DIE WELT - Die Onleihe

SAMSTAG, 25. JUNI 2016
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B
Nr. 147
Zippert zappt
W
er ist schuld am
Brexit? Die Rentner!
Sie haben überwiegend für den Austritt gestimmt.
Sie wollten Schluss mit der Freizügigkeit machen, damit die
jungen Menschen es schwerer
haben, für die Rente der Alten
zu arbeiten. Die Bevölkerungsgruppe, die glücklich sein könnte, dass alle drei Minuten ein
neues Kreuzfahrtschiff vom
Stapel läuft, zwingt Regierungen,
auf den Knien vor den Rentnern
herumzurutschen. Geld, das für
Bildung und Innovationen gebraucht würde, geht für Rentenerhöhungen drauf. Ist aber vollkommen überflüssig, der Rentner
ist immer unzufrieden, vor allem, weil er nicht mehr 20 ist,
das müssen ihm die Jugendlichen
büßen. Aus reiner Heimtücke
werden Rentner immer älter, und
daher fließen Milliarden in die
Alzheimerforschung und in die
Pflegeindustrie. Jetzt haben wir
den Brexit, und halb mumifizierte Rentnerfreunde wie
Beatrix von Storch weinen vor
Freude. Es wird Zeit, die Alten zu
entsorgen. Machen wir England
zum EU-Rentnerparadies, da
können alle ewig Unzufriedenen
hinziehen und sich gegenseitig
auf die Nerven gehen. Das Land
wird ja schon von einer 90-Jährigen regiert.
Boris Johnson,
der neue starke
Mann im Reich
Die katastrophalen
Folgen für
Deutschland
Wir müssen
die neuen
Briten werden
Das Porträt
Der Ausblick
Thomas Schmid über die Zukunft
Seite 4
Seiten 9 und 10
Und nun,
xxx
THEMEN
GETTY IMAGES/JFB
14 SONDERSEITEN ZUM B R E X I T
REISE
Happy Hour
am Sabbat:
Wo in Jerusalem
immer gefeiert wird
Beilage
LITERARISCHE
WELT
Auf die Texte kommt
es im Literaturbetrieb
gar nicht mehr an
Beilage
KULTUR
Oliver Polak
verabschiedet sich vom
vielleicht wichtigsten
Plattenladen der Welt
Seite 21
EM 2016
Klausuren bestanden:
Nationalspieler
Jonas Hector über
sein BWL-Studium
Seite 26
DAX
Deutlich im Minus
Seite 17
Dax
Schluss
Euro
EZB-Kurs
Punkte
US-$
9557,16
–6,82% ↘
Dow Jones
17.40 Uhr
1,1066
17.545,90
–2,83% ↘
–2,58% ↘
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Seite 7
?
Die Briten haben auch Merkel abgewählt
Großbritannien verlässt die EU, weil eine Mehrheit das politische Versagen der Gemeinschaft nicht länger hinnehmen will.
Dazu hat die Bundeskanzlerin mit ihren Alleingängen in der Flüchtlingspolitik maßgeblich beigetragen. Von Dirk Schümer
D
er Ausstieg der Briten bedeutet
eine Zeitenwende, vielleicht gar
nicht so sehr für Großbritannien, das in der EU nie wirklich
heimisch wurde, sondern für
das restliche Europa. Letztlich
haben die Bürger zwischen
Schottland und den Klippen von Dover nicht nur
David Cameron abgewählt, sondern auch die zögerlichen und bornierten Leader der EU, deren Argumente keine Mehrheit hinter sich brachten. Auch
ihre Politik des sturen Aussitzens ist jetzt gescheitert. Denn der bislang größte demokratische Freilandversuch über die Mitgliedschaft im einstmals
exklusiven Klub der EU hat dreierlei gezeigt: Erstens ist die EU trotz aller unleugbarer Meriten in
ihrem gegenwärtigen Zustand einfach nicht mehr
mehrheitsfähig. Darum können die Institutionen
nun zweitens nicht so realitätsblind weitermachen
wie bisher. Und drittens hat sich das gegenwärtige
Führungspersonal als unfähig erwiesen, der offenkundigen Erosion des größten politischen Projekts
der Gegenwart Einhalt zu gebieten. Ihre Strukturprobleme und Krisen sind den professionellen Problemlösern in der Kompromissfabrik EU schlicht
über den Kopf gewachsen.
Eigentlich bräuchte die EU jetzt eine Reform an
Haupt und Gliedern: eine Straffung der Entscheidungsprozesse, eine Vereinfachung der verwickelten Institutionen, ein Ende der undemokratischen
Abläufe durch die Stärkung des Europäischen Parlaments. Und vor allem: Schluss mit der egoistischen Nationenkungelei in den Hauptstädten, um
dann hinterher den Schwarzen Peter nach Brüssel
zu schieben. Doch wie soll das jetzt gehen? Wie
kann man eine Ruine, die gerade von einigen Bewohnern verlassen wird, in Ruhe runderneuern?
Und wie will die Administration in Brüssel bei gewohnt zähen und undurchschaubaren Ausstiegsverhandlungen der kommenden Monate verhindern, dass nun ein Dominoeffekt einsetzt?
Die Briten verlassen die EU nicht als bornierte
Snobs, die es eigentlich nicht so gemeint haben,
sondern als stolze Demokraten, die Webfehler und
politisches Versagen der EU nicht länger hinnehmen wollen. Nicht sie haben ihr Land in Befürworter und Gegner, Nutznießer und Verlierer, Gestrige und Erneuerer, Nationalisten und Weltbürger
tief gespalten. Das hat die EU schon selber geschafft. Dieselbe Institution, die sich als alternativloses Friedensprojekt mit dem Nobelpreis auszeichnen ließ, hat durch die Chaoswährung des
Euro und die Duldung der regellosen Zuwanderung
weit über Britannien hinaus dramatisch an Sympathien verloren. Bevor nun die Briten bye-bye
sagten, brannte es bereits an allen Ecken. Und
schon die Triumphe der Neonationalisten Orbán
und Kaczynski in Ungarn und Polen sowie der Vormarsch der Linkspopulisten von Syriza, Fünf Sterne
und Podemos in Griechenland, Italien und Spanien
haben vorgeführt, wie marode Europas uneinige
Union längst geworden ist. Der Brexit ist keine
Generalprobe, deren Misslingen die Akteure mit ein
paar Retuschen wieder hinbiegen.
Wenn wir Pech haben, spielt das historische Drama bereits im letzten Akt. Genau betrachtet ist der
Brexit ohnehin die logische Folge der 2005 in den
Niederlanden und Frankreich per Referendum gescheiterten EU-Verfassung. Danach rumpelten die
unübersichtlichen Institutionen mehr oder weniger
steuerungslos vor sich hin, und die Politiker machten von den ehrgeizigsten Projekten staatlicher
Hoheit – Schengen und Euro – keinerlei Abstriche.
Europa hat sich zu wenig um seine Bürger gekümmert – und nicht umgekehrt. Wenn diese Bürger täglich dabei zusehen können, wie schlecht die
EU als Fortentwicklung und Ersatz der hergebrachten Nationen funktioniert, dann dürfen sich die
Leader nicht wundern, wenn immer mehr Menschen das einigermaßen funktionierende Original
der wackligen Innovation vorziehen. Darum – und
nicht aus Dummheit und Rückständigkeit – ist
ausgerechnet der eigentlich gescheiterte Nationalismus mitten in Europa auf einmal wieder modisch
geworden. Der knappe Ausgang, der so vor einem
Jahr nicht möglich gewesen wäre, beweist zudem
deutlich, dass Angela Merkels Laisser-faire in der
Flüchtlingskrise David Cameron die politische Karriere ruiniert hat – und Großbritannien der EU
endgültig entfremdete. Die Bilder vom Balkan und
die Exzesse in Köln, die der Ukip-Chef Farage stets
genüsslich erwähnte, haben über den Brexit entschieden. Und auch hier gibt es Präzedenzfälle.
Die EU funktioniert seit etwa zehn Jahren nicht
mehr richtig und bindet Länder ökonomisch und
politisch zusammen, die einfach nicht zusammenpassen. Die märchenhafte Karriere von Alexis
Tsipras vom trotzkistischen Spinner zum Premierminister eines bankrotten Euro-Landes verdankt
sich dem Scheitern der Einheitswährung in Griechenland. Und der österreichische Kanzler Werner
Faymann war der erste, aber nicht der letzte Regierungschef, der der Flüchtlingskrise zum Opfer
fiel. Die europäische Schlüsselnation Frankreich
wird seit Monaten im nationalen Ausnahmezustand verwaltet, weil islamistische Attentäter auch
über die offenen Balkangrenzen kamen und Europas liberale Lebensweise im Kern attackieren
konnten. Für eine multiple Systemkrise kommt da
allerhand zusammen.
Ist es ein Wunder, wenn bei solchem Versagen
einzelne EU-Länder ihre Zuwanderungspolitik ans
winzige Mazedonien delegieren und die Schengengrenzen nach Belieben dichtmachen wollen? Ist es
ein Wunder, wenn eine ganze Generation hoffnungsloser junger Menschen in Südeuropa keinen
Pfifferling mehr auf die EU setzt, wenn die EuroKrise einzig zum Nutzen der Banken immer weiter
gegen alle europäischen Regeln aufgeschoben wird?
Augen zu und durch ist jetzt keine Option mehr,
denn genau mit dieser stupiden Taktik ist die EU in
Britannien vor die Wand gefahren.
,,
WENN DIE VORTEILE
DER EU NICHT MEHR IN DEN
KÖPFEN ALLER BÜRGER
ANKOMMEN, KANN MAN SIE
NICHT MEHR ALS ZUKUNFTSMODELL VERKAUFEN
Derzeit, und das sagt alles, ist die Europäische
Union nurmehr in den Ländern Osteuropas beliebt
und hoch angesehen. Wo man Angst vor Putins
Expansionspolitik hat wie im Baltikum, wo Milliarden an Brüsseler Transfergeld in Infrastruktur und
Landwirtschaft fließen wie in Polen oder wo die
eigene politische Klasse viel korrupter und undemokratischer agiert als die EU wie in Rumänien
oder Bulgarien – dort, und leider nur noch dort,
strebt man in den heruntergekommenen Großklub.
Doch eine EU, die in Zukunft routiniert Beitrittsverhandlungen mit dem Kosovo und Albanien oder
mit der Semidiktatur Türkei führt, kann nur dem
Kollaps entgegentaumeln.
Die Bürger werden das einfach nicht mitmachen.
Und die nächsten Referenden, und diesmal in
Kerneuropa, könnten vor der Tür stehen, wenn
heute schon Neonationalisten wie der Holländer
Geert Wilders oder Marine Le Pen in Frankreich
lauthals dazu aufrufen, auch ihre Völker demokratisch über die Mitgliedschaft in der EU entscheiden zu lassen. Wenn die Vorteile des Deals namens
EU nicht endlich wie früher in den Köpfen und
Portemonnaies aller Bürger ankommen, kann man
es nicht mehr als Zukunftsmodell verkaufen.
Dieweil versucht der mächtigste Europäer, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, sich als
Krisenmanager von der traurigen Gestalt. An der
Demontage der EU hat er als luxemburgischer
Premier mit ausgefeilten Steuertricks zulasten der
Nachbarn fleißig mitgearbeitet. Es ist schon ein
Treppenwitz, wenn der Demokrat Cameron abtritt, aber der Funktionär Juncker weiter an seinem Schreibtisch hocken bliebe und sogar die
demütigenden Austrittsverhandlungen managen
dürfte. Wenn die EU sich endlich als Demokratie
inszenieren will, dann muss das Europaparlament
Juncker jetzt absetzen. Und eine Straffung und
Belebung des ganzen Projekts muss von einer verjüngten und veränderten Führungsschicht ausgehen. Wann, wenn nicht jetzt?
Das europäische Desaster in Großbritannien, das
bei allem bitteren Beigeschmack eben auch einen
Feiertag der Volkssouveränität bedeutet, rückt
jetzt die eigentliche, von Medien und Eliten hochgelobte Frau ins Zentrum, die vielen bereits als
inoffizielle Kanzlerin von Europa galt. Angela Merkel machte die Euro-Krise in Griechenland im
Doppelpass mit ihrem Finanzminister zur Berliner
Chefsache. Indem sie die Regelverletzung bei der
Staatsfinanzierung zum Dauerzustand erklärt,
kaufte sie sich selbst Zeit – und beschädigt das
heikle europäische Währungsprojekt nachhaltig,
ohne die Malaise in den Mittelmeerländern strukturell zu lösen. Und indem Angela Merkel auch in
der Migrationskrise die Grenzen im nationalen
Alleingang öffnete und dann mit dem türkischen
Machthaber Erdogan ebenso im Alleingang eine
dubiose Einigung aushandelte, hat sie den Bürgern
vorgeführt, was sie wirklich von der EU und ihren
Institutionen hält: sehr, sehr wenig. Für die Chefin
einer Partei, die das europäische Erbe von Konrad
Adenauer und Helmut Kohl verwaltet, ist das ein
Offenbarungseid. Im Grunde haben die britischen
Wähler am Donnerstag auch Angela Merkel abgewählt. Bevor sie endgültig zur Totengräberin der
EU wird, müsste sie sich an David Cameron ein
Beispiel nehmen.
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ISSN 0173-8437
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ZKZ 7109