Rigaer Straße: Polizei und Linksextremisten rüsten auf – Berlin, Seite 10 EM 2016: Island besiegt England, Italien fordert Deutschland – 11 Freunde täglich – Seiten 23 – 28 BERLIN, DIENSTAG, 28. JUNI 2016 / 72. JAHRGANG / NR. 22 801 Berlin von seiner schönsten Seite: Die Fashion Week beginnt – Die tägliche Modeseite, Seite 17 WWW.TAGESSPIEGEL.DE BERLIN / BRANDENBURG 1,50 €, AUSWÄRTS 2,00 €, AUSLAND 2,20 € Brexit Der große Unbequeme Revolutionäre Zeiten Von Moritz Schuller D Foto: Horst Ossinger/dpa Götz George ist tot: Deutschland trauert um einen Schauspieler, der eigen sein konnte bis zur Ruppigkeit, aber vielen zugleich als Ausnahmekünstler galt – Seiten 2 und 3 Briten bremsen Brexit EU-Austrittsbefürworter Johnson will sich bei Umsetzung des Referendums Zeit lassen / Merkel gegen informellen Deal mit London Der führende britische EU-Austrittsbefürworter Boris Johnson strebt keine schnelle Trennung von der EU an. „Es wird weiter freien Handel und Zugang zum EU-Binnenmarkt geben“, schrieb Londons Ex-Bürgermeister in einem Beitrag für den „Telegraph“. Bei der Umsetzung des Brexit-Votums gebe es keine große Eile. Johnson gilt als möglicher Nachfolger des amtierenden Premiers David Cameron. Offenbar strebt Johnson an, dass sein Land auch künftig von den Vorteilen der EU wie dem Binnenmarkt wie bisher profitieren kann, ohne die Pflichten – etwa die Zahlung des Nettobeitrags in Höhe von rund fünf Milliarden Euro pro Jahr – zu erfüllen. I m Grunde ist auch der Brexit nur wieder ein Anlass für die Kanzlerin, ihre Magie vorzuführen. Diese Magie zeigt sich nicht in atemraubenden Tricks, sie würde beispielsweise nie Boris Johnson mit einem Cruciatus-Fluch foltern oder Horst Seehofer in ein Bund Heilkräuter verwandeln, obwohl ihr all diese Dinge zweifellos zu Gebote stehen. Aber als Premium-Zauberin weiß sie um das Verhängnisvolle solcher Machtdemonstrationen und bleibt immer konsequent in der Mitte, in der Mitte von allem. Ihre furchtbarste Waffe ist die Harmlosigkeit. Als am Wochenende alle Wichtigen sich überboten in Drohungen nach London, in Jetzt-aber-rausFlüchen und Exit-sofort-Aufforderungen, da sprach Angela Merkel: Man solle jetzt aber nicht garstig sein zu den Engländern. Garstig! Garstig? Viele haben das Wort vermutlich nachgeschlagen, weil es zum letzten Mal auf Kindergeburtstagen der Adenauer-Zeit zu hören war. Immer dann, wenn der kleine Karl-Heinz noch ein Stück von der Torte mit den Dosenpfirsichen genascht hatte und folglich, wie man damals auch sagte, Auch Cameron wies Forderungen nach einer raschen Aufnahme der Verhandlungen zurück. Die britische Regierung werde in der jetzigen Phase nicht den Artikel 50 des EU-Vertrages aktivieren, erklärte der konservative Politiker am Montag im Parlament. „Dies ist unsere souveräne Entscheidung und es liegt an Großbritannien, und zwar Großbritannien allein, sie zu fällen.“ Eine Abfuhr holte sich Johnson derweil bei Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in seinem Bestreben, erst einmal mit den EU-Partnern über eine Neuregelung der Beziehungen zu verhandeln, bevor London den Antrag über den Beginn der entscheidenden Austrittsverhandlungen stellt. Es dürfe keine formellen oder informellen Gespräche geben, so lange London nicht den Antrag gestellt habe, sagte Matthies meint Der Garstigen Verzwergung ausgeschimpft wurde für sein gieriges Verhalten. Garstig waren die Hexen in den Grimm’schen Märchen, die alten Weiber mit den Warzen auf der Nase und den gichtigen Fingern, mit denen sie Eulenspucke und Krötenschleim ge- C HEUTE D AGENDA Das Journal für Politik in der Bundeshauptstadt Merkel während eines Treffens mit Frankreichs Staatspräsident François Hollande und Italiens Regierungschef Matteo Renzi am Montagabend im Kanzleramt. Hollande erklärte bei der gemeinsamen Pressekonferenz, Europa sei auch nach dem britischen Referendum „ein Aufbauwerk, das fortgesetzt werden muss“. Auch Renzi sagte, dass sich trotz der historisch einschneidenden Entscheidung wannen für ihre schwarze Magie. Das erschreckt heute nicht einmal mehr Waldorf-Schüler. Aus dem Mund der Kanzlerin bedeutet die Wahl dieses Begriffs also: Sie lässt das europäisch-britannische Erdbeben zu einem Kindergeburtstag zusammenschnurren. Jetzt benehmt euch doch mal, sagt sie indirekt, fasst euch alle an die Hände, piep, piep, piep. Und dann singen wir noch was Schönes von Rolf Zuckowski oder so. Nichts Politisches! Politisch Lied, ein garstig Lied – das haben uns Goethe und Hoffmann von Fallersleben schon vor Jahrhunderten eingeimpft, zwei, die die deutsche Leitkultur damals ja praktisch erfunden haben. Um nicht zu weit abzuschweifen: Der Trick der Kanzlerin bestand also, ja, in einer Art Kontrahentenverzwergung. Die Streithähne sollten sich bewusst werden, dass sie, aus Staub geboren, in den Staub zurückkehren werden und ihre Zeit nicht damit vergeuden sollen, garstig zu sein. Ob es was genützt hat? Die deutschen Fußballer waren daraufhin sehr garstig zu den Slowaken, denn irgendwo muss der Zorn ja hin. Und das hat ganz bestimmt Merkels Segen. der Briten für Europa die Chance biete, „eine neue Seite aufzuschlagen“. Unterdessen zeichnet sich noch kein Drehbuch für den Krisengipfel der EU ab, der an diesem Dienstag in Brüssel beginnt. 24 Stunden vor dem Treffen der Staats- und Regierungschefs konnten am Montag selbst EU-Diplomaten wenig darüber sagen, wie der Gipfel nach dem Brexit ablaufen soll. Die 27 EU-Botschafter der Mitgliedsländer vom Kontinent telefonierten am Sonntagabend und setzten erste Wegmarken fest. Zum einen setzt sich offensichtlich bei den Mitgliedsländern die Erkenntnis durch, dass es sinnlos ist, den von London erwarteten Trennungsbrief unmittelbar einzufordern. Ein EU-Diplomat sagte: „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es derzeit keine Autorität im Vereinigten Königreich gibt, C INDEX — Seite 4 und Meinungsseite Streit um Höhe des neuen Mindestlohns WIRTSCHAFT & BÖRSEN . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Furcht Dax vorm Brexit hält an. Der Dax fällt um drei Prozent auf 9 268 Punkte. WETTER die in der Lage wäre, den Trennungsprozess auszulösen.“ Ein EU-Diplomat erklärte auch, er schließe nicht aus, dass die Briten niemals den Austritt erklären. In jedem Fall steht Cameron beim EU-Gipfel weniger stark unter Druck, als sich zunächst abgezeichnet hatte. Es wird akzeptiert, dass Großbritannien erst wieder eine arbeitsfähige Regierung haben muss, bevor der Brief in Brüssel eintrifft. Unter dem Strich hat sich damit Merkel durchgesetzt. In Brüssel wird nun damit gerechnet, dass die Frage, wann der Brief kommt, wohl beim Abendessen der Staats- und Regierungschefs am Dienstag besprochen wird. Da soll Cameron zudem einen Bericht zum Referendum und den Folgen vorlegen. D 2 ........................................... Wechselhaft geht es weiter. Sonne, Wolken, Regen – 21 / 14 auch am Dienstag und in den kommenden Tagen ist es beständig unbeständig. Die Hitze kehrt vorerst nicht wieder. SPORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 TAGESTIPPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 MEDIEN/TV-PROGRAMM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 IMPRESSUM & ADRESSEN . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 [email protected] TEL. REDAKTION . . . . . . . . . . . . (030) 29021 - 0 TEL. ABO-SERVICE . . . . . . (030) 29021 - 500 TEL. SHOP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (030) 29021 - 520 TEL. TICKETS . . . . . . . . . . . . . (030) 29021 - 521 ISSN 1865-2263 20026 Foto: Imago/Future Image International Von Albrecht Meier, Berlin, und Markus Grabitz, Brüssel Berlin - Einen Tag vor der entscheidenden Sitzung der Kommission, die die künftige Höhe der gesetzlichen Lohnuntergrenze festlegt, gibt es in dem Gremium Streit über die Geschäftsordnung und Berechnungsmethodik. Die Gewerkschaftsvertreter in der Kommission beharren auf einer Erhöhung des Mindestlohns von aktuell 8,50 Euro pro Stunde um 33 Cent auf 8,83 Euro. Die Arbeitgeber haben durchblicken lassen, sich einer Aufrundung auf 8,85 Euro nicht verschließen zu wollen – allerdings nur in diesem Jahr und das unter Bedingungen. Die Gewerkschaftsvertreter in der Kommission wollen sich darauf aber nicht einlassen. Strittig ist, ob der Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst in die Berechnung des neuen Mindestlohns einbezogen wird. kph 4 190662 202006 — Seite 7 er Brexit ist die erste Revolution in Europa seit dem Fall der Mauer. Die ersten Köpfe rollen schon, der Schrecken (und die Freude) sind groß, vor allem aber herrscht Ratlosigkeit. Wenn es nicht so absurd klänge, würde man den Briten und Europäern einen Runden Tisch empfehlen. Boris Johnson, dem Kopf der Anti-EUBewegung, ist immer wieder vorgeworfen worden, keinen Plan zu haben. Es stimmt, er hatte nie einen, und hat noch immer keinen – obwohl er vermutlich der nächste Premier sein wird. Aber um Pläne ging es bei dem Referendum nie. Es ging nicht um eine Alternative zum bestehenden Zustand, deshalb fiel die Planlosigkeit der Brexiter genauso wenig ins Gewicht wie die neuen Konditionen, die David Cameron in letzter Minute noch mit der EU ausgehandelt hatte. Doch eine Mehrheit der Briten hält die EU für nicht reformierbar. Ihnen ging es nicht um die Veränderung des bestehenden Systems, und das ist das revolutionäre Element, sondern um dessen Abschaffung. Der Preis, der möglicherweise dafür zu bezahlen ist, spielte keine Rolle. Im Gegenteil, je mehr Experten vor den Kosten eines Brexits warnten, desto größer war das Gefühl der Bevormundung. „Die Menschen in diesem Land haben ihre Schnauze voll von den Experten“ war ein bekannter Satz in der Referendumsdebatte. Er stellt die Systemfrage – auf jeder anderen Ebene ist er unsinnig, denn jedes moderne Land will und braucht Experten. Der Satz ist eine Absage an das, was die Grundlage der Politik ist: Vertrauen. Dass es der derzeitige Justizminister Großbritanniens war, der diesen Satz gesagt hat, zeigt, wie wenig einige Politiker in London noch von diesem politischen System halten. Die Folgen einer revolutionären Entscheidung mit politischen Mitteln anzugehen, ist kaum möglich. In London ist es zu einem Kontrollverlust und einem Machtvakuum gekommen, und in dieser Übergangsphase zögert jeder, um nicht als Figur einer Zwischenära in die Geschichte einzugehen. Klar ist nur, dass die alte Macht abgedankt hat, und der weitere Prozess ist nicht zu steuern, solange alle nur ans politische Überleben denken. Den Briten in dieser fragilen Phase nicht die Zeit zu geben, zu einer Form von Ordnung zurückzukehren, wäre fatal. Es ist gleichzeitig erstaunlich, dass in einem Europa der Demokratien eine solche Umbruchphase auftreten kann. Die „Checks und Balances“ der Demokratie, die Parteien, die Medien – alles Instrumente der Einbindung und Mitbestimmung – haben nicht verhindern können, dass es zu einer Entfremdung und dann zu einer radikalen Abrechnung gekommen ist. Die Unzufriedenheit muss groß sein, und auch das Gefühl, vom gegenwärtigen System verlassen worden zu sein, damit jemand sagt: Alles andere ist besser als die Europäische Union. Hinter dem Brexit-Votum steht das Gefühl der politischen Ohnmacht – und der Wille zur Selbstermächtigung. Dieses Gefühl ist weit verbreitet. Auch anderswo in Europa werden – von Linken wie von Rechten – die nationale Politik und die Europäische Union zunehmend als Systeme wahrgenommen, auf die man keinen Einfluss mehr nehmen kann, weil sie sich der Steuerung entzogen haben. Eine Politik, die sich hermetisch und alternativlos darstellt, fordert das revolutionäre Denken in ganz oder gar nicht, in „In“ oder „Out“ jedoch selbst heraus. ANZEIGE Schlafen ··· mit Zufriedenheits-Garantie! Fast ein Drittel deines Campingurlaubes schläfst du – hoffentlich gut! Nimm dir Zeit zum Probeliegen auf unseren Isomatten und für Schlafsackberatung vom Experten. Große Auswahl an Komfort versus Gewicht. DIE OUTDOOR-INSIDER Kar l-Marx-Allee 32 Ber lin-Mitte www.camp4.de
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