die EU kaputtgeht.
Die ganze Geschichte meiner
Familie verlangt nach der EU.
Sie verhindert Kriege zwischen
den Mitgliedsländern. Kriege
zwischen ihnen darf es nie wieder geben. Das wäre eine Katastrophe.
Sahra Wagenknecht meint: Es
gibt für einen Linken wenig
Grund, die EU, so wie sie heute
ist, zu verteidigen …
Wenig mag sein, aber es gibt
einen entscheidenden Grund:
die Erhaltung des Friedens zwischen ihren Mitgliedsländern.
Das ist mein wichtigstes Anliegen. Außerdem hätten die alten Nationalstaaten einzeln weder ausreichend politische noch
wirtschaftliche Bedeutung weltweit, gegenüber den USA, China
und anderen.
Muss die Linke also jetzt EUkritischer werden oder pro­
europäischer?
Beides. Wir müssen die EU kritisieren, wir müssen Vorschläge
machen, wie sie besser organisiert werden kann, und gleichzeitig für ihre Rettung eintreten.
Komplex!
Leichter ist es nicht zu haben.
Welche Folgen wird der Brexit
für die EU haben?
Der Brexit ist eine Tragik für
Großbritannien, aber auch für
die Europäische Union. Im Unterschied zu Martin Schulz
glaube ich, dass es eine gewisse
Kettenreaktion geben kann. Die
Schotten wollen einen neuen
Volksentscheid, wenn die aus-
treten, ist auch Großbritannien
kaputt. Und wenn Le Pen nächstes Jahr die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnt
und Frankreich die EU verlässt,
ist sie mausetot. Und ich möchte
nicht, falls das passiert, dass die
Linke dabeisteht als einer der
Totengräber. Sondern die Linke
muss dastehen als eine, die versucht hat, sie zu retten.
Kommt denn der Brexit der
Linken irgendwie entgegen?
Ich glaube nicht, dass der Brexit zum Aufschwung der Linken
führt, sondern zum Aufschwung
der Rechten. Und zwar in Frankreich und Holland – aber auch
in Deutschland. Und schon deshalb müssen wir aufpassen.
Wieso können die Linken nicht
von der allgemeinen EU-Verdrossenheit profitieren?
Wenn ein Rechter sagt: „Wir
müssen raus aus der EU“, ist
das einfach. Als Linker kritisiere ich und muss gleichzeitig
sagen, warum sie wichtig ist. Das
ist eine kompliziertere Antwort.
Was müssen die Linken in Europa anders machen? Offenbar
können sie sich ja gegenüber
rechten EU-Kritikern nicht ausreichend Gehör verschaffen …
Linke in Europa haben unterschiedliche Auffassungen zur
EU. Es gab immer Linke, die dagegen waren. Hinzu kommt,
dass linke Parteien in Europa
nach dem Zusammenbruch
des Staatsozialismus derart in
den Keller gegangen sind, dass
sie solche Fragen und Entscheidungen gar nicht dominieren
können. Jetzt gibt es eine neue
Stärkung der Linken in Griechenland, Spanien und Portugal. Je nachdem, wie die Wahlen
in Spanien ausgehen, kommen
von dort vielleicht neue Signale.
Die EU ist ja auch etwa Elitäres. Die Gutgebildeten, die, die
viel reisen, wissen sie zu schätzen. Die Armen, die Abgehängten, sind eher EU-kritisch. Wie
kann man denn proeuropäische linke Kritik auch in solchen Milieus verankern?
Das Wichtigste ist, dass man eine
proeuropäische Kritik so übersetzt, dass man damit auch die
Bevölkerung erreicht. Es sind ja
nicht nur elitäre Kreise, die für
die EU sind, es gibt auch eine
elitäre Ausdrucksweise: Wie erkläre ich etwa die Rolle der Europäischen Zentralbank? Die
einfachsten, aber falschen Antworten geben immer die Rechten. Und leider glauben denen
zu viele Leute.
INTERVIEW ANNA LEHMANN
Gregor Gysi
■■ist Bundestagsabgeordneter
der Partei Die Linke. Bis 2015
war er Fraktionsvorsitzender im
Bundestag
und seit
Amtsantritt
des dritten
Kabinetts
Merkel
Oppositionsführer.
Foto: reuters