Was politische Parteien sein könnten - SWR

SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 AULA – Manuskriptdienst
Was politische Parteien sein könnten
Ein Plädoyer, das die Piraten fest im Blick hat
Autor und Sprecher: Dr. Felix Heidenreich *
Redaktion: Ralf Caspary
Sendung: Sonntag, 17. Februar 2013, 8.30 Uhr, SWR 2
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Ansage:
Mit dem Thema: „Was politische Parteien sein könnten.“
Es ist so leicht, auf die Parteien zu schimpfen, zu sagen, sie würden gar nicht mehr
das Volk repräsentieren, sondern eigentlich nur noch ihre eigenen Machtinteressen;
in diesem Zusammenhang ist dann oft vom "Raumschiff Bundestag" die Rede, das
losgelöst von aller Realität durch die unendlichen Weiten des politischen Systems
rast. Und die Gegner des Parteienstaates reden dann vollmundig vom Ende der
Parteien – siehe die Piraten.
Aber diese Rede geht an der Funktion der Parteien vorbei, das sagt Dr. Felix
Heidenreich, Politikwissenschaftler an der Universität Stuttgart. In der SWR2 Aula
zeigt er, warum Parteien nach wie vor unverzichtbar sind und warum die Piraten
keine Alternative sind.
Felix Heidenreich:
Wenn es derzeit einen überlappenden politischen Konsens über die sozialen und
kulturellen Milieus hinweg gibt, dann lautet dieser: Schluss mit der
Parteienherrschaft. Die bereits vor Jahrzehnten formulierte Diagnose vom
„Parteienstaat“ (Wilhelm Hennis) hat sich in allen Teilen der Gesellschaft
herumgesprochen und scheint der zentrale Ankerpunkt der Politik-, Politiker- und
Parteienverdrossenheit zu sein. Nach dieser Lesart haben sich die Parteien den
Staat zur Beute gemacht. Sie benutzen ihn als Verteilungssystem für Posten und
Finanzmittel, höhlen jedoch seine Institutionen jedoch systematisch aus, indem sie
zentrale Entscheidungen in Parteigremien verschieben. Das Wahlrecht macht es
dem Bürger unmöglich, dieses Kartell aufzubrechen, weil er immer nur zwischen
Skylla und Charybdis wählen kann. Jede, den klassischen Parteien anvertraute
Wählerstimme nutzt demnach nur einer politischen Klasse, die ihre Netzwerke in die
Aufsichtsräte von Medienanstalten, in die Lobbyorganisationen von Arbeitgebern und
Gewerkschaften, in die Kirchen und Verbände spinnt. Wer in die Parlamente
entsandt wird, entschieden bisher in den meisten Fällen eben nicht die Bürger,
sondern die Parteien selbst über ihre Landeslisten. Dieses zweifelhafte Gebaren der
Parteien schlägt denn auch auf sie zurück. Ihr Zustand ist seit Jahren in den Worten
des Parteien-Forschers Hubert Kleinert „besorgniserregend“. Die Parteien, einst als
vermittelnde Elemente zwischen Bürgern und Staat mit hoher Legitimation
ausgestattet, haben sich aus dieser Sicht in ihrer bisherigen Form schlicht überlebt.
Der Erfolg der Partei „Die Piraten“ erklärt sich zu guten Teilen aus einer erfolgreichen
Inszenierung als Anti-Parteien-Partei. Die Paradoxien dieser Inszenierung beginnen
bereits beim Namen, denn „Piraten“ bewegen sich per Definition außerhalb des
Rechtssystems, sind „outlaws“. Die Versuche, sich als eine Partei zu etablieren, die
gegen die Etablierung von Parteien opponiert, wirken denn auch auf manche
interessant, auf andere eher amüsant. Die nautische Metaphorik von den wackeren
Freibeutern, die sich aufmachen, das Staatsschiff zu entern, kollidiert zudem auf
seltsame Weise mit dem gleichzeitig verbreiteten Selbstbild von den rational-kühlen
Programmierern, die den verstockten Staatstrukturen endlich ein neues
Betriebssystem oder zumindest ein „update“ verpassen. Die klassische Vorstellung
SWR2 Aula vom 15.02.2013
Was politische Parteien sein könnten – Ein Plädoyer, das die Piraten fest im Blick hat
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der politischen Partei aber wäre aus dieser Perspektive ein „Bug“, ein
Programmierfehler, den es zu beheben gilt.
Die Kritik an den etablierten Parteien ist selbstverständlich nicht einfach falsch. Die
Art und Weise, in der über künftige Bundespräsidenten entschieden wird, war in
manchen Fällen schlicht entwürdigend – für das Amt und damit auch für das Land.
Die unverhohlene politische Einflussnahme auf die Redaktionen des öffentlichrechtlichen Mediensystems verschlägt dem Beobachter bisweilen die Sprache. Sie
gipfelt in Personalwechseln, bei denen Nachrichtenredakteure ihr in öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten erworbenes kulturelles Kapital direkt in politische
Vorteile umzumünzen versuchen. Die Piraten haben also durchaus Recht: Über das
Verhältnis zwischen Bürgern, Parteien und Staat muss neu nachgedacht werden.
Aber – und hier beginnt mein Einwand gegen eine allzu pauschale, ja bisweilen
wohlfeile Kritik an politischen Parteien – es gibt mittlerweile eine Verachtung für
Parteien, die nicht nur unangemessen, sondern regelrecht gefährlich ist. Sie hat viele
Fürsprecher und man trifft sie überall. Wenn der Philosoph und Publizist Richard
David Precht im Interview beteuert, er habe nie einer Partei angehört, so klingt das
schon beinahe wie ein Verdienst: Nein, mit diesen Leuten habe ich noch nie etwas
zu tun gehabt, scheint er uns sagen zu wollen. Auch wenn der nicht minder populäre
Journalist Gabor Steingart der Wahlenthaltung das Wort redet, indem er beteuert,
auch in einem Supermarkt habe man ja das Recht, nichts zu kaufen, offenbaren sich
grundlegende Missverständnisse über die Funktionsweise der Demokratie. Eine
Demokratie ist kein Supermarkt und ein Bürger sollte sich selbst nicht allein deshalb
für bürgernah und basisdemokratisch halten, weil er sich nie in einer Partei engagiert
hat.
Die Skepsis der Bürger gegenüber politischen Parteien schlägt sich zum einen in
sinkenden Wahlbeteiligungen nieder. Von manchen Politikwissenschaftlern wird
Wahlenthaltung als stille Zustimmung oder rational begründete Entscheidung
gewertet. Langfristig bedenklicher als die Wahlenthaltung scheinen mir der
Rückgang der Mitgliederzahlen und das rückläufige Engagement in den meisten
politischen Parteien. Die Rede von den oligarchischen Hinterzimmer-Parteien droht
so zu einer Art sich selbst erfüllender Prophezeiung zu werden. Je weniger Bürger
sich in Parteien engagieren, umso einfacher lassen sich dort oligarchische Strukturen
aufbauen.
Aber wie sind wir so weit gekommen? Haben sich die weit verbreiteten Vorstellungen
von Demokratie gewandelt und die etablierten Parteien passen sich lediglich zu träge
an? Haben die Parteien selbst ihr Image zu Grunde gerichtet durch all die Skandale,
all die Mauscheleien und strategischen Spielchen? Wie müssten Parteien aussehen,
um für Wähler und potenzielle Mitglieder wieder attraktiv zu werden?
Um diese Fragen zu beantworten, empfiehlt sich eine Perspektive, die nicht einfach
ökonomisch oder funktionalistisch nach dem Kalkül im Verhalten der Parteien oder
einzelner Akteure fragt. Diese Theorien, man nennt sie Theorien der rationalen Wahl,
die Parteien als Anbieter auf einem Markt verstehen, auf dem man um
Wählerstimmen konkurriert und Mitgliedern Karrierechancen gegen Lebenszeit
bietet, können womöglich Wahlergebnisse erklären. Um jedoch normative Ansprüche
plausibel zu machen, bedarf einer gänzlich anderen Art der Betrachtung.
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Der in Frankfurt lehrende Philosoph Axel Honneth hat in seinem viel diskutierten
Buch „Das Recht der Freiheit“ eine solche Perspektive vorgeschlagen. Unter einer
„normativen Rekonstruktion“ versteht er eine Betrachtungsweise, die nach jenem
Versprechen fragt, das historisch mit bestimmten Institutionen verbundenen war. In
der Tradition Hegels geht Honneth davon aus, dass sich in den sittlichen Praktiken
und Rechtsformen eine Art DNA ablesen lässt, die im alltäglichen Leben als
selbstverständlicher Hintergrund vorausgesetzt ist. In den Institutionen finden wir
demnach im besten Falle die Weisheit von Jahrhunderten – ein Idealbild, das der
Wirklichkeit nicht einfach entgegen gestellt wird, sondern sich aus der Geschichte
der jeweiligen Institution und Praktiken selbst herausarbeiten lässt.
Ich will Honneths Verfahren kurz veranschaulichen: Das vielleicht markanteste
Beispiel für eine normative Rekonstruktion ist Honneths Beschreibung der Familie.
Das Versprechen der Familie, formuliert im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert,
formulierte die Utopie einer frei gegründeten, also nicht arrangierten, dann aber
quasi-natürlichen Solidargemeinschaft, die verschiedene Generationen verbindet und
die Teilhabe an den Lebensaltern der Anderen ermöglicht. Die moderne Familie wird
demnach als ein Ort sozialer Freiheit gedacht, an dem anders als in der antiken
römischen Familie keine Besitzverhältnisse, sondern Anerkennungsverhältnisse
vorherrschen sollen. Alle Reformvorschläge bezüglich des Familienlebens müssen
sich an dieser rekonstruierten normativen Idealvorstellung messen. Und auch und
gerade die wachsende Verrechtlichung der Familie – man denke an das erst in den
letzten Jahrzehnten konsequent umgesetzte Gewaltverbot – dient dann dazu, das
implizite Ideal schrittweise zu entfalten.
Und die Parteien? Welches Versprechen wurde in ihrer Herausbildung formuliert?
Welchem Begriff versuchen die entsprechenden Gesetze eine Gestalt zu geben?
Welche normative Idee von politischer Partei kann als Maßstab für die Wirklichkeit
herhalten?
Honneth selbst äußert sich hierzu kaum. Vielmehr lautet seine These: „Ein Ausweg
aus der Krise des demokratischen Rechtsstaats böte nur die Bündelung der
öffentlichen Macht von Verbänden, sozialen Bewegungen und zivilen Assoziationen,
um koordiniert den parlamentarischen Gesetzgeber unter Druck zu setzen.“ Gerade
dieses „nur“ scheint mir problematisch, weil damit das Bild eines Parlaments
gezeichnet wird, das nicht durch innerparteilich Bottom-up-Prozesse, sondern nur
durch eine letztlich außerparlamentarische Opposition zur Responsivität gezwungen
werden kann. Gefragt ist also, methodisch mit, aber vom Ergebnis her gegen
Honneth eine normative Rekonstruktion der Idee der politischen Partei. Der
entscheidende qualitative Unterschied, der zwischen Parteien und anderen
politischen Interessengruppen besteht, also Bürgerinitiativen, Vereinen, LobbyGruppen wie dem ADAC beispielsweise, ist der Anspruch auf innerparteiliche
Demokratie. Parteien sind Organisationen, die sich an jenen Ansprüchen an
geregelte, demokratische und transparente Verfahren messen lassen müssen, wie
wir sie sonst nur für Parlamente kennen. Gerade jene Mechanismen der Wahl und
Delegation, die vielen Parteienkritikern so verhasst sind, haben ihren spezifischen
Sinn: Sie verlagern die Ansprüche an eine demokratische Willensbildung aus dem
staatlichen Bereich im engeren Sinne auf die Schnittstelle zur Zivilgesellschaft.
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Die Parteien haben folglich, darauf hat beispielsweise Ernst Wolfgang Böckenförde
sehr plausibel insistiert, eine besondere „Zwischenstellung zwischen Staat und
Gesellschaft“. Sie dürfen nicht selbst staatlich werden, niemand von uns will
Staatsparteien haben, weil dies die Offenheit der Willensbildung beenden würde. Sie
sind aber auch nicht nur einfach gesellschaftlich, sondern agieren auf den Staat hin
und daher unter besonderen, im Parteiengesetz definierten Spielregeln. Eine
wichtige Konsequenz dieses Anspruchs ist die Wiederkehr des Prinzips der
Repräsentation in den Parteien. Auch hier gibt es Delegierte, Vorsitzende, Sprecher,
kurz: Repräsentanten. Nicht jeder darf alles sagen – und mancher muss sogar mit
Parteiausschluss rechnen, wenn er glaubt, alles sagen zu dürfen. Man denke an die
Debatte um Thilo Sarrazin in der SPD. Der Mechanismus der Repräsentation baut
folglich Filter und Schleusen in den innerparteilichen Diskurs ein. Damit bezahlt die
Partei als Organisation die erworbene Verlässlichkeit mit Exklusion. Enttäuschte
werden sagen: „Ich fühle mich hier nicht repräsentiert!“
„Nicht Du als Individuum sollst hier jedoch repräsentiert werden, sondern eine Idee
des Gemeinwohl!“, so könnte man erwidern. Zumindest ein gewisser Anteil der
Parteienverdrossenheit könnte damit zusammen hängen, dass die Wähler keine
individuell zugeschnittenen Sonderanfertigungen erhalten, sondern am Ende immer
das kleinste Übel, also eine halbwegs akzeptable Mischung aus Politikvorschlägen,
wählen müssen. In einer Zeit sich immer weiter ausdifferenzierender Sozialmilieus
findet man dann aber „nichts Passendes“. Der Kern des Problems hängt wohl
weniger mit wachsendem Individualismus zusammen als mit einer systematischen
Schwierigkeit des Begriffs der Repräsentation. Denn Repräsentation kann zwei
gänzlich verschiedene Bedeutungen haben.
Eine vor allem in den USA vorherrschende Bedeutung versteht „Repräsentation“ als
eine Art der Delegation: Der Repräsentant vertritt die Interessen seiner Wähler – und
zwar so genau wie nur irgend möglich. Als Repräsentant ist er lediglich ein aus
technischen Gründen in die Hauptstadt entsandter Bote. Dass Politiker die Bürger
„repräsentieren“ sollen, bedeutet dann, dass sie deren Präferenzen möglichst genau
abbilden und auf entsprechende Änderungen möglichst schnell reagieren sollen. Die
Repräsentierten und die Repräsentanten stehen nach diesem Ideal in einem
Verhältnis der maßstabsgetreuen Abbildung, also der lediglich technisch vermittelten
Identität.
Eine zweite Bedeutung hingegen betont den Charakter der Verbesserung des
Repräsentierten durch das Repräsentierende. Wenn wir beispielsweise sagen: Der
Bundestag soll die Bevölkerung Deutschlands, die deutschen Bürgerinnen und
Bürger repräsentieren, so meinen wir damit ja gerade nicht ein Verhältnis
maßstabsgetreuer Abbildung, sondern einen Prozess der Verbesserung, der
Kondensierung des Wesentlichen, der Sublimierung. Die klügsten Köpfe sollen im
Parlament sitzen und nicht etwa ein repräsentativer Anteil von Straftätern.
Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Hanna F. Pitkin hat in einer klassischen
Studie zum Repräsentationsbegriff diese Doppelbedeutung anhand der Metaphern
von Koch und Arzt diskutiert. In der hier gewählten Zuspitzung wird die
Gegenüberstellung von Koch und Arzt bei Pitkin zwar nicht formuliert, doch der Text
scheint mir diese Grenzbegriffe ganz klar nahezulegen. In der identitären Bedeutung
muss der Koch als Repräsentant unsere Wünsche möglichst genau erfüllen. In der
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differenzorientierten Bedeutung macht gerade die zusätzliche Kompetenz des Arztes
diesen zu einem legitimen Anwalt unserer Interessen.
Beide Begriffe von Repräsentation zeigen bereits ein Scheitern an. Der willenlose
Koch, der selbst die unbekömmlichsten Speisen auf Wunsch zubereitet, wäre ein
ebenso schlechter Politiker wie ein Arzt, der die anzustrebende Vorstellung von
Gesundheit oder von einer gelingenden Therapie mit seinen Patienten nicht zu
diskutieren braucht. Dennoch schwingen in unserem Sprachgebrauch beide
Ansprüche an Repräsentation stets mit: maßstabsgetreue Abbildung einerseits und
stellvertretende Anwaltschaft, verbesserte Vertretung von Interessen andererseits.
Die Politiker sollen als Köche genau das tun, was wir wollen; sie sollen aber
gleichzeitig wie Ärzte auch jene bittere Medizin verschreiben, die der Mehrheit nicht
schmeckt, obwohl sie ihr langfristig bekommt. Daher kann man „den Politikern“
wahlweise vorwerfen, sie seien so furchtbar abgehoben oder aber sie seien so
furchtbar durchschnittlich.
Viel Frustration über „die Politiker“ lässt sich aus dem unlösbaren „double-bind“
zweier gegenläufiger Ansprüche verstehen, die in einem einzigen Begriff
zusammengebunden sind. Besonders deutlich wird dies in der Art und Weise, wie
großes Lob in beißende Kritik umschlug, als die Skandale um Bundespräsident
Christian Wulff eskalierten. Er wurde zunächst dafür gelobt, zusammen mit seiner
jungen Frau ein volksnahes Amtsverständnis zu praktizieren. Er bemühte sich nach
Kräften, „einer von uns“ zu sein, wie man so schön sagt. Groß war dann aber die
Enttäuschung, als sich herausstellte, dass er wirklich einer von uns ist. Dass der
Bundespräsident die Bürger repräsentieren soll, bedeutet nämlich zugleich, dass er
gerade kein durchschnittlicher Schnäppchen-Jäger sein darf.
Die in der Piraten-Partei weit verbreitete Skepsis gegen herausragende
Parteimitglieder – manche sprechen auch von einem regelrechten Hass – lässt sich
vor diesem Hintergrund als eine Verkürzung des Repräsentationsbegriffs verstehen.
Wenn sich beispielsweise Parteimitglieder bei Podiumsdiskussionen weigern, ihren
Namen zu nennen und stattdessen erklären: „Ich bin Pirat. Punkt.“, so scheint
dahinter ein identitäres Demokratieverständnis zu stehen. Das Einzelne muss hier
vollständig im Ganzen aufgehen; daher muss sich der Einzelne dem Ganzen auch
gar nicht unterordnen, darf also beispielsweise zugleich Mitglied einer anderen Partei
sein. In der Piraten-Partei, so scheint es, kann jeder sagen, was er will, aber keiner
kann sagen, was die Partei als Ganzes will.
Aber was hat diese spannungsgeladene Bedeutung des Repräsentationsbegriffs mit
der Sonderrolle von politischen Parteien zu tun? Ganz einfach: Parteien können
verstanden werden als jene Institutionen, in denen die doppelte, sich selbst
widersprechende Bedeutung von Repräsentation in eine produktive Spannung
umgewandelt werden kann. Der oder die Ortsvorsitzende ist sehr nahe, andererseits
schon ein bisschen entfernt, ist Koch und Arzt, Duz-Freund, aber auch
Parteitagsdelegierter. In der Partei fühlt sich das Mitglied einerseits wie in einer
politischen Familie zuhause, andererseits hadert es stets mit der Parteiführung.
Solange in Parteien die Spannung in eine produktive Auseinandersetzung gelenkt
werden kann, sind Parteien offene Diskursräume der Meinungsbildung, der inhaltlich,
oft medienfernen politischen Auseinandersetzung.
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Dies setzt allerdings die Möglichkeit des Rollenwechsels zwischen den Akteuren
voraus. Dazu braucht es Mechanismen, die die Bildung von Oligarchien und
informellen Netzwerken zumindest erschweren.
Axel Honneth hat in seiner „normativen Rekonstruktion“ der Familie die
Verrechtlichung als legitime und wichtige Rückfalloption im Falle der Krise
beschrieben. Wenn Familien scheitern, sind der rechtlich garantierte Schutz von
Kindern, die rechtliche Sicherheit im Prozess der Scheidung, von großer Bedeutung.
Das Recht allein kann keine funktionierenden Familien hervorbringen; aber es kann
durch klare Regelungen daran erinnern, was eine Familie sein sollte und was nicht.
Auch im Falle der Parteien könnte das Medium des Rechts als Motor einer
Umsetzung der ursprünglichen Ideale sinnvoll sein. Das Parteiengesetz, dessen 40jähriges Bestehen 2008 gefeiert wurde, ist hierfür enorm bedeutsam. Wie wichtig
beispielsweise eine transparente und faire Regelung der Parteienfinanzierung ist,
zeigt vor allem der Vergleich zu den USA. Denn hier sind viele Abgeordnete primär
damit beschäftigt, Wahlkampfmittel einzuwerben. Der Kampf um eine Ordnung der
Parteienfinanzierung in den USA scheint momentan aussichtslos. Aber vielleicht
lässt sich auch in Deutschland nachjustieren. Die teilweise enge Verknüpfung mit
Wirtschaftsverbänden, die schiefen Wege versteckter Parteienfinanzierung über
Tochterfirmen oder Vereine, die Intransparenz von Kungelrunden – all diese
negativen Auswüchse entziehen sich nicht einer potenziellen rechtlichen Regelung.
Mit Axel Honneth könnten wir hoffen, dass es gelingt, bereits implizit Vorstellungen
einer demokratischen Parteienlandschaft auch rechtlich noch stärker explizit zu
machen.
Diese Vorstellung mag naiv erscheinen. Aus Sicht der vehementen Parteienkritiker
scheint sie auf die Hoffnung hinauszulaufen, dass Partei-Eliten ihre eigene Position
freiwillig schwächen. Betrachtet man Parteien rein ökonomisch als Verbände
nutzenmaximierender Akteure, die versuchen, kollektive oder individuelle Interessen
durchzusetzen, so ist mit Besserung in der Tat nicht zu rechnen. Aber die Wähler
haben immer noch die Möglichkeit, die Parteien in Konkurrenz zueinander zu setzen
und könnten genau diese Reformen fordern. Die Parteien beginnen bereits jetzt, mit
neuen Ideen dieser Art um Wählerstimmen zu werben. Gleichermaßen könnten sie
gegenüber den Wählern um die striktesten Antikorruptionsregeln konkurrieren. Die
Tendenz zur Mitgliederbeteiligung bei der Suche nach Spitzenkandidaten oder bei
Einzelentscheidungen deutet darauf hin, dass sich die Parteien bereits bewegen.
Das ist wichtig, denn die direktdemokratischen Elemente, die allerorten gefordert
werden, können die parteipolitischen Mechanismen nicht ersetzen. Sie können der
öffentlichen Debatte mehr Gewicht verleihen und das repräsentative System zu mehr
Responsivität zwingen, das Spektrum der Beteiligungsoptionen also abrunden. Ihre
Ausweitung ist zu begrüßen. Aber sie können eben niemals das repräsentative
System einfach ersetzen: Mit Volksabstimmungen lassen sich weder
Stellenbesetzungspläne noch Budgetplanungen angemessen entscheiden.
Die eigentliche Gefahr des Anti-Parteien-Diskurses liegt in seiner Verachtung für die
langatmige, kleinteilige und bisweilen nervtötende politische Arbeit. Diese Arbeit
findet, wenn sie in Parteien stattfinden, in Institutionen statt, die anderen
demokratischen Standards entsprechen müssen als Verbände, Bürgerinitiativen oder
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bloße Kampagnengruppen: Ein Ortsverein, der über die Geschäftsordnung
debattiert, mag in der Tat abschreckend sein – aber er ist demokratisch als runder
Tisch, eine Kommission oder irgendein Rat.
Die Folgen des Antiparteiendiskurses sind jedoch weitreichend. Es geht das Gerücht,
Parteien bildeten eine Art Negativ-Auslese. Wer in der Wirtschaft wegen
Kompetenzmangels keine Karriere machen könne, wähle die Ochsentour durch die
Parteien. Wenn wir jedoch einer Stimmung das Wort reden, der zufolge nur
Sozialversager Karrierestreber und Langweiler in Parteien zu finden sind, so
verschärft sich das Problem in einer sich selbst verstärkenden Dynamik.
Besorgniserregend ist nicht nur die größtenteils abnehmende Zahl von
Parteimitgliedern, die natürlich auch auf den demografischen Wandel zurückzuführen
ist, sondern auch und vor allem das in manchen Fällen massive Nachwuchsproblem
der Parteien. Noch nie war es unter jungen Leuten so uncool, sich in einer Partei zu
engagieren. Selbst unter Studierenden der Politikwissenschaft finden sich immer
weniger, die auch nur Mitglied einer Partei sind. Ob es ein stark ausgeprägter
Individualismus, gewöhnliche Bequemlichkeit oder aber die Überlastung in einer
hochkompetitiven und flexiblen Arbeitswelt ist, die das Engagement
unwahrscheinlicher machen, ist unklar. Der Anti-Parteien-Diskurs spielt zweifellos
auch eine Rolle.
Dass sich das Engagement der jungen Leute neue, unkonventionellere Wege sucht,
kann aus meiner Sicht nicht beruhigen. Ohne in Parteien engagierte Bürger wird auf
absehbare Zeit kein demokratischer Staat zu machen sein. Daher schulden all jene,
die sich nicht in engagieren, den Engagierten zunächst einmal Respekt – und keinen
Hohn. In der Tat: Auch die Parteien müssen sich verändern. Aber das können sie nur
mit engagierten Mitgliedern, die sich zumuten, dort mit Menschen
zusammenzuarbeiten, die eventuell nicht ihrem kulturellen Hintergrund entsprechen
oder ihrem sozialen Milieu entstammen.
Der Bestseller „Empört Euch!“ des französischen Widerstandskämpfers Stéphane
Hessel sollte uns zu denken geben. Die Résistance als Referenzgröße zu bemühen,
mag aus deutscher Sicht ein bisschen zu dick aufgetragen wirken. Aber wir sollten
nicht vergessen, dass die Résistance als Armee organisiert war, über
Kommandostrukturen und Befehlsketten verfügte. Die richtungslose Frustration über
dieses und jenes muss den Weg durch die Institutionen nehmen. Die angemessene
Folgerung kann dann nicht lauten: Engagiert Euch!, - egal wo, sondern: Organisiert
Euch – und zwar auch in Parteien! Wer andere Parteien haben will, der sollte die
bestehenden verändern oder neue gründen und sich nicht damit brüsten, dass er
sich die Mühen der politischen Arbeit erspart.
*****
* Felix Heidenreich studierte Philosophie und Politikwissenschaften in Heidelberg,
Paris und Berlin. Er ist wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für
Kultur- und Technikforschung (IZKT) der Universität Stuttgart und Lehrbeauftragter
im Fachbereich Politikwissenschaften. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören die
Politische Theorie, die Kulturphilosophie und die Wirtschaftsethik. Zuletzt erschien
SWR2 Aula vom 15.02.2013
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seine Einführung “Theorien der Gerechtigkeit”, die anhand der Auseinandersetzung
zwischen Antigone und Kreon einen anschaulichen Überblick über die
Ideengeschichte des Gerechtigkeitsbegriffs und die aktuelle Debatte liefert.
Bücher:
– Wirtschaftsethik zur Einführung, Junius-Verlag. 2012.
– Theorien der Gerechtigkeit, Opladen (UTB.) 2011.
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