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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2
Dem Täter auf der Spur
Kurze Geschichte der Kriminalistik
Von Joachim Meißner
Sendung: Donnerstag, 22.01.2015, 08.30 – 09.00 Uhr, SWR2 Wissen
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Felicitas Ott
Produktion: SWR 2015
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Regie: Musik, spannungsgeladen, krimimäßig
Sprecherin:
November 2011. Die Polizei findet am Ufer eines Flusses einen männlichen Torso.
Nackt, ohne Gliedmaßen. Auch der Kopf fehlt. DNA-Analyse und Fingerabdrücke, die
wichtigsten Mittel der Identifikation, greifen nicht. Der Tote bleibt anonym. Einer von
150 in Deutschland. Sein rätselhafter Tod scheint dazu bestimmt zu sein, als ein
weiterer ungelöster Fall zu enden. Doch stattdessen wird er – ganz im Gegenteil –
dank neuester Methoden einen besonderen Entwicklungspunkt in der Geschichte der
forensischen Wissenschaft markieren.
Ansage:
Dem Täter auf der Spur. Eine kurze Geschichte der Kriminalistik.
Von Joachim Meißner.
Take 1: (Christine Lehn)
Also ich bekomme teilweise sehr alte Fälle hier ins Haus, also Skelettteile, die schon
in den 80er Jahren aufgefunden wurden und Fälle, die ganz aktuell sind, wo die
Polizei möglichst schnell, möglichst viele Informationen über die Identität eines
Menschen erfahren möchte.
Sprecher:
Christine Lehn ist forensische Biologin an der Universität München. Im Fall der
unbekannten Leiche vom Flussufer kann sie der Polizei mit einem HightechVerfahren aus ihrem Labor helfen, das zu den interessantesten Neuerungen der
letzten Jahrzehnte in der Kriminalistik zählt: Der Isotopenanalyse.
Take 2: (Christine Lehn)
Mit der Isotopenanalyse ist es möglich, geografische Herkünfte zu bestimmen. Das
heißt ich kann sagen, wo ist der Mensch aufgewachsen, wo hat er sich während
seines Lebens aufgehalten.
Sprecher:
Die Polizei hat keine Anhaltspunkte. Wer war der Tote? Wo soll sie suchen?
Christine Lehns Methode ist ihre letzte Chance, den Fall zu klären. Sie basiert auf
einem Naturphänomen: Viele chemische Elemente kommen in mehreren stabilen
Formen vor, sogenannten Isotopen. Und die Anteile dieser Isotope unterscheiden
sich von Ort zu Ort. Durch Essen, Trinken und Atmen nehmen wir die IsotopenGemische ständig in uns auf, Spuren von ihnen lagern sich in unserem Körper ab. So
kann man aus dem Isotopenverhältnis Rückschlüsse auf die Herkunft eines
Menschen ziehen. Das Verhältnis der beiden Wasserstoffisotope gibt z.B. Auskunft
darüber, ob jemand nahe am Meer oder im Gebirge gelebt hat. Kohlenstoff- und
Stickstoffisotope können etwas über die Ernährung verraten. Im Fall der Flussleiche
allerdings ist der Befund verwirrend:
Take 3: (Christine Lehn)
Also die Isotopenanalysen der Bioelemente haben uns gezeigt, dass der Mensch in
Deutschland gelebt hat, allerdings hatte er zu Jugendzeiten einen gewissen
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asiatischen Einfluss. Und das war doch was, wo wir ein bisschen gezweifelt haben:
hat der nun wirklich in Deutschland gelebt oder hat er in Asien gelebt?
Sprecher:
In solch schwierigen Fällen muss man oft weitere chemische Elemente in die
Isotopen-Analyse einbeziehen, z.B. Strontium und Blei. Die Verteilung der
Bleiisotope kann sogar einzelnen Ländern zugeordnet werden, da sie sehr stark von
der Industrialisierung und vom Verkehr geprägt wird. Aber selbst dann ergibt sich
nicht immer ein klares Bild.
Take 4: (Christine Lehn)
Das Blei konnte uns sagen, dass die Isotopenverhältnisse des Bleis in den
Körpergeweben nicht mit asiatischen Bleiisotopenverhältnissen übereinstimmen,
sondern mit deutschen Bleiisotopenverhältnissen.
Sprecher:
Aber woher kommt der Tote nun? Christine Lehn kann nur einen Hinweis geben –
doch der soll entscheidend werden. Ihre Erklärung: Der Tote hat zwar in Deutschland
gelebt, sich aber überwiegend asiatisch ernährt. Stammt er also aus einer Familie mit
asiatischen Wurzeln? Mit dieser Hypothese gehen die Ermittler noch einmal an die
Vermisstenkartei. Diesmal suchen sie gezielt nach einer asiatisch-stämmigen
Person. Mit Erfolg! Ein Deutsch-Vietnamese wird von seinen Eltern vermisst. Auch
Alter und Größe passen. Es ist der Unbekannte. Am Ende bekommt die Polizei auch
den Mörder zu fassen. Auch für Christine Lehn und ihre Kollegen am Institut für
Rechtsmedizin an der Uni München ist das ein wichtiger Erfolg. Denn nicht alle
Ermittler trauen bislang dieser Methode, sind oft aus Unkenntnis skeptisch. Und so
ist die Aufklärung des Falles ein weiterer Etappensieg, um die Isotopenanalyse als
ein forensisches Mittel der Kriminalistik zu etablieren.
Regie: Musik (Vorschlag: Tatort-Musik)
Sprecher:
Fast täglich können Fernsehzuschauer am Bildschirm mit fiebern, wenn die
Forensiker zum „Tatort“ gerufen werden. Die telegen inszenierte Arbeit von
Wissenschaftlern, die mit kriminalistischen und rechtsmedizinischen Methoden
Erkenntnisse liefern, fasziniert ein Millionenpublikum. Doch in der Realität ist die
Spurenjagd weit weniger spektakulär. Denn Ballistiker, Kriminalpsychologen oder
Computerexperten gehen nicht selbst auf Verbrecherjagd. Ihre hochspezialisierte
Arbeit folgt oftmals festgelegten Routinen und erfordert Sitzfleisch am Schreibtisch
oder im Labor. Aufregend wirkt dies nur für Außenstehende und durch die
dramaturgische Inszenierung in Film und Fernsehen. Ob Mediziner, Stimmanalytiker,
Genetiker oder Computerwissenschaftler – die Arbeit von Experten aus
unterschiedlichen Fachgebieten ist aus der Aufklärung von Straftaten heute nicht
mehr wegzudenken. Das ist in der Geschichte der Kriminalistik ein relativ neues
Phänomen. Zwar war es bereits im 16. Jahrhundert unter Kaiser Karl V. Praxis, bei
der Rechtsprechung Ärzte hinzu zu ziehen, wenn medizinische Fragen auftauchten.
Doch die wissenschaftliche Untersuchung möglicher Todesursachen entwickelte sich
erst später. Geradezu ein Meilenstein der forensischen Medizin war der Fall Anna
Voigt.
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Regie: Musik, darüber:
Sprecherin:
Am 8. Oktober 1681 machen einige Bewohner des kleinen Städtchens Zeitz, unweit
von Leipzig, eine grausige Entdeckung. Mit blutigen Wunden am Kopf in einem
Garten vergraben finden sie die Leiche eines Neugeborenen. Unerwartet kommt
dieser Fund nicht. Die Nachbarn der 15jährigen Anna Voigt haben gezielt nach dem
Leichnam des Kindes gesucht. Sie hatten bemerkt, dass die Schwangerschaft der
Anna Voigt verging, ohne dass ein Kind zur Welt gebracht wurde. Das kann für die
Nachbarn nur eines bedeuten: Kindsmord. Und das ist ein Kapitalverbrechen, das zu
dieser Zeit mit dem Tode bestraft wird. Nach erstem Augenschein scheint sich dieser
Verdacht auch für den hinzugezogenen Zeitzer Stadtarzt Johannes Schreyer zu
bestätigen:
Zitator:
Ich muss gestehen, selbiges Kind hatte viel Wunden am Leibe, sonderlich aber zwo,
die tödlich waren, deswegen freilich, dem Ansehen nach, (hätte) man sagen sollen,
das Kind wäre ermordet worden.
Sprecherin:
Doch Anna Voigt bestreitet die Kindstötung. Sie behauptet, sie habe das Kind tot
entbunden und nur aus Angst vor der Schande einer unehelichen Beziehung
heimlich vergraben. Der Arzt Johannes Schreyer wird von Anna Voigts Vater
beauftragt, die Unschuld der Tochter zu beweisen. Kein leichtes Unterfangen, zu
viele Indizien sprechen für einen Mord. Doch der gebildete und wissenschaftlich
interessierte Mann lässt sich nicht beirren, auch nicht durch die Kopfwunden des
Säuglings. Die Verletzungen kann er als Folge der langen Eisenstangen erklären, mit
denen die Nachbarn den Boden abgesucht hatten. Aber woher weiß er, dass das
Kind bereits tot war, als es geboren wurde?
Sprecher:
Der Wiener Kriminalhistoriker Peter Becker hat diesen für die deutsche
Kriminalgeschichte wegweisenden Fall untersucht. Dokumente von Johannes
Schreyer belegen, dass der Arzt einen ungewöhnlichen Versuch wagte.
Take 6: (Peter Becker)
Er hat die Lungenprobe angewandt. Die Lungenprobe beruht auf der Vorstellung,
dass ein Kind, das bereits geatmet hat, eine andere Lunge hat, als ein Kind das nicht
geatmet hat. Der Unterschied liegt darin, dass bei einer bereits beatmeten Lunge
Sauerstoff eingedrungen ist und dadurch das Gewebe mit Sauerstoff gefüllt ist und
dass man das feststellen kann, indem man hier Teile der Lunge in Wasser legt. Ist
sie Luft gefüllt, schwimmt sie, ist sie nicht Luft gefüllt, geht sie unter. Und das ist ein
experimenteller Nachweis der Frage von Kindsmord, der zu dieser Zeit hoch
innovativ war, auch ganz lange Zeit angewandt worden ist und diesem jungen
Mädchen das Leben gerettet hat.
Sprecher:
Johannes Schreyers Lungenprobe wurde in manchen Ländern noch bis ins 20.
Jahrhundert bei der Autopsie angewandt. Und auch wenn das Verfahren umstritten
war: der Mann war seiner Zeit weit voraus und kann als einer der wichtigsten
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Vorläufer der modernen Kriminologie in Deutschland gelten. Bis Mitte des 18.
Jahrhunderts herrschten freilich brutalere Methoden der „Ermittlung“.
Tatverdächtigen wurden unter Folter Geständnisse abgepresst. Sachbeweise, die
Grundlage jeder Kriminalistik, hatten gegenüber dem Geständnis kaum einen Wert.
Ohne die Bestätigung durch einen Zeugen waren Spuren wie blutige Messer,
vergiftete Nahrung oder andere Indizien fast wertlos. Die Richter mussten sich an ein
kompliziertes Beweisrecht halten, das den Wert der einzelnen Beweismittel klar
festlegte, quasi eine „Rankingliste“:
Take 8: (Peter Becker)
Das heißt: 100% das Geständnis, einen ganz hohen Stellenwert der direkte
Tatzeuge und dann ein deutlich reduziertes Gewicht von etwa Indizien. Mit reinem
Indizienbeweis konnte man niemanden rechtskräftig verurteilen, solche Personen
wurden dann freigesprochen.
Sprecher:
Allgemein vertrat man die Auffassung, dass die Folter ein notwendiges Mittel zur
Erforschung der Wahrheit in Strafsachen sei. Gott werde dem Unschuldigen die Kraft
verleihen, die Qualen ohne ein Geständnis zu überstehen. Doch erst Mitte des 18.
Jahrhunderts wurde die Folter in Europa offiziell als Mittel der Gerichtspraxis
abgeschafft. Zunächst in Preußen, später folgten neben den deutschen Kleinstaaten
auch Österreich, Bayern und Württemberg. Das Schlusslicht bildete 1851 der
schweizerische Kanton Glarus. Die Abschaffung der Folter nötigte die Kriminalisten
zu einer Strategieänderung. Denn wie sollte man nun Täter überführen und
Unschuldige entlasten? Indizien hatten weiterhin kaum einen Wert, und die
technischen Möglichkeiten, Spuren zu sichern und auszuwerten, waren noch nicht
ausreichend entwickelt. Kriminalhistoriker Peter Becker:
Take 9: (Peter Becker)
Mit der Abschaffung der Folter gab es die Notwendigkeit, andere Formen von Druck
zu erzeugen, und in diesem Zusammenhang entstand dann eine Frühform der
Verhörpsychologie, wie man eben hier psychologischen Druck erzeugen kann, um
jemanden zum Geständnis zu bewegen.
Sprecher:
Schikanen mit endlosen Verhören, mit Zureden oder Drohungen sollten nunmehr den
Verdächtigen zum Reden bringen. Eine Lampe gleißend ins Gesicht gerichtet, sollte
den im Dunkeln sitzenden Ermittlern jedes verräterische Anzeichen von Nervosität
anzeigen. Das Zucken der Mundwinkel, das Senken der Augen, eingefallene
Schultern – der Körper, so die Überzeugung, verrät den Täter. Kam man hier nicht
weiter, verprügelte man den Beschuldigten, was nicht als Folter galt.
Solange die Ermittler Gewalt anwenden konnten, gab es keinen Bedarf an
zusätzlichen Technologien im Sinne einer modernen Kriminalistik. Erst die
stufenweise offizielle Abkehr von jeglicher Gewaltanwendung seit Ende des 19.
Jahrhunderts - auch von der Seelenfolter als einem Mittel der Wahrheitsfindung machte die Entwicklung neuer Techniken erforderlich, mit denen man den „verstockt
leugnenden“ Angeklagten überführen konnte.
Take 10: (Markus Mathis)
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Diese Rillen nennt man Papillarleisten und diese Papillarleisten sind einzigartig. Es
gibt also keine zwei Menschen auf der Erde, die die gleichen Papillarleisten bzw.
auch den gleichen Fingerabdruck haben.
Sprecher:
Nichts ist individueller als ein Fingerabdruck. Die kleinen Rillen in der Haut sind
einmalig und unveränderlich. Selbst bei eineiigen Zwillingen sind sie nicht identisch.
Markus Mathis ist Daktyloskop am Polizeipräsidium Darmstadt, das heißt Experte für
Fingerabdrücke. Er überführt Verbrecher anhand der einmaligen Rillen an Händen
und - wie sein außergewöhnlichster Fall zeigt - auch an Füßen.
Regie: Kriminalmusik, darüber:
Sprecherin:
Die Polizei hat zwei Verdächtige verhaftet, die mit Drogen handeln sollen. Sie sitzen
in U-Haft, aber die Beweislage ist dünn. Was die Polizei jedoch weiß: Die Drogen
wurden in einer leer stehenden Wohnung verpackt, deren Boden mit Malerfolie
ausgelegt war. Darauf: Barfußabdrücke.
Take 11: (Markus Mathis)
Das außergewöhnliche an dieser Geschichte war, dass wir bei einer normalen
erkennungsdienstlichen Behandlung keine Füße erheben. Das heißt wir mussten die
beiden Tatverdächtigen aus der JVA ausführen und mussten sie mit den Füßen
erkennungsdienstlich behandeln. Das heißt wir mussten die Füße mit
Druckerschwärze einschwärzen und dann auf Papier abrollen und das war nicht sehr
angenehm.
Sprecher:
Und wieso nicht?
Take 12: (Markus Mathis)
Ja, weil die gestunken haben wie verrückt!
Sprecher:
Anders als Haare oder andere DNA Träger können Finger-oder Fußabdrücke nicht
an einen anderen Ort verschleppt werden und sind in dieser Hinsicht als Beweis
sogar sicherer als DNA. Die Schwierigkeit besteht allerdings erst einmal darin, den
fast unsichtbaren Abdruck zu finden. Hat man ihn, hängt seine Sicherung vom
Untergrund ab. Bis zu 15 verschiedene Substanzen werden eingesetzt, je nach
Material der Oberfläche. Sogar auf Alufolie lassen sich Abdrücke sichern. Ist der
Abdruck isoliert, wird er mit einem Abdruck des Verdächtigen verglichen. Für Markus
Mathis beginnt jetzt eine diffizile Arbeit. Ausschlaggebend sind die Schleifen, Wirbel
und Bögen, die das markante Hautmuster ergeben. Findet der Experte zwölf
Übereinstimmungen, gilt das als Beweis, dass der Abdruck vom Täter stammt. So
auch im Fall der barfüßigen Drogendealer. Das erste Fußgutachten der
Daktyloskopen aus Darmstadt hat sie überführt. Das Beispiel zeigt: neben
wissenschaftlicher Genauigkeit und Zuverlässigkeit können auch
Experimentierfreude und Innovationsbereitschaft zur Aufklärung von Verbrechen
beitragen. Gerade in den Anfängen der Kriminalistik waren Experten zu großem
Engagement und riskanten Selbstversuchen bereit. Extremen persönlichen Einsatz
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zeigte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer der Begründer der Daktyloskopie,
Edmond Locard aus Lyon, auch „Sherlock Holmes von Frankreich“ genannt:
Take 14: (Peter Becker)
Der (Edmond) Locard hat sich mit der Frage beschäftigt, wie dauerhaft sind diese
Fingerabdrücke. Und da gibt’s Reihen von Szenarien, die man sich vorstellen kann,
wie eben zum Beispiel, man schneidet sich den Finger auf, wächst er wieder so
zusammen oder verändern sich dadurch die Papillarlinien. Hat er eben gemacht,
festgestellt wächst wieder so nach wie sonst. Die nächste Frage, die er sich gestellt
hat, was passiert, wenn man sich den Finger verbrüht und hat dann seine Finger in
heißes Öl getaucht, um zu sehen, was dann passiert. Natürlich verändert sich dann
die Haut, aber sie wächst wieder so nach wie vorher.
Sprecher:
Dass man heute die Erkenntnisse von Daktyloskopen, Gentechnikern,
Stimmanalytikern und vielen anderen forensischen Experten bei Ermittlungen nutzen
kann, hängt mit einer historischen Entwicklung zusammen: im 19. Jahrhundert
änderten sich die Rolle und das Selbstverständnis der Richter. Bis dahin konnten
Richter – nach Abschaffung der Folter – Indizien nur innerhalb eines strengen
Korsetts an gesetzlichen Regelungen berücksichtigen. Allmählich erkannte man,
dass es sinnlos war, die richterliche Überzeugungsbildung so einzuschnüren. Zu
viele Straftaten blieben ungesühnt, weil die rigiden Beweisregeln eine Verurteilung
unmöglich machen. Die Lösung war, den Grundsatz der freien richterlichen
Beweiswürdigung anzuerkennen. Dieser Grundsatz wurde 1877 in die
Reichsstrafprozessordnung übernommen. Noch heute gilt er in unverändertem
Wortlaut als § 261 der deutschen Strafprozessordnung:
Zitator:
Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien,
aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.
Sprecher:
Das war quasi der Startschuss für alle möglichen wissenschaftlichen Verfahren zur
Beweissicherung. Jetzt entschieden Richter in freier Abwägung darüber, ob ein
Tatwerkzeug, ein Polizeifoto, ein Fingerabdruck, eine chemische Analyse oder
irgendein anderes Indiz als Beweismittel zugelassen wurde oder nicht. Die zumindest
potentielle Aufwertung der Indizien zog eine Aufwertung von Technologie und
Naturwissenschaften nach sich.
Take 15: (Peter Becker)
Im 19. Jahrhundert spielt auch diese neue Idee eine Rolle, dass letztlich Technologie
wahrheitsproduzierend ist. Was hat jetzt die Technologie mit dem Strafverfahren zu
tun? Der Sachbeweis ist oft ein technologischer Beweis. Bei einem Tötungsdelikt
wäre ein Sachbeweis etwa gegeben über die Blutspuren, etwa Blutspuren an der
Kleidung des Täters, die aber nur mit einer entsprechenden Technologie auch als
solche zuordenbar sind.
Sprecher:
Eine für die Kriminologie wichtige Entwicklung war der Einsatz der Fotographie im
19. Jahrhundert. Führend auf diesem Gebiet war der Franzose Alphonse Bertillon.
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Der Kriminalist und Anthropologe wurde durch sein System der Körpervermessung
bekannt, der nach ihm benannten „Bertillonage“. Er legte Karteikarten an, die von
Verdächtigen oder Tätern neben Körperlänge und Armspannweite zum Beispiel auch
die Länge des rechten Ohres oder die Länge des linken Fußes festhielten. Diese
biometrischen Daten sollten die Identifikation von Personen erleichtern. Doch trotz
einiger Erfolge galt diese Methode als zu unsicher und kompliziert. Eine wesentliche
Verbesserung versprach der Einsatz der Fotographie für die Polizeiarbeit:
Take 16: (Peter Becker)
Der erste, der hier Standardisierungen vorgenommen hat, war Bertillon, der eben
eine standardisierte Aufnahmesituation verlangt hat, mit Abstand zwischen dem
Fotografen und dem Verbrecher, dem Aufnahmewinkel und auch die Kombination
von Portrait und Profil. Profil deshalb wichtig, weil die Nase und das Ohr eben ganz
wichtige Identifikationsmerkmale darstellten.
Sprecher:
Bertillon setzte hier Maßstäbe, die bis heute im kriminalpolizeilichen
Erkennungsdienst erhalten geblieben sind, etwa die Portrait- und Profilaufnahmen
nach einer Verhaftung. Davor behalf man sich eben, so gut es ging:
Take 17: (Peter Becker)
Vorher beschäftigte die Polizei keine eigenen Fotografen, sondern griff auf die
Fotografen im eigenen Umfeld zurück. Das heißt in der Stadt zurück. Und die haben,
wenn sie Verbrecher fotografierten, auch ihre Aufnahmestrategie umgesetzt. Das
heißt die wurden dann, auch wie die bürgerlichen Familien, im Atelier neben so
Plastiksäulen oder Nachbildungen von Marmorsäulen und der schönen Blumenvase
positioniert und das ergibt eben den ganz faszinierenden Bruch zwischen diesen
unterschiedlichen Ebenen.
Sprecher:
Seit Bertillon hat sich die Polizeifotografie rasant entwickelt. Der neueste Schrei: ein
3D-Laser-Scanner, mit dem man z.B. einen Tatort optisch erfassen und am
Bildschirm reproduzieren kann. Das Gerät bewegt einen Laserstrahl horizontal und
vertikal und erfasst dabei vollständig die Umgebung. Wofür Zeichner und Fotografen
früher Tage benötigten, dauert jetzt nur noch wenige Minuten. Mittlerweile lassen
sich dreidimensionale Bilder von Tatorten erstellen, bei denen der Eindruck entsteht,
man stünde mitten in einem Raum. Bei dieser virtuellen Tatortbegehung kann zum
Beispiel der Standort eines Schützen schnell und zuverlässig ermittelt werden. Die
moderne Kriminalistik kennt aber noch ganz andere, exotisch anmutende
Ermittlungsverfahren.
Take 18: (Mark Benecke)
Kriminalbiologe ist ein Unterbeschäftigungsfeld der Forensik, also eins von vielen
Feldern. Es gibt auch Giftkundler und alles Mögliche andere. Und wir als Biologen
gucken auf biologische Spuren, also Blut, Haare, Speichel, Sperma, Urin, Kot,
Insekten, also alles, was so kreucht und fleucht und andere irgendwie ekelig finden.
Das gucken wir uns an.
Sprecher:
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Mark Benecke ist unter anderem Experte auf dem Gebiet der forensischen
Entomologie. In dieser Funktion kommt er immer dann zum Einsatz, wenn Insekten
als Zeugen ins Feld krimineller Machschaften geführt werden können. Zwei
Einsatzgebiete stehen immer wieder im Vordergrund:
Take 19: (Mark Benecke)
Anhand des Alters von Insekten kann man meistens rauskriegen, wie lange die
Leiche besiedelt wurde. Das ist nicht unbedingt der Todeszeitpunkt, weil jemand
natürlich auch schon zu Lebzeiten besiedelt sein kann, wenn er eine Verletzung hat,
zum Beispiel ein offenes Bein oder einen stark vernachlässigten Genitalbereich.
Oder man kann gucken wie lange jemand vernachlässigt wurde. (…) Dann gibt’s
noch so Spezialsachen, zum Beispiel (…) ist die Leiche von einer Stelle zur anderen
gebracht worden. Typischerweise wenn man sehr viele Stubenfliegen an der Leiche
findet und die Leiche liegt aber im Freien, dann war die wohl eher zwischendurch mal
in einer Wohnung gelagert.
Sprecher:
Die forensische Insektenkunde gehört sicher zu den kriminologischen
Fachrichtungen mit dem größten Ekelfaktor. Kaum jemand ist bei Ermittlungen näher
an den Verwesungsprozessen von Leichen dran als Benecke und seine Kollegen.
Manchmal sind Gestank und Anblick unerträglich. Dabei ist immer von Vorteil, eine
Leiche direkt am Fundort zu untersuchen, nicht zuletzt auch deswegen, weil viele
Tiere fliehen, wenn die Leiche abtransportiert wird. Besonders wichtig ist die
Einschätzung, wie lange der tote Körper bereits liegt. Das lässt möglicherweise
Rückschlüsse auf den Tatzeitpunkt zu. Um das zu beurteilen, braucht man viel
Erfahrung und muss die Insekten und ihre Gewohnheiten genau kennen.
Take 20: (Mark Benecke)
Es gibt verschiedene Maßeinheiten bei der Messung von Fäulnis und Insekten auf
Leichen. Also die Insekten, die früh kommen, die sind so eine Art schneller, aber
auch der genaue Zeiger, wie wenn man beim Sport mit der Stoppuhr was misst. Und
dann später kommen andere Tiere, die verraten einem, was über längere Zeiträume
ist, aber nicht mehr so genau. Das wäre dann so ne Art Stundenzeiger.
Regie: Musikakzent
Sprecher:
Um Verbrechen hinreichend aufzuklären und Täter zu überführen, aber auch, um
Beschuldigte zu entlasten, müssen die Wissenschaften stets auf dem neuesten
Stand sein. Das bedeutet auch, dass man die eigenen Forschungsansätze und
Vorgehensweisen immer wieder kritisch hinterfragt. Denn Fehler können
weitreichende Folgen haben.
Regie: Kriminalmusik, darüber
Take 21: Nachrichten zu Q-Tipp-Fall:
b) Tagesthemen vom 23.06.2009
Sprecherin:
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Jahrelang verfolgt die Polizei ein Phantom. Immer wieder, so ergeben DNAAnalysen, kann dieselbe Täterin an den unterschiedlichsten Orten in Deutschland
und im benachbarten Ausland zuschlagen. Von einfachen Einbrüchen über schwere
Körperverletzungen bis hin zu Mord – kaum ein Delikt lässt die Frau aus. Bis sich
schließlich herausstellt, dass die Polizei jemanden jagt, den es gar nicht gibt –
jedenfalls nicht so, wie man es sich dachte. Die Wattestäbchen, mit denen die
Ermittler die Spuren wie Haut-, Fett-, Haar- oder Speichelpartikel für die DNAÜberprüfung aufnehmen, waren verunreinigt. Bei der Herstellung hatte eine
Mitarbeiterin der Produktionsfirma ihre eigene DNA hinterlassen.
Regie: Kriminalmusik weg
Sprecher:
Der Wattestäbchen-Fall machte damals bundesweit Schlagzeilen und sorgte unter
Experten für Aufregung und Empörung.
Take 22: (Mark Benecke)
Was das DNA Phantom angeht, da habe ich auch mit Kollegen geredet. Dass durften
wir aber öffentlich nicht sagen, dass kein Geld dafür da war, um jede Charge von
diesen Wattetupfern einfach mal zu testen. Und dann hab ich damals gesagt, das
verstehe ich nicht, weil man jede Charge testen muss, in jedem Prozess, Pharmazie,
in der Industrie, in der Plastikherstellung, in der Gewässerprüfung, es wird immer
grundsätzlich die Charge geprüft. Ja, haben wir aber kein Geld für, können wir nichts
für, weil wir können nur mit dem Geld arbeiten, was wir vom Steuerzahlen zur
Verfügung bekommen, also das ist natürlich eine ganz krasse Kopfklemme, die da
herrscht.
Sprecher:
Mehr Geld alleine hilft allerdings auch nicht immer weiter. Manchmal müssen die
Ermittler auch ihre Überzeugungen in Frage stellen. In diesem Fall den festen,
jahrelangen Glauben an die Eindeutigkeit einer DNA-Spur. Frühere Zweifel hätten
vielleicht weniger Ressourcen gebunden und die Ermittlungen in alternative
Richtungen gelenkt. Und möglicherweise wären schon früher weitere schwere
Straftaten verhindert worden.
Regie: Kriminalmusik, darüber
Sprecher:
So zeigt die Geschichte der Kriminologie, dass man trotz hochmoderner
Technologien nach wie vor Menschen mit Spürnase, Kombinationsgabe und
Experimentierfreude braucht. Und mit einer gesunden Skepsis gegenüber der
eigenen Routine.
Take 23: (Mark Benecke)
Forensik ist da wirklich ein sehr heikles Feld. Das steht damit, dass der
Sachverständige oder die Sachverständige nie glaubt, das habe ich jetzt schon 100
mal so gemacht, das mache ich jetzt bei 101 mal genauso, dann passt das schon,
sondern das man den Einzelfall würdigt. Das ist eigentlich der Trick. Also dass man
sehr viel Respekt vor dem Einzelfall hat. Würde ich mal sagen.
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Regie: Kriminalmusik noch einmal frei
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