Lügen: Eine anthropologische Konstante taz Panter-Workshop über halbe und erfundene Wahrheiten ▶ taz.akademie Seite I - IV AUSGABE BERLIN | NR. 11054 | 26. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MONTAG, 27. JUNI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Europe: What‘s left? GEZEICHNET Frankreich gegen Irland. Das ganze Spiel in einem Bild von Felila ▶ SEITE 17 HILFE Karin Grafe engagiert sich bei Help a Refugee. Dort hat sie viel über uns gelernt. Was genau, hat sie Gabriele Goettle erzählt ▶ SEITE 12, 13 VORWÄRTS Wie Europa nach dem Brexit wieder attraktiv werden kann. Und was Gregor Gysi dazu sagt SEITE 2, 3 ABWÄRTS Wer jetzt für die Konservativen den Karren in den Dreck fährt. Und warum die Börse jubelt SEITE 4 RÜCKWÄRTS Wieso Tausende Briten ein neues Referendum wollen. Und was das alles für Labour bedeutet SEITE 5 BERLIN Lehrer aus Österreich sollen die Lücken an den Schulen schließen ▶ SEITE 21 Abbildungen: taz PROH I BI DO Guten Tag, liebe EuropäerInnen! Nach dem Arschtritt, den euch die bad old boys in England gegeben haben, reißt ihr euch voll am Riemen, um Europa zu retten, don’t you? Angie ruft ihre buddies zum Krisengipfel – nach Berlin, um zu zeigen, wer den Hosenanzug anhat. ¡Hostia puta! Und A ußensteini will mit Terrorbekämpfung die Massen für die EU begeistern. ¡Joder! So viel Stumpfsinn macht wütender als der Brexitshit jenseits des Kanals. ¡Me cago en la leche! prohibido bleibt hoffnungsvoll und liest auf taz.de die nach Redaktionsschluss eintrudelnden Wahlergebnisse aus Spanien. ¡Sí se puede! ¡Sí se puede! TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.020 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Der Frieden ist ihre Begründung dafür geworden, dass andere mitmachen, was sie für alternativlos hält. Die Friedensidee ist Merkels Krisenidee. Was stimmt: Der Frieden ist das Urversprechen der europäischen Einigung. 1946, ein Jahr nachdem die Hölle des Zweiten Weltkriegs vorbei war, sagte der britische Premier Winston Churchill, nur eine Art Vereinigte Staaten von Europa könne den Frieden bringen. Mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Vorgängerin der EU, wurde die Vision zum Versprechen. Es ist gehalten worden, und es war gut, dass es immer wieder erneuert und eingefordert wurde. „Le nationalisme, c’est la guerre“, sagte Frankreichs Präsident François Mitterrand 1995: Nationalismus bringt den Krieg. Seine Rede war ein starkes, ein wichtiges Plädoyer. Aber wenn Merkel jetzt das Friedensversprechen aufruft, wirkt das wie ein hilfloser Reflex. Sie hat nichts anderes. Im Jahr 2016 fehlen der EU Projekte, Frieden und Freizügigkeit die sie verbinden, und Ideen, die der Gemeinschaft Sinn stiften. Das zweite große Versprechen, der wirtschaftliche Wohlstand, ist diskreditiert. Es gilt für zu wenige: für die Länder des Nordens und selbst dort nur für einen Teil der Bevölkerung. Und weil der Euro mit nervtötender Regelmäßigkeit gerettet werden muss, ist auch das Ideal wirtschaftlicher Stabilität arg ramponiert. Merkel weiß das, deshalb erklärt sie den Sinn der EU damit, dass der Zusammenschluss der Staaten eine globale Macht bilde. Nur leider vermag diese Macht nichts gegen weltweite Zockerwirtschaft und Geldversteckerei auszurichten. Sie zwingt nicht einmal Konzerne wie Google oder Ikea dazu, der Gemeinschaft mehr als ein Taschengeld vom Gewinn abzugeben. Europa kann zu wenig vorzeigen. Es begeistert nicht. Es bindet nicht. So bleibt allein der Frieden. Ja, Frieden ist sehr viel. Aber sieben Jahrzehnte nach 1945 ist er vielen zu wenig. Sie sagen sich, dass die Vereinigten Staaten von Amerika letztlich die Sicherheit der uneinigen Staaten Europas garantieren. Deshalb muss die EU ein neues identitätsstiftendes Projekt fokussieren, das außerhalb des Brüsseler Kommissionsgebäudes Bestand hat. Und das muss nicht einmal neu erfunden, sondern nur gesehen und gestärkt werden. Wozu also ist Europa da? Mehr Gerechtigkeit tut not. Aber wer denkt, dass sich die Brüsseler Gipfel in den nächsten Jahren zu einer Art Sozialistischer Internationale entwickeln, sollte sich lieber ein Märchenbuch kaufen. Ein aussichtsreicheres Projekt ist die europäische Freizügigkeit, die mehr ist als Reisefreiheit: das Recht, innerhalb der Union zu leben, zu arbeiten, zu lernen, sich zu engagieren und alt zu wer- Die EU braucht ein neues identitätsstiftendes Projekt, das viele bindet den, wo man will. Es ist ein Versprechen, das schon gelebt wird. Es ist der Grund, warum so viele Junge in Großbritannien gegen den Brexit gestimmt haben. Doch gut sieht es nicht aus für die Freizügigkeit. Die entsolidarisierte Staatengemeinschaft hat auf die Flüchtlinge mit neuen innereuropäischen Grenzen reagiert. Das schrankenlose Europa hat sich wieder eingeschränkt. Die Wilders’, Straches, Le Pens und Petrys greifen das offene Europa an. Längst geht die GeldNeid-Angst-Debatte europäischer Natio nalisten auch gegen andere Europäer. Seit Bulgarien und Rumänien in der EU sind, sinniert der deutsche Populismus darüber, wie die Neuen von der Arbeitslosenversicherung ferngehalten werden können. Die bornierten Gegner der Freizügigkeit unterschätzen, wie viele von ihr profitieren. Der Studierende, der es genießt, zwischen den Sprachen, Städten und Stimmungen zu wechseln. Die Akademikerin, die im Hochgeschwindigkeitszug zwischen den Orten und Aufgaben pendelt. Der Bauarbeiter, der monatsweise in boomenden Städten arbeitet und dann wieder zu Hause. Oder die deutsche Ruheständlerin, die in Portugal mit ihrer Rente besser leben kann. Die Freizügigkeit ist für viele so wichtig, dass die Debatte über sie gewonnen werden kann. Wenn sich erst einmal herumgesprochen hat, dass innereuropäische Einwanderung guttut, dann ist vielleicht bald eine Mehrheit für die Öffnung Europas nach außen. Jetzt geht es erst einmal darum, wie die Verhandlungen über das künftige Verhältnis der EU zu Großbritannien geführt werden: pragmatisch und besonnen – oder mit der Peitsche, um Nachahmer abzuschrecken. Die größte Härte, die Europa den britischen Nationalisten antun kann, ist die Freizügigkeit. Wer mit der EU zu neuen Deals kommen will, sollte Bescheid bekommen, dass sie nicht verhandelbar ist. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Europe: What’s left? EU-KOMMISSAR Brite Hill tritt zurück, Lette übernimmt BRÜSSEL | Der britische EU-Fi- nanzmarktkommissar Jonathan Hill hat nach dem Brexit-Votum seinen Rücktritt erklärt. „Ich glaube nicht, dass es richtig wäre, jetzt als britischer Kommissar weiterzumachen, als ob nichts geschehen wäre“, sagte Hill. Seine Aufgaben übernimmt der lettische VizeKommissionspräsident Valdis Dombrovskis, der auch für den Euroraum zuständig ist. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker versuchte Hill nach eigenen Angaben zu überreden, im Amt zu bleiben: „Ich halte ihn für einen wahren Europäer und nicht einfach für den britischen Kommissar. Dennoch verstehe und respektiere ich seine Entscheidung.“ (rtr) NORDI RLAN D Großes Interesse an irischen Pässen Schwerpunkt MONTAG, 27. JU N I 2016 Nach der Brexit-Entscheidung ist vor dem Brexit: eine Herausforderung für Europäer wie Briten. Jede Seite verfolgt dabei eigene Interessen Berlin, heimliche Hauptstadt Europas REDEN Deutschland übernimmt nach der Brexit-Entscheidung die Initiative zur Rettung der Europäischen Union. Dabei äußert Außenminister Steinmeier offenbar andere Vorstellungen als die Bundeskanzlerin AUS BERLIN TOBIAS SCHULZE Offiziell ist Berlin noch nicht neuer Sitz der EU. Das Europaparlament ist am Wochenende nicht an die Spree gezogen. Das Treffen der EU-Regierungschefs findet in dieser Woche nicht im Kanzleramt statt. Inoffiziell hat sich die Macht innerhalb Europas nach dem Brexit aber in Richtung Deutschland verschoben: Zu gleich zwei Minigipfeln innerhalb von drei Tagen hat die Bundesregierung ihre Partner nach Berlin geladen. Zusammen mit einer handvoll ausgewählter EU-Staaten plant sie die Zukunft der Union. Die wichtigsten Gesprächspartner kommen dabei aus Frankreich – zumindest aus Sicht des Auswärtigen Amts. Das Haus von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatte am Freitagmorgen um kurz nach 9 Uhr als erstes reagiert: Das Brexit-Ergebnis war erst wenige Stunden alt, als das Ministerium ein schon länger geplantes Sechser-Treffen in Berlin ankündigte. Bereits einen Tag später beriet sich Steinmeier dort mit den Außenministern der einstigen europäischen Gründerstaaten: Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Die Eile des Ministeriums kommt nicht von ungefähr: Niemand in der Bundesregierung ist über den Brexit so schockiert wie Steinmeier. Für viele Mitarbeiter des Auswärtige Amts fühlt sich das britische Referendum an wie der Fall der Berliner Mauer – nur umgekehrt. Entsprechend drängt Steinmeier nun auf schnelle Maßnahmen, damit andere Staaten dem britischen Vorbild nicht folgen. Die Regierung in Lon- don müsse zunächst die von den Wählern „getroffene Entscheidung so schnell wie möglich umsetzen“, schreibt er in einem gemeinsamen Papier mit seinen fünf Kollegen. Hinterher müssten innerhalb Europas Reformen her: „Wir sind fest entschlossen, ein besseres Funktionieren der EU zu erreichen.“ Konkreter wird der Außenminister in einem zweiten Papier. Verfasst hat er es gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen, dem ehemaligen Deutschlehrer Jean-Marc Ayrault. „Deutschland und Frankreich stehen in der Verantwortung, die Solidarität und den Zusammenhalt innerhalb der EU zu stärken“, heißt es darin. Drei Bereiche hat sich das deutsch-französische Duo dafür herausgesucht: Erstens wollen die beiden die europäische Sicherheitspolitik ausbauen – sowohl nach außen durch mehr Militär als auch nach innen durch gemeinsame AntiTerror-Maßnahmen. Zweitens wollen sie es doch endlich schaffen, in der Flüchtlingspolitik die „Nutzen und Lasten gerecht unter den Mitgliedstaaten verteilen“. Drittens wollen sie in der Währungs- und Wirtschaftspolitik umsteuern – unter anderem durch „Investitionen in den von der Krise am stärksten betroffenen Staaten“. Es geht also auch um einen Schritt weg von der Austeritätspolitik. Zumindest bei dieser Forderungen fehlt den beiden Außenministern aber die Unterstützung einer wichtigen Figur: Kanzlerin Angela Merkel. Sie empfängt heute zum zweiten Minigipfel den französischen Präsidenten François Hollande und den italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi in Berlin. Hollande hatte schon am Freitag mehr Investitionen für Wachstum und Arbeitsplätze in Europa gefordert. Renzi ist ebenfalls als Kritiker der Austeritätspolitik bekannt. Von Merkel waren solche Töne aber zu keinem Zeitpunkt zu hören. Eine Abkehr von der Sparpolitik in Europa könnte sie ihrer Partei auch nur schwer vermitteln. Mit weiteren Maßnahmen hat es die Kanzlerin ebenfalls weniger eilig als ihr Außenminister. „Ruhe und Besonnenheit sollen unsere Haltung prägen“, sagte Merkels Sprecher unmittelbar nach der Brexit-Entscheidung. Stellt sich nur eine Frage: Warum will Merkel unbedingt noch vor dem EU-Gipfel (Dienstag und Mittwoch in Brüssel) in Berlin mit Hollande und Renzi sprechen? Um sie von der Linie der Außenminister abzubringen? LONDON | Etliche Nordiren inte- ressieren sich nach dem BrexitVotum der Briten für die irische Staatsbürgerschaft. Die nordirische Postbehörde teilte am Samstag mit, dass man eine ungewöhnlich hohe Zahl an Menschen aus Nordirland bemerkt habe, die sich um einen irischen Pass bemühten. Nordirland ist Teil des Vereinigten Königreichs. Die meisten dort geborenen Menschen können aber auch Anspruch auf eine Staatsbürgerschaft des EU-Staates Irland erheben. Während die Briten am Donnerstag insgesamt mit 52 zu 48 Prozent für einen Austritt aus der EU gestimmt hatten, votierte die Mehrheit der Wähler in Nordirland für einen EU-Verbleib. (ap) „Deutschland und Frankreich stehen in der Verantwortung“ AUSSENMINISTER AUS PARIS UND BERLIN BRITISCH E MI N ISTERI N Coming-out nach Brexit: „Besser raus“ LONDON | Die britische Ministe- rin für Internationale Entwicklung, Justine Greening, lebt nach eigenen Worten mit einer Frau zusammen. „Heute ist ein guter Tag, um zu sagen, dass ich in einer glücklichen gleichgeschlechtlichen Beziehung bin“, schrieb die konservative Politikerin am Samstag auf Twitter. Sie habe zwar für einen Verbleib Großbritanniens in der EU gekämpft – „aber manchmal ist es besser für dich, wenn es raus ist“. Dazu stellte die 47-Jährige das Schlagwort „Pride2016“, in Anspielung auf ein Festival von Homo-, Bi- und Transsexuellen in London. Noch-Premier David Cameron gratulierte Greening auf Twitter: „Das sind tolle Nachrichten.“ (dpa) Die deutsch-französische Achse bekommt wieder Gewicht: Adenauer und de Gaulle bei der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags 1963 Foto: Ullstein Bild Um ihnen das Ende der Austeritätspolitik auszureden? So oder so: Nicht überall in Europa kommen die Berliner Gipfeltreffen gut an. Eine Reihe kleiner Mitgliedstaaten, vor allem im Osten, fühlt sich ausgeschlossen. „Solche Initiativen sind ein Fehler, weil sie die Union spalten“, sagte etwa Polens Außenminister Witold Waszczy kowski. Der Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich (Linke) wunderte sich über den Außenministergipfel am Wochenende. „Wer Kerneuropa jetzt stärkt, macht die EU kaputt“, sagte er. Nur einer kann diese Aufregung gar nicht verstehen: der frühere grüne Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit, die personifizierte deutsch-französische Achse. „Diese Debatte halte ich für lächerlich“, sagt er. „Jeder Premier kann jeden anderen besuchen, Sliwowitz trinken und eigene Initiativen einreichen. Am Ende ist entscheidend, welche Mehrheiten es im Rat und im EU-Parlament gibt.“ Bis zum Brexit ist es noch ein weiter Weg RAUS Brüssel möchte die Briten rasch aus der EU verabschieden, Berlin bremst. Selbst über den Austrittsantrag gibt es Streit BRÜSSEL taz | Schnell oder lang- sam, hart oder soft: Es gibt viele Möglichkeiten, die Briten aus der EU zu entlassen. Der viel zitierte Artikel 50 des LissabonVertrags, der jetzt zum ersten Mal eingesetzt wird, setzt nur den rechtlichen Rahmen. „Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat (EU-Gipfel) seine Absicht mit“, heißt es da. Danach beginnen die Verhandlungen über ein Austrittsabkommen. Sobald man sich geeinigt hat, spätestens aber nach zwei Jahren, sind die Briten draußen. Wann der Antrag gestellt werden muss und wie er aussehen soll, steht aber nicht im EU-Vertrag. Und genau über diese beiden Punkte gibt es politischen Streit. Er birgt fast so viel Sprengstoff wie der Brexit selbst. Denn der britische Noch-Premier David Cameron spielt auf Zeit: Er habe nicht die Absicht, beim EU-Gipfel am kommenden Dienstag den Austrittsantrag zu stellen, sagte er. Offenbar will Cameron diese undankbare Aufgabe seinem Nachfolger überlassen, der aber erst im Herbst ernannt werden soll. Demgegenüber fordert Brüssel, jetzt keine Zeit zu verlieren. „Ich hätte den Austrittsbrief gern sofort“, sagte Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Ziel sei eine „möglichst schnelle und einvernehmliche Scheidung“, meinte der Chef der Liberalen im EU-Parlament, Belgiens Expremier Guy Verhofstadt. Dahinter steckt nicht nur der Ärger über Cameron. Es geht auch um die Sorge, dass London versuchen könnte, Brüssel Sonderkonditionen für den Austritt abzupressen – etwa, indem man EU-Beschlüsse blockiert. Scheidungskriege oder Gentlemen’s Agreement Möglich wäre das durchaus. Denn solange der Brexit nicht perfekt ist, bleibt Großbritannien ein EU-Mitglied mit allen Rechten und Pflichten. In wichtigen Fragen könnte eine neue, europafeindliche britische Regierung die EU somit erpressen. Je länger London den Scheidungsantrag hinauszögert, desto größer wird die Unsicherheit. Einige EU-Politiker spielen daher mit dem Gedanken, die für Dienstagabend beim EU-Gipfel erwartete mündliche Erklärung Camerons zum Ausgang des britischen Referendums als Austrittserklärung zu werten. Doch da dürfte Kanzlerin Angela Merkel nicht mitspielen. Sie will keinen Druck auf Cameron ausüben. Beim EU-Gipfel könnte das für Streit sorgen, denn die meisten anderen Länder drücken aufs Tempo. Sie möchten so schnell wie möglich im 27erFormat – also ohne Cameron – über den Brexit und die Konditionen sprechen. Denn auch beim Scheidungsvertrag steckt der Teufel im Detail. Schließlich geht es nicht nur darum, die Pensionsansprü- che für britische EU-Beamte zu klären. Entscheidend wird sein, ob die Verhandlungen mit einem freundschaftlichen Gentleman’s Agreement oder mit einem Scheidungskrieg voller Rachegelüste enden. Das ist nicht nur für London wichtig, sondern auch für andere EU-Länder. So setzt sich Frankreich für möglichst harte Konditionen ein, um mögliche Nachahmer abzuschrecken. Eine weiche Linie scheint dagegen Merkel zu bevorzugen. Schon vor dem Referendum hatte sie die Devise ausgegeben, dass die EU und Großbritannien in jedem Fall Freunde bleiben sollten. Aber für gute Geschäfte soll es auf jeden Fall ERIC BONSE noch reichen. Schwerpunkt Europe: What’s left? MONTAG, 27. JU N I 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Nach dem vom Ergebnis des Brexit-Referendums verursachten Schock fragt sich die gemäßigte Linke in der EU: Was tun? AUS ROM MICHAEL BRAUN Wirklich überraschend am Brexit ist vor allem eines: dass keiner ihn so richtig erwartet hat. Denn angeblich ist das, was die britischen Wähler da angestellt haben, zutiefst irrational, dieses Einigeln hinterm Gartenzaun, dieses Hochziehen der Zugbrücken. Und die Schuldigen sind schnell ausgemacht, vom Zauberlehrling David Cameron zur englischen Presse mit ihrer europafeindlichen Giftspritzerei. Ertragreicher wäre es j edoch, statt der Schuldfrage die nach der Verantwortung zu stellen. Schließlich sind die Wähler nicht nur im Vereinigten Königreich wild geworden: Mit teils radikal unterschiedlichen Vorzeichen stimmen quer durch die Europäische Union ebenso wie in den Vereinigten Staaten von Amerika Bürger in Massen für Protest-, für „Anti-System“Kräfte, für die klar links aufgestellten Podemos und Syriza in Spanien und Griechenland, für die sich dem Rechts-linksSchema entziehenden „Fünf Sterne“ in Italien, für Rechtspopulisten von Skandinavien über Österreich bis Frankreich und Großbritannien. Bei allen Differenzen zwischen diesen Parteien haben diese doch eines gemein: Sie mobilisieren massiv jene Wähler, die früher einmal die Kernklientel der Sozialdemokratie stellten, die „einfachen Leute“, die Arbeiterklasse oder das, was von ihr noch übrig ist, in den Hochburgen Labours im Nordosten Englands beim Brexit-Referendum, in den Arbeitervierteln von Wien – 86 Prozent der österreichischen Arbeiter votierten für den FPÖ-Mann Hofer! –, im Pas-de-Calais in Frankreich. Und in Italien heißt die Arbeiterpartei heute Movimento5Stelle. Um die Erfüllung des Wohlstandsversprechens für die Bürger müsse sich Europa wieder kümmern, sagt jetzt SPD-Chef Sigmar Gabriel. Wie wahr! Allerdings wäre hinzuzufügen, dass jenes Versprechen gegenwärtig nicht bloß unzureichend „erfüllt“ würde: Es ist seit nunmehr diversen Jahrzehnten schlicht gekündigt. Ein Pensionär lehnt sich beim Warten auf die Auszahlung seiner Rente an die Tür der griechischen Nationalbank in Athen Foto: Yannis Behrakis/reuters Korrigiert den Kapitalismus! LINKE Die Sozialdemokraten in Europa werden zur aussterbenden Spezies – wenn sie sich nicht endlich wieder um die Erfüllung des Wohlstandsversprechens kümmern Bis Ende der 70er Jahre galt im westlichen Kapitalismus: Wer arbeitete, durfte die Hoffnung haben, dass sein Einkommen stieg, dass die Urlaube länger, die Arbeitszeiten kürzer würden, dass der Sozialstaat mit allem Drum und Dran, mit Renten, Gesundheitswesen, Familienleistungen ausgebaut wurde, dass die Kinder wachsenden Zugang zu Bildung haben würden. Damit ist es seit der neoliberalen Wende vorbei. „Bereichert euch“, hieß nun die Losung – mit dem neuen Hütchenspieler-Ver- 03 sprechen, der wachsende Wohlstand ganz oben werde schon auch nach unten „durchsickern“. Und die Sozialdemokratie? Sie setzte sich mit ihren „Dritte Weg“-Kursen seit den 90er Jahren auf ebendiesen Zug, ihrerseits versichernd, die Entfesselung der Märkte werde allen nützen. Genau im gleichen Takt funktionierte die Europäische Union: Binnenmarkt, Euro, Arbeitnehmerfreizügigkeit waren die Stichworte einer Entgrenzung, deren angeblichen Milliarden- Seit den 90er Jahren sitzt die Sozial demokratie auf dem neoliberalen Zug Prosperitätsgewinne von kundigen Ökonomen berechnet wurden. Unten und selbst in der Mitte der Gesellschaft kam jedoch faktisch ein ganz anderes Signal an. Das nunmehr faule Versprechen erwies sich faktisch als Drohung. Sinkende, bestenfalls stagnierende Realeinkommen, fortschreitende Prekarisierung, die realistische Aussicht auf Altersarmut auf der einen Seite, explodierende Einkommen und Vermögen auf der anderen – dies ist heute das Gesicht der entfesselten „Marktwirtschaft“. Natürlich kann man jetzt LabourChef Jeremy Corbyn vorwerfen, er habe sich nicht genügend gegen den Brexit gestemmt; doch er hat recht, wenn er feststellt, dass „viele Leute der Einschnitte und der Austerity überdrüssig sind“ oder dass „viele sich ausgegrenzt und in die Ecke gedrängt finden“. Und in Europa agierte die EU spätestens seit der Euro-Krise für zahlreiche Länder gleich nur noch als Bedrohungs-Agentur, als unbeugsamer Sparkommissar, der heute in weiten Zonen des Kontinents für sinkende Löhne, geschrumpfte Sozialleistungen, horrende Jugendarbeitslosigkeit steht. Auch Gabriel spricht nunmehr von der „massiven Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern“ in der EU; deren Status quo hat auf seiner Seite nur noch „Tina“ als Argument: „There ist no alternative“, wer nicht pariert, dem geht es am Ende noch viel schlechter. Wie man auf dieser Basis dauerhaft Kapitalismus und Demokratie beisammenhalten will, wie ihrerseits die Sozialdemokratie fürs einfache Volk wählbar bleiben (oder wieder werden) will, ist die spannende Frage. Da geht es nicht um die europäische „Erzählung“, um mehr oder weniger „Leidenschaft“ beim Einsatz fürs große europäische Werk. Und es geht auch nicht um sozialdemokratische Erfolge wie den Mindestlohn oder die Rente mit 63, um ein bisschen Palliativmedizin, die am neoliberalen Lauf der Dinge kaum etwas ändert. Die Sozialdemokratien in Europa laufen die Gefahr, zur aussterbenden Spezies zu werden; in Griechenland hat es die Pasok schon vorgemacht. Aber auch in Deutschland könnte in Zukunft ein SPD-Kanzlerkandidat mit einer „18“ unter den Schuhsohlen in den Wahlkampf ziehen, darauf hoffend, jenes Resultat zu erzielen, von dem einst Guido Westerwelle für die FDP träumte. Im besseren Fall könnten dann radikal linke Kräfte wie Podemos und Syriza an ihre Stelle treten, im schlechteren Fall bliebe die Vertretung des einfachen Volks den Rechtspopulisten überlassen. Umkehren lässt sich dieser Trend wohl nur, wenn auch die gemäßigt linken, die sozialdemokratischen Kräfte in Europa ernsthaft wieder werden wollen, was sie früher waren: ein ernsthaftes Korrektiv des Kapitalismus. „Es gibt überhaupt keinen Anlass zur Freude“ PERSPEKTIVE Um das vereinte Europa zu retten, müssen Linke und linke Parteien sowohl EU-kritischer werden als auch proeuropäischer, sagt Gregor Gysi taz: Herr Gysi, die Linke reagiert auf den Brexit nach dem Motto: Wir haben ja immer gesagt, dass die EU undemokratisch und unsozial ist, und das ist jetzt die Quittung! Sehen Sie das auch so? Gregor Gysi: Das ist richtig, aber daraus müssen die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden. Welche? Jetzt muss die Linke meines Erachtens um die Rettung der EU kämpfen und das verbinden mit Vorschlägen, wie sie endlich demokratischer, sozialer, ökologisch nachhaltiger, transparenter und unbürokratischer sowie von den Bevölkerungen akzeptiert wird. Wissen Sie, was der Grundfehler der EU war? Was denken Sie? Dass eine Verfassung geschrieben worden ist, die von zwei Bevölkerungen mehrheitlich abgelehnt worden ist. Da gab es zwei Wege: Der eine wäre gewesen, dass man eine Verfassung schreibt, die von der Mehrheit der Bevölkerungen aller EUStaaten akzeptiert wird. Und der andere Weg war zu tricksen. Man lässt ein halbes Kapitel weg, dann ist es keine Verfassung mehr und kann ohne die Bevölkerungen entschieden werden. Man hat sich für den zweiten Weg entschieden. Und dafür bezahlen wir jetzt auch. Also doch klammheimliche Freude über die Erosion der EU? Es gibt überhaupt keinen Anlass zur Freude. Ich möchte nicht, dass die EU kaputtgeht. Die ganze Geschichte meiner Familie verlangt nach der EU. Sie verhindert Kriege zwischen den Mitgliedsländern. Kriege zwischen ihnen darf es nie wieder geben. Das wäre eine Katastrophe. Sahra Wagenknecht meint: Es gibt für einen Linken wenig Grund, die EU, so wie sie heute ist, zu verteidigen … Wenig mag sein, aber es gibt einen entscheidenden Grund: die Erhaltung des Friedens zwischen ihren Mitgliedsländern. Das ist mein wichtigstes Anliegen. Außerdem hätten die alten Nationalstaaten einzeln weder ausreichend politische noch wirtschaftliche Bedeutung weltweit, gegenüber den USA, China und anderen. Muss die Linke also jetzt EUkritischer werden oder pro europäischer? Beides. Wir müssen die EU kritisieren, wir müssen Vorschläge machen, wie sie besser organisiert werden kann, und gleichzeitig für ihre Rettung eintreten. Komplex! Leichter ist es nicht zu haben. Welche Folgen wird der Brexit für die EU haben? Der Brexit ist eine Tragik für Großbritannien, aber auch für die Europäische Union. Im Unterschied zu Martin Schulz glaube ich, dass es eine gewisse Kettenreaktion geben kann. Die Schotten wollen einen neuen Volksentscheid, wenn die aus- treten, ist auch Großbritannien kaputt. Und wenn Le Pen nächstes Jahr die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnt und Frankreich die EU verlässt, ist sie mausetot. Und ich möchte nicht, falls das passiert, dass die Linke dabeisteht als einer der Totengräber. Sondern die Linke muss dastehen als eine, die versucht hat, sie zu retten. Kommt denn der Brexit der Linken irgendwie entgegen? Ich glaube nicht, dass der Brexit zum Aufschwung der Linken führt, sondern zum Aufschwung der Rechten. Und zwar in Frankreich und Holland – aber auch in Deutschland. Und schon deshalb müssen wir aufpassen. Wieso können die Linken nicht von der allgemeinen EU-Verdrossenheit profitieren? Wenn ein Rechter sagt: „Wir müssen raus aus der EU“, ist das einfach. Als Linker kritisiere ich und muss gleichzeitig sagen, warum sie wichtig ist. Das ist eine kompliziertere Antwort. Was müssen die Linken in Europa anders machen? Offenbar können sie sich ja gegenüber rechten EU-Kritikern nicht ausreichend Gehör verschaffen … Linke in Europa haben unterschiedliche Auffassungen zur EU. Es gab immer Linke, die dagegen waren. Hinzu kommt, dass linke Parteien in Europa nach dem Zusammenbruch des Staatsozialismus derart in den Keller gegangen sind, dass sie solche Fragen und Entscheidungen gar nicht dominieren können. Jetzt gibt es eine neue Stärkung der Linken in Griechenland, Spanien und Portugal. Je nachdem, wie die Wahlen in Spanien ausgehen, kommen von dort vielleicht neue Signale. Die EU ist ja auch etwa Elitäres. Die Gutgebildeten, die, die viel reisen, wissen sie zu schätzen. Die Armen, die Abgehängten, sind eher EU-kritisch. Wie kann man denn proeuropäische linke Kritik auch in solchen Milieus verankern? Das Wichtigste ist, dass man eine proeuropäische Kritik so übersetzt, dass man damit auch die Bevölkerung erreicht. Es sind ja nicht nur elitäre Kreise, die für die EU sind, es gibt auch eine elitäre Ausdrucksweise: Wie erkläre ich etwa die Rolle der Europäischen Zentralbank? Die einfachsten, aber falschen Antworten geben immer die Rechten. Und leider glauben denen zu viele Leute. INTERVIEW ANNA LEHMANN Gregor Gysi ■■ist Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke. Bis 2015 war er Fraktionsvorsitzender im Bundestag und seit Amtsantritt des dritten Kabinetts Merkel Oppositionsführer. Foto: reuters
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