Leseprobe zum Titel: Frankfurter Allgemeine Zeitung

Z E I T U NG F Ü R D E U T S C H LA N D
Samstag, 11. April 2015 · Nr. 84 / 15 D 2
Amerika und
Kuba nähern
sich weiter an
HERAUSGEGEBEN VON WERNER D’INKA, JÜRGEN KAUBE, BERTHOLD KOHLER, HOLGER STELTZNER
Was noch bleibt
rüb. SÃO PAULO, 10. April. Die Vereinigten Staaten und Kuba haben beim
Amerika-Gipfel in Panama-Stadt den
Prozess ihrer Aussöhnung weiter vorangetrieben. Präsident Barack Obama
und der kubanische Staats- und Parteichef Raúl Castro wollten sich am späten Freitagabend bei der Auftaktzeremonie des zweitägigen Gipfeltreffens
der „Organisation Amerikanischer
Staaten“ (OAS) die Hand reichen und
ein erstes offizielles Gespräch führen.
Zuvor waren der amerikanische Außenminister John Kerry und der kubanische Außenminister Bruno Rodríguez
zu einem mehr als zweistündigen Gespräch zusammengekommen. Bei dem
Treffen in der Nacht zum Freitag ging
es nach Angaben des State Departments darum, „ausstehende Themen
zu lösen“. Washington und Havanna
hatten im vergangenen Dezember die
Wiederaufnahme der seit 1961 unterbrochenen diplomatischen Beziehungen beider Staaten vereinbart. In
Panama-Stadt hieß es, das State Department werde noch während des bis
Samstagabend dauernden Gipfels empfehlen, Kuba von der Liste jener Länder zu streichen, die der Förderung des
internationalen Terrorismus bezichtigt
werden. Obama sagte vor dem Beginn
des Gipfels, die Streichung Kubas von
der Liste werde zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. (Siehe Seite 6; Kommentar Seite 10.)
Heute
Sparer in der Zwickmühle
Von Holger Steltzner
er in Zeiten von Zinsen nahe
null spart, für sein Alter vorW
sorgt oder Geld anlegt, steckt in einer
Alte Spuren – Im Norden des Libanons hat das Christentum
eine lange Geschichte: Sie reicht genauso weit zurück wie in
Syrien und im Irak, wo sie gerade durch den Terror
islamistischer Milizen blutig beendet wird. Und wie dort sind
die Christen auch im Nordlibanon in Gefahr, bald nur noch
Geschichte zu sein. Sie sind zu schwach, um sich allein
gegen die Kämpfer des „Islamischen Staats“ zu wehren. Also
suchen sie Verbündete – und finden sie ausgerechnet in der
Miliz der islamistischen Hizbullah. Die Geschichte einer
Allianz aus Verzweiflung auf Seite 3.
Foto Anzenberger
Investoren erwarten wegen schwachen Euros wachsende Gewinne / IWF warnt
Schöner regieren
Der neugebaute Dienstsitz des
Innenministeriums widerspricht
Berliner Erfahrungen: pünktlich
fertig, kein Aufpreis. Politik, Seite 4
Neubau einer Altstadt
Traumprojekt: In Frankfurts Mitte
versucht man, die architektonischen Fehler der Spätmoderne zu
korrigieren. Feuilleton, Seite 11
Der indische Löwe
Indien braucht jeden Monat eine
Million neue Arbeitsplätze. Wird
der Ministerpräsident Reformen
schaffen? Wirtschaft, Seite 21
Ein Fonds für die Schweiz
Die Schweiz hat Milliarden an
Euro angehäuft. Der Devisenschatz könnte bald in Aktien im
Ausland fließen. Finanzen, Seite 29
Madame räumt ab
Martina Hingis, 35 Jahre alt,
wirkt im dritten Teil ihrer
schillernden Tennis-Karriere
fitter denn je. Sport, Seite 36
Fünfzig Millionen? Gern!
Der Markt läuft weiter heiß: Bei
den Kunstauktionen in New York
erwarten die großen Häuser Rekordsummen. Kunstmarkt, Seite 15
Briefe an die Herausgeber
Seite 8
4<BUACUQ=eachaf>:w;l;l;W;q
gb. FRANKFURT, 10. April. Die Nachfrage nach deutschen Aktien hat die Kurse zum Wochenschluss auf neue Höhen
steigen lassen. Getrieben werden die Kurse von der Geldpolitik der Europäischen
Zentralbank sowie von einem wachsenden Optimismus, dass sich die Wirtschaft
in der Eurozone im laufenden Jahr spürbar erholen könnte. Sowohl der 30 Werte
umfassende Deutsche Aktienindex als
auch der 100 Werte umfassende Aktienindex der F.A.Z. verzeichneten am Freitag
historische Höchststände. Auch an anderen europäischen Märkten sowie in Japan
stiegen die Aktienkurse.
Seit Wochen wird die Hausse am deutschen Aktienmarkt von ausländischen
Großanlegern getragen, die auf eine Kräftigung der Wirtschaft in Europa spekulie-
ren. Mittlerweile berichten Vermögensverwalter, dass das Interesse an Aktien auch
in Deutschland langsam wachse. Viele
deutsche Anleger investieren über die Beteiligung an Fonds indirekt in Aktien.
Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank befeuert diese Hausse. Die sehr
niedrigen Zinsen tragen zu günstigen Finanzierungskosten für die Unternehmen
bei und ermutigen Anleger, sich nach Alternativen zu kaum rentablen Bankeinlagen und Anleihen umzusehen.
Gleichzeitig befördert die Geldpolitik
eine Abwertung des Euros am Devisenmarkt. Zumindest auf kurze Sicht verbessert diese Entwicklung die Exportchancen
europäischer Unternehmen. Viele Finanzanalysten erwarten derzeit steigende Unternehmensgewinne in Europa, aber sta-
Zwickmühle. Weil beim Sparen die
Zeit das größte Kapital ist, können die
Jahre ohne Zins nicht nachgeholt werden. Früher sorgte der Zinseszins dafür, dass sich das Kapital bis zum Renteneintritt verdoppelt. Heute müsste
der Käufer einer Bundesanleihe 386
Jahre bis zur Verdopplung seiner Anlage warten. Das lohnt selbst für die Kindeskinder der eigenen Enkel nicht.
Also das Geld doch in ein Haus
oder in Aktien stecken? An der Börse
eilen die Kurse schon länger von einem Rekord zum nächsten. Jetzt noch
in Steine investieren? Auch in vielen
Städten läuft der Häusermarkt heiß.
Angesichts des Anlagenotstands gibt
manch einer sein Geld lieber aus. Das
kann man machen, aber man darf sich
dann nicht wundern, wenn im Alter
die gesetzliche Rente nicht für alle
Ausgabenwünsche reicht. Die Deutschen scheinen pragmatisch mit einem Mix aus allen Optionen auf den
Nullzins zu reagieren. Es wird weiter
in klassischer Form gespart. Gleichzeitig wächst die Neigung zum Aktien-
gnierende oder sogar fallende Gewinne in
den Vereinigten Staaten.
Die mit starken Kursgewinnen verbundene Gefahr von Übertreibungen an den
Finanzmärkten, die später zu Kurseinbrüchen und Finanzkrisen führen können,
wird derzeit kaum zur Kenntnis genommen. Die Warnungen konzentrieren sich
ohnehin mehr auf die Anleihemärkte, an
denen die Zinsen historisch niedrige Stände erreicht haben, als auf die Aktienmärkte. Die Generaldirektorin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde,
wies in Washington auf die Gefahren einer zu starken Aufwertung des Dollars für
Schwellenländer hin, die sich in der amerikanischen Währung hoch verschuldet hätten. (Siehe Wirtschaft, Seiten 19, 29, 30
und 31.)
Unternehmen sollen sich vor Hackern schützen
Politik: Wirtschaft soll Bedenken gegen IT-Sicherheitsgesetz zurückstellen
ban. BERLIN, 10. April. Nach dem durch
Anhänger des terroristischen „Islamischen Staates“ (IS) verübten Hackerangriff auf den französischsprachigen Fernsehsender TV5 Monde wird der Druck
auf die deutsche Wirtschaft erhöht, ihre
Bedenken gegen das geplante IT-Sicherheitsgesetz zurückzustellen. Der Cyberangriff, der den Fernsehkanal am Mittwoch
stundenlang blockiert hatte, zeige, wie
notwendig das Gesetzesvorhaben sei, sagte der für IT-Angelegenheiten zuständige
SPD-Abgeordnete Lars Klingbeil dieser
Zeitung. Der Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses, Wolfgang Bosbach
(CDU), äußerte im Gespräch, bei der ITSicherheit handele es sich um eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“. Der Vizepräsident des Bundesamtes für Sicherheit
in der Informationstechnik (BSI), Andreas Könen, erhob im ARD-Fernsehen den
Vorwurf, während die Netze des Bundes
„besonders gut aufgestellt“ seien, gebe es
in der Industrie noch „Schwachstellen“.
Die Cyberattacke wird die Beratungen
des Bundestages über das IT-Sicherheitsgesetz beeinflussen. Klingbeil und die
stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Nadine Schön schlossen Änderungen an dem „Entwurf eines Gesetzes
zur Erhöhung der Sicherheit informationstechnischer Systeme“ nicht aus.
Schön sagte, der in dem Gesetzentwurf
verwandte Begriff der „kritischen Infrastruktur“ müsse möglicherweise schärfer
definiert werden. „Wichtig ist natürlich,
dass es vergleichbare Regelungen auf
EU-Ebene gibt.“
Nach einer Liste des Bundesinnenministeriums zählen folgende Branchen zur
„kritischen Infrastruktur“: Energieversorgung, Telekommunikation (einschließlich
Fernsehsender), Transportwesen, Wasserwirtschaft, Lebensmittelhandel, Finanzund Versicherungswesen, staatliche Verwaltung. Entsprechende Unternehmen
und öffentliche Einrichtungen, die unter
diesen Begriff fallen, sollen laut Gesetzentwurf verpflichtet werden, ein „Mindestniveau an IT-Sicherheit einzuhalten“ und
dem BSI „Sicherheitsvorfälle zu melden“.
Der Innenausschuss wird am 20. April
eine Anhörung über das Gesetzesvorhaben abhalten. Bosbach sagte, der Vorfall
in Frankreich zeige den „permanenten
Optimierungsbedarf“ auf diesem Gebiet.
(Siehe Seite 2 und Wirtschaft, Seite 25.)
Handwerkliche Fehler
bei Bremer Terroreinsatz
Front-National-Vorstand
für Parteiaustritt Le Pens
Deutsche Bank
vor Rekordstrafe
bin. HANNOVER, 10. April. Nach Erkenntnissen des vom Bremer Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) eingesetzten Sonderermittlers sind bei dem Anti-TerrorEinsatz in Bremen Ende Februar nicht
nur handwerkliche Fehler gemacht worden, sondern auch strukturelle Defizite in
der Polizeiarbeit hervorgetreten. Die oppositionelle CDU fordert deshalb nicht nur
den Rücktritt Mäurers, sondern regt auch
eine Veränderung der Zuständigkeiten an.
„Das Beispiel Bremen zeigt, dass die Landespolizei mit Terrorismusabwehr teilweise überfordert ist“, sagte der Bremer
CDU-Fraktionsvorsitzende Thomas Röwekamp dieser Zeitung. Bei Terrorgefahr sollten stattdessen Bundesbehörden die Einsatzführung übernehmen. (Siehe Seite 4.)
mic. PARIS, 10. April. Der stellvertretende Vorsitzende der rechtsextremen französischen Partei Front National, Florian Philippot, hat dem Parteigründer Jean-Marie
Le Pen den Austritt aus der Partei nahegelegt. Es wäre „vorzuziehen“, wenn Le Pen
die Partei verlasse, sagte Philippot am
Donnerstag im Sender RMC. „Welchen
Sinn hat es, in einer Bewegung zu bleiben,
deren grundlegende Positionen man nicht
teilt?“ Anlass waren abermalige Äußerungen Le Pens, nach denen die Gaskammern der nationalsozialistischen Konzentrationslager nur ein „Detail“ der Geschichte gewesen sein sollen. Auch die Parteivorsitzende Marine Le Pen hatte ihren
Vater scharf kritisiert und ein Disziplinarverfahren angekündigt. (Siehe Seite 5.)
maf. FRANKFURT, 10. April. Auf die
Deutsche Bank kommt im Skandal um manipulierte Zinsen eine hohe Strafzahlung
zu. Die Bank steht vor einem Vergleich
mit amerikanischen und britischen Behörden. Wie am Freitag aus Finanzkreisen
verlautete, wird die Strafe mehr als 1,5
Milliarden Dollar betragen. Damit verbunden sei auch ein Schuldeingeständnis der
britischen Tochtergesellschaft Deutsche
Bank Group Services. Ein Sprecher der
Deutschen Bank sagte lediglich, man setze in der Angelegenheit die Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden fort.
Die Manipulationen waren möglich, weil
die Referenzzinsen wie Libor oder Euribor auf täglichen Meldungen einiger Banken beruhten. (Siehe Wirtschaft, Seite 28.)
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F. A. Z. im Internet: faz.net
kauf trotz oder wegen der Kursrekorde. Auch vom Wohnungskauf lassen
sich viele durch hohe Preise nicht
abschrecken. Sogar der Konsum
brummt, wie die Konjunkturstatistik
zeigt. Treiber dieser Entwicklung ist
die gute Lage am Arbeitsmarkt. Mit einem sicheren Arbeitsplatz lassen sich
auch größere Risiken eingehen.
Der Aufschwung ist nur zum Teil
hausgemacht. Der niedrige Ölpreis
wirkt für weite Teile der Weltwirtschaft wie ein Konjunkturprogramm,
aber Energie kann auch wieder teurer
werden. In Europa sind der Nullzins
und der weiche Euro gewollt, um den
Krisenländern zu helfen. Auch anderswo drücken Notenbanken durch ultralockere Geldpolitik den Wechselkurs.
Wie lange werden die Vereinigten
Staaten zusehen, wie der Dollar immer teurer wird? Zinsen, Wechselkurse und Vermögenspreise sind heute
wohl mehr als je zuvor durch Eingriffe der Zentralbanken verzerrt. Deshalb ist jede Anlageentscheidung
auch eine Wette auf die Geldpolitik.
Je länger es künstlich niedrige oder sogar negative Zinsen gibt, desto größer
werden mögliche Verwerfungen. Die
Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, die Zentralbank der Zentralbanken, warnt bereits vor den unliebsamen wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser Geldpolitik.
Die größte Mehrzweckhalle der Republik
Von Jürgen Kaube
s handelt sich erklärtermaßen um
das ambitionierteste KulturvorhaE
ben unseres Landes. Erklärt hat das ge-
Deutsche Aktienindizes auf
neuem Höchststand
Das Magazin zur Expo in Mailand:
Bilder der Ausstellung, Designer in
ihren Ateliers, Tim Parks im Glück.
2,70 € D 2954 A
rade Monika Grütters (CDU), die zuständige Staatsministerin. Sie meint
das sogenannte Humboldt-Forum, das
im dermaleinst rekonstruierten Hohenzollernschloss im Zentrum Berlins eingerichtet werden soll. Und sie meint
mit „ambitioniert“ vermutlich nicht
nur die Bausumme. Worauf genau der
Wille zielt, ist aber noch offen. Soeben
wurde eine dreiköpfige Gründungsintendanz damit betraut, „inhaltliche
Schwerpunkte“ zu setzen. Von Oktober an und zunächst für zwei Jahre soll
sie unter Leitung von Neil MacGregor,
derzeit Direktor des British Museum
in London, als beratendes Gremium
dabei helfen, die Ambitionen in Entscheidungen zu überführen.
Die Erfreulichkeit der Personalie –
MacGregor genießt ob seiner Intelligenz, seiner Umgangsformen und seiner objektiven Phantasie als Ausstellungsmacher höchste Anerkennung –
ist geeignet, die Merkwürdigkeit des
Vorganges zu verdecken. Wir sind älter
geworden mit ihm. Im Sommer 2002
hatte der Bundestag den Wiederaufbau des 1950 gesprengten Gebäudes
auf der Spreeinsel beschlossen. Das geschah nach langen Diskussionen über
den Sinn eines nostalgischen Nachbaus und darüber, ob das Stadtschloss,
diese „kastenförmige Anlage“ mit der
Anmutung „erzwungener Phantasielosigkeit“, wie es einmal beschrieben
wurde, tatsächlich je ein Wahrzeichen
Berlins oder Preußens gewesen sei.
Dieter Bartetzko hat vor siebzehn
Jahren in dieser Zeitung einen nach
1989 zunehmenden Willen zu nationalsymbolischer Architektur festgehalten. Im Fall des Schlosses gehe er mit
mangelnden Vorstellungen einher, wofür es denn stehen und wozu es dienen
solle. Die Formulierung von der „größten Mehrzweckhalle der Republik“ ist
unvergessen. Denn so schnell sich der
Name „Humboldt-Forum“ für den Inhalt der Schachtel fand, so wenig wurde klar, was er seinerseits bedeuten
könnte. In den Jahren seither ist es weder der Politik noch den interessierten
Kreisen gelungen, konkret zu werden.
Genauer: Jede Lobby hatte ihre eigenen Vorstellungen. Die Borussenlobby
freilich war zu sehr mit der Fassade beschäftigt, als dass der Vorschlag, ein
Museum preußischer Geschichte müsse hinein, chancenreich gewesen wäre.
Auch die verwandte Anregung des
Schriftstellers Martin Mosebach, der
deutsche Sonderweg von der Rechtsstaatsgründung ohne Demokratie verlange eigentlich den Umzug des Bundesverfassungsgerichts ins Berliner
Schloss, blieb ein sinnreiches Aperçu.
Erfolgreicher waren andere Umzugspläne, etwa diejenigen für die völkerkundlichen Sammlungen der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz im Süden Berlins. Außereuropäisches Kunsthandwerk und Alltagsobjekte, Gerätschaften der Wissenschaftsgeschichte aus
dem Depot der Humboldt-Universität,
Buchbestände der Berliner Landesbibliothek – das sollen die Materialien
des Forums sein. Und natürlich soll es
eine Debattierzone für Tagungen zu
all dem geben, Veranstaltungsräume,
bestimmt auch etwas mit Multimedia.
So weit war man im Jahr 2002. So
weit ist man im Grunde immer noch.
Der Zeitbedarf der Kulturpolitik ist womöglich auch deshalb so ungeheuer,
weil sie Festlegungen scheut. Wer eindeutige Zwecksetzung für irgendwie
absolutistisch, elitär oder eurozentrisch hält, bezahlt darum mit der
Rätselfrage, was balinesische Masken
eigentlich mit Virchows Präparaten,
Gipsköpfen aus der Klassik und einem
Projekt der Landesbibliothek zur
„Welt der Sprachen“ zu tun haben.
Und landet eventuell bei einer Verbin-
Der Zeitbedarf der
Kulturpolitik ist
so ungeheuer, weil sie
Festlegungen scheut.
dung des Unverbundenen durch Treppenhäuser.
Über Formeln wie die, im Humboldt-Forum sollten die Besucher mit
fremden Augen auf sich blicken, weil
hier eine neuartige „globale“ Weltsicht
ausgestellt werde, ist man nicht weit
hinausgekommen. Überhaupt fällt auf,
wie oft das Wort „Welt“ im Zusammenhang mit der Funktion des Stadtschlosses verwendet wird: Weltkultur, Weltbürger, Weltverständnis. Das mag an
Berlin liegen. Man denkt dort gerne
groß. Dabei geben die verfügbaren
Sammlungen nicht einmal einen Tresor der Zivilisationen her. Außerdem
gibt es von Welt als dem Inbegriff des
Ganzen ohnehin keine Anschauung.
Genauso wenig hilft die Beschwörung einer Humboldt-Epoche, in der
Forschung, Kunst und Sammelleidenschaft noch eng verbunden waren;
selbst dann nicht, wenn man damit Bildungsaufgaben für Bürger aller Migrationshintergründe verbindet, die man
sich als Besucher vorstellt.
Noch immer hat das Humboldt-Forum also mehr Quadratmeter als Ideen. Kann ein Museum mit angeschlossenem Diskursbetrieb vereinen, was
die moderne Gesellschaft getrennt
hat: Natur- und Geisteswissenschaften, Labor und Bildersaal, Erkenntnis
und Schaulust? Neil MacGregor wird
nachgesagt, er könne es und habe das
durch seine Londoner Ausstellungen
bewiesen. In Berlin wird er aber keine
Ausstellungen machen, sondern Konzepte verabschieden. Zudem haben
wir es mit der Organisationsmerkwürdigkeit einer beratenden Intendanz
ohne administrative Aufgaben zu tun.
Dem allem kann man nur viel
Glück wünschen. Man soll die Möglichkeit, dass aus einer Mehrzweckhalle eine Wunderkammer wird, ja nicht
von vornherein und auch nach dreizehn Jahren nicht ausschließen.